Hörspaziergänge

Vom Entdecken der Welt mit den Ohren
Illustration zu einem Artikel über Hörspaziergänge auf die-hörgräte.de

Was sind Hörspaziergänge? Der kanadische Komponist und Klangforscher Raymond Murray Schafer (1933–2021) war ein Pionier für die Erkundung der Welt mit den Ohren. – Das klingt vermutlich seltsam. Fast jeder hört jeden Tag die Welt mit den Ohren. Für die Erkundung ist jedoch entscheidend: Was hört man bzw. wie bewusst hört man?

In seinem Buch „Anstiftung zum Hören“ beschreibt Schafer einhundert Übungen zum Hören und Klängemachen, darunter auch Ideen für Hörspaziergänge. Audiotherapeut Jörn Paland, den ich im letzten Artikel vorgestellt hatte, brachte das auf die Idee, selbst Hörspaziergänge zu entwickeln. Seit Jahren geht er mit Menschen spazieren, die sich in einer Reha an das Hören mit dem Cochlea-Implantat (CI) gewöhnen. Hin und wieder spaziert Jörn auch mit Menschen, die ohne Technik hören.

„Genau genommen“, so Jörn Paland, „unterscheidet Schafer zwischen Hörspaziergängen und Klangspaziergängen. Hörspaziergänge nennt er auch ‚die Landschaft mit den Ohren sehen‘, d. h. du nimmst erstmal alles auf, was dich unterwegs akustisch umgibt. Bei einem Klangspaziergang hingegen hörst du auf ganz bestimmte Dinge oder Orte – also selektiv. Man hört zum Beispiel nur auf Vogelstimmen. Man darf auch selbst aktiv werden, um etwas hörbar zu machen. Doch wie auch immer der Spaziergang heißt – in jedem Fall geht es darum, hörend neue Erfahrungen zu sammeln, sich neue Perspektiven zu erschließen.“

Stadtgeräusche, Stadtmusikanten und Glöckchen

Wenn Jörn Paland mit CI-Trägern spazieren geht, dann in seiner Heimatstadt Bremen. Meist spaziert er mit drei CI-Trägern, weil das die optimale Gruppengröße ist – sehr intensiv. Wer ein Cochlea-Implantat bekommt, der muss das Hören damit erst neu lernen. Draußen, mit vielen störenden Geräuschen und ungewohnter Lautstärke, ist das umso fordernder. – „Dann hört man erstmal ganz allgemein die Geräusche der Stadt, die modernen, industriellen Klänge, die man bewusst wahrnehmen kann, etwa ein Signalhorn oder eine Fahrradklingel, die einen aus dem Weg klingelt. Uns zu warnen, war ja schon immer eine elementare Hörfunktion.“

Foto von einem Spaziergang durch Amsterdam

Am wichtigsten ist jedoch, in so einer Umgebung auch Sprache zu verstehen. Damit diese Sprache interessant ist, hat sich Jörn Hörspaziergänge zu ganz verschiedenen Themen ausgedacht. Bei jedem erfährt man was. Man hört die Stadt, Jörn erzählt und die CI-Träger können fragen.

Ein Hörspaziergang führt zu den Bremer Stadtmusikanten. „In Bremen gibt es bestimmt ein Dutzend Orte, an denen die Stadtmusikanten auftauchen. Zu diesen Orten gehen wir und ich erzähle von deren Geschichte. In einem anderen Hörspaziergang geht es um Glocken. Dafür bietet sich die Altstadt an. Überall gibt es Glockenläuten – vom kleinen Glockenspiel in der Böttcherstraße bis zu den großen Kirchenglocken. Ich bringe auch selbst verschiedene Glöckchen mit.“

Baumstämme klopfen, Steine, Schuhe und Seile

Jörn war früher im Gartenbau tätig. Bei Hörspaziergängen durch den Bremer Bürgerpark oder über Bremer Friedhöfe kommt ihm sein früherer Beruf zugute: „Als Gartenbauer hat man einen sogenannten Diagnosehammer. Mit dem klopft man Baumstämme ab, um zu hören, ob das Holz morsch oder gesund ist. Auf den Spaziergängen hatte ich den Hammer dabei. Wir haben uns angehört, wie verschiedene Baumstämme klingen.“

Beim Hörspaziergang „Spur der Steine“ (der nach dem Filmklassiker mit Manfred Krug heißt) hat sich Jörn von einem Buch Bremer Geologen anregen lassen: „Im Buch sind sämtliche Steine beschrieben, die im Bremer Stadtbild verbaut sind. Ich habe mir die Steinarten angesehen und passende Orte gesucht. Man könnte auch thematisieren, wie Schritte auf unterschiedlichen Steinbelegen klingen. Man könnte auch Treppen steigen – hoch und runter – und darauf achten, ob das unterschiedlich klingt – mit verschiedenen Schuhen. Man kann am Klang der Schritte sogar hören, in welcher Stimmung jemand ist.“

Illustration zu einem Artikel über Hörspaziergänge auf die-hörgräte.de

Auch zusätzliche Hörtechnik wird bei den Spaziergängen ausprobiert. Zum Hörspaziergang „Das perfekte Seil“ ging Jörn mit den CI-Trägern zu einem Seiler, der Schiffe ausrüstet. – „Der Mann, der uns geführt hat, wurde vorher mit Minimikrofonen ausgestattet, so dass seine Stimme direkt in die Implantate übertragen wurde. Wir üben also auch, mit solchem Zubehör zu hören. Im Landesmuseum haben wir das ebenfalls genutzt. Da gibt es jede Menge alter Maschinen, die noch betriebsfähig sind. Man sieht und hört, wie sie sich bewegen. Wenn man es mit mehreren Sinnen erlebt, ist das Hören noch intensiver.“

Knirschender Schnee, Babygeplapper und Regen auf Nadelbäumen

Jörn hat immer neue Ideen für Hör- bzw. Klangspaziergänge. Vorletzten Winter gab es in Bremen kurze Zeit Schnee; also hat er schnell einen Spaziergang geplant, auf dem man Schnee knirschen hört und erfährt, warum der Schnee knirscht. Oder der Spaziergang ging zur Mole vom Bremer Hafen und dort wurde die Entfernung von Schiffssignalen geschätzt. Oder Jörn sammelt die Schlüsselbunde aller Spaziergänger ein, und dann muss jeder mit geschlossenen Augen sein klirrendes Schlüsselbund heraushören.

„Da bin ich jedes Mal selbst erstaunt, wie gut man Schlüsselbunde am Klang erkennt“, so Jörn Paland. „Einen anderen Spaziergang hatten wir mit einer jungen CI-Trägerin, die gerade Mutter geworden war. Ich habe sie gebeten, ihr Baby mitzubringen. Dann hörten wir auf das Kind.“

Manchmal nutzt Jörn auch spontane Hörerlebnisse, die sich nicht planen lassen: „Auf einmal beginnt es zu regnen. Wir stellen uns unter und dann hört man, dass der Regen auf verschiedenen Laubdächern ganz verschieden klingt. Oder man hört, wie der Wind klingt. Der klingt in Nadelbäumen ganz anders als in Laubbäumen. Murray Schafer schreibt, dass kein Regentropfen wie der andere klingt; das fand ich schön.“

Geräusche lernen, Technik nutzen und beim Hören fühlen

Was entdecken die Teilnehmer mit ihren CI auf den Hörspaziergängen? – „Es geht darum, wieder bewusst zu hören. Wer gut hören kann, bei dem funktioniert es so nebenbei. Ganz anders bei Schwerhörigen: Bei ihnen ist Hören immer ein aktiver Prozess, der Kraft und Konzentration kostet. Man merkt den Teilnehmern an, dass ihr Gehör oft lange sehr schlecht war. Durch den Hörverlust verschwinden die Geräusche aus dem Gehirn – so, als hätte man sie vergessen. Mit dem CI kommen sie langsam wieder. Man stellt fest: ‚Aha, so klang das…‘“

Foto von einem Spaziergang durch Amsterdam

Zugleich sind die Spaziergänge ein soziales Miteinander: „Mit anderen CI-Trägern ist man unter Gleichgesinnten, man tauscht sich aus. Und es geht immer auch um die Hörtechnik: Wie hole ich in lauten Situationen das Optimum aus dem CI heraus? Zum Beispiel mit den kleinen Mikrofonen, die ich mir anstecke.“

Und es geht auch darum, was man beim Hören fühlt: „Vogelstimmen zum Beispiel werden von den allermeisten Menschen sehr emotional wahrgenommen. Nach meiner Erfahrung ist es fast undenkbar, dass jemand darauf nicht anspringt. Anfangs fürchten die Leute oft, dass ich sie frage, wie der Piepmatz heißt, den sie gerade hören. Doch darum geht’s gar nicht. Neulich war ich mit einer Gruppe im Bürgerpark. Da waren zwei Kolkraben und mehrere Krähen, die die Raben vertreiben wollten. Es gab ordentlich Lärm. Da bekam jeder von sich aus mit, dass ein Kolkrabe ganz anders klingt als die schnöden Krähen.“

Spaziergänge planen und Stille hören

Jörn selbst kann ungefähr zwei Dutzend Vogelarten an ihren Stimmen erkennen: „Das reicht; ansonsten habe ich noch eine App, die analysiert, welcher Piepmatz das ist. In der kannst du die Stimme sogar nachhören und du bekommst noch Informationen zum Vogel.“

Für jeden Hörspaziergang legt Jörn sich eine Art Raster an: Jede Station auf dem Weg ist ein Hörort. Für jeden Ort wird die Position eingetragen. Dazu gibt’s ein paar Informationen, die Jörn dann vorträgt.

Illustration zu einem Artikel über Hörspaziergänge auf die-hörgräte.de

Bevor es losgeht, erklärt Jörn den Teilnehmern, was sie heute erwartet – was er selbst machen wird, und dass alle immer fragen können. Manchmal geht’s sogar an Orte, an denen man nichts hört: „Das ist mein Spaziergang zu den Orten der Stille. Da steigen wir hinab in die Krypta vom Bremer Dom, in der man keinerlei Geräusche machen darf. Auch das ist eine schöne Erfahrung. Die Leute gehen in sich und schalten mal ab. Es sei denn, sie haben einen Tinnitus, der sie bei Stille umso mehr nervt. Dann ist so ein Ort natürlich kontraproduktiv.“

Hörspaziergänge für alle und Pläne für die Vergangenheit

Ich habe Jörn gefragt, ob sich die Leute nicht auch ohne ihn in den Park setzen und Vogelstimmen hören könnten: „Sicherlich könnten sie das. Aber es geht auch darum, eine Anleitung zum aktiven Hören zu erhalten. Und es geht darum, überhaupt an so einer Veranstaltung teilzunehmen. Welcher Hörgeschädigte bucht schon freiwillig eine Stadtführung? Da wäre die Erfahrung, kaum was zu verstehen, oft schon vorprogrammiert. Unsere Hörspaziergänge hingegen sind eine Art geschützter Raum. Natürlich muss ich auch dafür sorgen, dass sich alle gut aufgehoben fühlen. Keiner soll befürchten, schief angeguckt zu werden, weil er irgendwas nicht versteht.“

Doch auch Menschen ohne Hörverlust sind an Jörns Hörspaziergängen interessiert: „Angeboten haben wir das zum Beispiel beim Bremer Musikfestival. Es ging um neue Musik und die Spaziergänge wurden so gut angenommen, dass ich selbst überrascht war. Einmal waren wir 25 Leute und ich musste überlegen, wie ich mit so vielen die Übung mit den Schlüsselbunden schaffe. Aber auch das ging. – Übrigens würde ich behaupten, dass CI-Träger den Klang ihrer Schlüssel genauso gut erkennen wie Leute ohne Schwerhörigkeit.“

Ideen und Pläne für weitere Hör- bzw. Klangspaziergänge hat Jörn noch jede Menge: „Ich würde gerne mal was zum Thema akustische Archäologie machen. Wie hat Bremen geklungen, bevor die ersten Dampfschiffe die Weser hochkamen? Oder wie hat Bremen vor dreißig Jahren geklungen? Damals gab es noch die letzten Pferdegespanne, Getrappel von Hufen, Fässer, die gerollt wurden… Bestimmte Geräusche könnte man im Internet suchen und vorspielen, dazu vielleicht alte Stiche mit Stadtansichten zeigen. Man könnte sich ein bisschen in die Geräuschkulisse von damals hineinphantasieren: Jetzt sieht es hier so aus, was hätten wir damals gehört? Ich glaube, das kann ganz unterhaltsam werden.“

Foto von einem Spaziergang durch Amsterdam

PS 1: Das Buch „Anstiftung zum Hören. Hundert Übungen zum Hören und Klänge Machen“ von R. Murray Schafer ist 2002 im Verlag Breitkopf & Härtel erschienen, ISBN 978-3-7651-9912-7

PS 2: Die Bilder zum Beitrag sind nicht aus Bremen, sondern aus Amsterdam – weil ich dort viel öfter bin als in Bremen, und weil man dort auch gute Hörspaziergänge unternehmen kann. – Übrigens, Fotos von Personen gibt es auf diesem Blog nie, höchstens Mal von historischen Personen. Wer wissen will, wie Jörn Paland aussieht, findet ihn zum Beispiel hier.


Vorheriger Beitrag
Betreutes Hören
Nächster Beitrag
Oralistischer Prinz rettet gehörloses Aschenputtel?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Fill out this field
Fill out this field
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.
You need to agree with the terms to proceed

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.

Mit unserem News­letter erhalten Sie regelmäßig Artikel, Geschichten und Neuigkeiten rund um das Hören mit und ohne Technik. Informationen zu den Inhalten, der Proto­kollierung Ihrer Anmeldung, dem Versand über den US-Anbieter MailChimp, der statistischen Aus­wertung sowie Ihren Ab­bestell­­möglichkeiten, erhalten Sie in unserer » Datenschutzerklärung

Neueste Beiträge

Kategorien