Klingender Bilderfluss aus der Stille

Über das Stück „Die Moldau“ und Bedřich Smetanas Taubheit
Illustration zu einem Artikel über das Stück „Die Moldau“ und Bedřich Smetanas Taubheit

Ludwig van Beethoven ist das berühmteste „Schlappohr“ der Welt: ein bedeutender Komponist, dessen bekannteste Symphonie jeder gehört hat; nur Beethoven hat sie nie gehört. Beethoven war nicht der einzige, dem es so ging. Auch Smetana, der vor genau 200 Jahren zur Welt kam, hat sein Stück „Die Moldau“ nie hören können. Ich bin mir sicher, du kennst „Die Moldau“. Falls du dir nicht sicher bist, kannst du sie hier in knapp zwölfeinhalb Minuten anhören und nebenbei über Smetanas Taubheit weiterlesen.

Ein Bilderfluss durch die Ohren

Im Tschechischen heißt „Smetana“ Sahne. Der Komponist Smetana nannte sich nie Sahne. Aber seinen Vornamen hat er immer mal gewechselt bzw. in Übersetzung getragen. Er nannte sich mal Frederik, mal Friedrich, dann nur noch Bedřich, also Friedrich auf Tschechisch. Das hatte mit dem Stolz auf sein Vaterland Tschechien zu tun.

Eine seiner bekanntesten Kompositionen ist der Zyklus „Mein Vaterland“. Zum „Vaterland“ gehört auch „Die Moldau“. Sie ist der längste Fluss Tschechiens und fließt vom Böhmerwald bis zur tschechischen Hauptstadt Prag und schließlich in die Donau. Bedřich Smetana wurde später der „tschechische Nationalkomponist“; als der gilt er bis heute. Und der tschechische Nationalschlagersänger Karel Gott hat „Die Moldau“ als Lied gesungen, sogar auf Deutsch; aber das führt hier zu weit.

Eigentlich hat „Die Moldau“ keinen Text, sondern Bilder aus Musik. Der Fluss fließt sozusagen in Bildern durchs Gehör: Erst ist man an der Quelle (genauer gesagt, sind es zwei Quellen) und die Flöten machen, dass es plätschert und die Sonne glitzert. Dann folgen eine Jagd durch den Wald mit Hörnern und Trompeten und eine Bauernhochzeit mit böhmischer Polka. Dann wird es märchenhaft: Im Mondschein tanzen zu gedämpften Streichern Nixen und Nymphen am Ufer, während die dunklen Wellen davonziehen. Im nächsten Bild braut sich etwas zusammen. In tosenden Tonmassen wirft und stürzt sich der Fluss kraftvoll bedrohlich und schäumend durch die St. Johann-Stromschnellen (die es nicht mehr gibt, weil da heute ein Stausee ist). Schließlich fließt die Moldau breit und majestätisch an einem mächtigen Burgwall vorbei, einem Felsen in der Nähe von Prag.

Noten aus Smetanas „Die Moldau“ mit der Wasseroberfläche der Müggelspree

Das alles kann man sehen, wenn man „Die Moldau“ hört – nicht nur im animierten Video, sondern im Kopf. Bedřich Smetana hat die Bilder komponiert, ohne sie mit den Ohren zu hören. Im Kopf hat er sie gehört. Welche Geräusche das Wasser am Ufer der Moldau tatsächlich macht, konnte er sicherlich auch noch erinnern.

Ein Tinnitus im Streichquartett

Bedřich Smetanas Taubheit kam plötzlich. Er war 50. In den 50 Jahren davor hatte er einiges erlebt: Er war in einer kleinen Stadt in Böhmen aufgewachsen. Sein Vater hieß František, hatte eine Brauerei und spielte Geige. Seine Mutter hieß Barbora. Er selbst war ein Klavier-Wunderkind und ging als junger Mann nach Prag, um ein großer Musiker zu werden. Geld hatte er keines. Und als armer Musiker konnte er in Prag nur Klavierstunden gegeben – für unmusikalische Kinder reicher Eltern. Dann wurde er Pianist in Göteborg. Und dann kehrte er nach Prag zurück, um endlich Erfolg zu haben. Seine zweite Oper „Die verkaufte Braut“ war erst ein Flop und wurde später gefeiert. Er wird Direktor der Prager Oper und macht sich daran, seinem Vaterland mit „Mein Vaterland“ ein Denkmal zu setzen. Dann verliert er sein Gehör.

Illustration zu einem Artikel über das Stück „Die Moldau“ und Bedřich Smetanas Taubheit

Smetanas Taubheit stellt sich in wenigen Monaten ein. Er hörte nur noch einen starken Tinnitus und komponierte dennoch immer weiter. Ins Streichquartett Nr. 1 („Aus meinem Leben“) hat er den Tinnitus Jahre später hineinkomponiert: Die Violine spielt ein sehr hohes „e“ (Takt 231–239 des vierten Satzes). – Über diesen e-Ton schreibt Smetana: „Er enthält jenes schicksalsschwere Pfeifen in den höchsten Tönen, das im Jahre 1874 in meinen Ohren entstand und meine beginnende Taubheit anmeldete. Dieses kleine Spiel erlaubte ich mir, weil darin mein Schicksal verborgen liegt.

Smetanas Taubheit: „zeitweise verlegte Ohren“

In seinem Tagebuch notiert Smetana, wie er die Schwerhörigkeit erstmals bemerkt: „Ich habe zeitweise verlegte Ohren und gleichzeitig dreht sich mir der Kopf, als hätte ich Schwindelanfälle. Das Übel begann nach einer kleinen Entenjagd, während welcher sich das Wetter plötzlich veränderte.“

„Verlegte Ohren“ stelle ich mir ungefähr so vor, als hätte man seine Brille verlegt. Also konnte Smetana seine Ohren zeitweise noch wiederfinden. Außerdem berichtet er von akustischen Halluzinationen. Er hört Geräusche, die nur in seinem Kopf sind: „Es war im August 1874 als ich auf einem meiner gewohnten Abendspaziergänge durch den Wald plötzlich so eigenartig schöne Flötentöne zu vernehmen meinte, dass ich verwundert stehen blieb und ringsum nach dem vorzüglichen Flötenspieler Ausschau hielt. Soviel ich auch suchte, nirgends war etwas zu erblicken. Ich vergaß auf den Zwischenfall, aber als sich am nächsten Tage der Vorgang wiederholte, gab ich die Spaziergänge auf.“

Noten aus Smetanas „Die Moldau“ mit der Wasseroberfläche der Müggelspree

Smetana schreibt von „furchtbarem Ohrensausen“. Spielt er Klavier, scheint das Instrument verstimmt. Er lässt das Spielen, um sein Gehör zu schonen. Er geht zum Arzt. Und er ist schließlich komplett taub: „am 20. Oktober verlor ich gänzlich das Gehör.“

Taub sein und trotzdem komponieren

Smetana hat noch etliche Ärzte besucht, um seine Taubheit behandeln zu lassen. Er fuhr nach Prag, Wien, Würzburg. Er bekam „Schmierkuren“, wie sie 300 Jahre zuvor schon Paracelsus verabreicht hatte – einen Mansch aus Quecksilber, Schmalz, Terpentin und Schwefel, mit dem sich Smetana einrieb. Außerdem Vollbäder, Ruhe, Hörübungen und Versuche, ihn mit Elektrizität zu heilen. Gegen Smetanas Taubheit half alles nicht.

Als er einem Freund neue Stücke vorspielt, berichtet der: „Er spielte so ausgezeichnet wie je zuvor, nur beim pianissimo bemerkte er manchmal nicht, dass diese oder jene Taste keinen Ton von sich gab und im fortissimo wieder übertrieb er zuweilen, was er früher nie getan hätte.“

Ein anderer Zeitzeuge berichtet, wie Smetana Klavier spielt und singt: „Stocktaub wie er war, sang er niemals in der gleichen Tonart, in der er spielte, sondern immer daneben: entweder höher oder tiefer und meist in lauter Dissonanz.“ Smetana sei erschrocken, als er ihn darauf hinwies; er aber habe den Komponisten beruhigt: Sein inneres Ohr höre ganz richtig, das merke man an den Kompositionen. Lediglich „sein äußeres Ohr, das schon so lange keinen Eindruck von außen erhalten habe, sei einfach entwöhnt zu hören, und daher könne er auch beim Singen nicht beurteilen, in welchem Maße er die Stimmbänder anstrengen müsse“. Beim Singen fehle ihm einfach die Kontrolle über Höhe oder Tiefe der Töne.

Smetana scheint seine Taubheit dann irgendwie akzeptiert zu haben. Er hat weiter komponiert und ist zehn Jahre später gestorben.

Smetanas Taubheit: der Nationalkomponist und die Syphilis

Woher kam Smetanas Taubheit? Darüber haben Experten lange spekuliert und gestritten. Heute ist man sich ziemlich sicher, dass Smetana Syphilis hatte.

Lustseuche, Lues, harter Schanker, Franzosenkrankheit – Syphilis hat einige Namen und wird nahezu nur sexuell übertragen. Forscher meinen, dass Kolumbus die Krankheit aus Amerika mitgebracht hat. Zur Zeit Bedřich Smetanas soll man sie nicht so ernst genommen haben. Das bekam man eben, wenn man hier und da mal Sex hatte.

Illustration zu einem Artikel über das Stück „Die Moldau“ und Bedřich Smetanas Taubheit

Nicht nur Smetana bekam das. Frédéric Chopin, Heinrich Heine, Charles Baudelaire, Friedrich Nietzsche, Franz Schubert, Katharina die Große, Goya, Oscar Wilde… – Es gibt viele berühmte Menschen, die Syphilis gehabt haben sollen, auch wenn man nicht immer sicher ist. Und man hat sich bemüht, den berühmten Menschen andere Krankheiten anzudichten – damit es nicht so aussieht, als hätten sie hier und da mal Sex und dann Syphilis gehabt.

Auf jeden Fall konnte man an Syphilis nicht nur sterben, sondern zuvor auch ertauben. Die Krankheit entwickelt sich über mehrere Stadien. Man kann sich anstecken, und sie bricht erst 20 Jahre später aus. Dann kann sie jederzeit das Zentrale Nervensystem, die Augen, das Gleichgewichtsorgan oder die Ohren befallen.

Bei Smetanas Taubheit war man sich einerseits längst sicher, dass Syphilis die Ursache ist; auch die Obduktion des verstorbenen Smetana hatte das bestätigt. Andererseits gab es Forscher aus Tschechien, die beweisen wollten, dass „unser größter und verdienstvoller Komponist“ keine Syphilis hatte.

Diese Forscher wollten, dass die Behauptung von Smetanas Syphilis „aus dem wissenschaftlichen Schrifttum getilgt“ wird. Smetana hätte schon als Kind eine Hörschädigung durch eine Explosion gehabt, er hätte viel zu laut Musik gehört, gejagt und dabei laut geschossen usw. Sie wollten beweisen, dass statt der Syphilis Lärm der Auslöser von Smetanas Taubheit war. Überzeugen konnten sie damit nicht. Ob ein „Nationalkomponist“ Syphilis hatte oder nicht – viel wichtiger ist sowieso, dass er „Die Moldau“ komponiert hat, die immer noch jeder kennt – obwohl der Komponist sie niemals gehört hat.

Noten aus Smetanas „Die Moldau“ mit der Wasseroberfläche der Müggelspree

PS 1: Die Fotos zum Beitrag über das Stück „Die Moldau“ und Bedřich Smetanas Taubheit zeigen Noten aus „Die Moldau“ mit einem Fluss. (Da die Moldau zu weit weg war, sind es Bilder von der Müggelspree geworden.)

PS 2: Der Beitrag geht auf eine Anregung von Professor Dr. Ulrich Hoppe zurück, der zu Smetanas 200. Geburtsjahr den wissenschaftlichen Aufsatz „Friedrich Smetana und seine Ertaubung“ veröffentlicht hat. Den Aufsatz, der sich u. a. ausführlich mit dem Zusammenhang von Hörverlust und Syphilis beschäftigt, habe ich für diesen Artikel genutzt; die Zitate stammen aus dem Buch „Smetana in Briefen und Erinnerungen“, herausgegeben von Frantisek Bartos, Prag 1954.


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