Umgangssprachlich nennt man Menschen, an denen etwas getestet oder ausprobiert wird, gerne mal „Versuchskaninchen“. Und wenn man den Eindruck gewinnt, dass man gegen den eigenen Willen zum Testen oder Ausprobieren verwendet wird, beschwert man sich: „Ich bin doch kein Versuchskaninchen!“ – Mal ganz abgesehen davon, wie es Kaninchen geht, an denen gegen ihren Willen etwas ausprobiert wird… – Menschen sind eher nicht gerne Kaninchen. Hanna Hermann sagt auch nicht, sie sei ein „Versuchskaninchen“ gewesen. Sie nennt sich „Versuchspatientin“.
Das hier ist der dritte und abschließende Teil der Geschichte von Hanna Hermann, die 1984 als vierter Mensch in Deutschland ein Cochlea-Implantat (CI) bekam, nachdem sie zehn Jahre taub war. – Dass ihre CI-Versorgung damals noch kein Routine-Eingriff war, hatte ich geschrieben. 1984 gab es noch keine „CI-Routine“. Hanna Hermann wusste, dass Professor Lehnhardt erst wenige CI-Operationen durchgeführt und Dr. Battmer erst wenige Sprachprozessoren angepasst hatte. Wie eine CI-Rehabilitation aussieht, wusste sie noch nicht – denn die war noch gar nicht erfunden.
Ein Versuchskaninchen?
Neue Behandlungsmethoden kann es nur geben, wenn jemand bereit ist, „Versuchspatient“ oder „Versuchspatientin“ zu sein. Mit einem Kaninchen, das gar keine Wahl hat, sollte das besser nichts zu tun haben. Eher schon mit Hanna Hermanns Gefühl „nichts zu verlieren zu haben“, mit Hoffnung, Wagemut und Vertrauen darauf, dass der Arzt oder die Ärztin verantwortungsvoll handelt bzw. behandelt. Die eigene Entscheidung zur CI-Operation (die man für sich selbst oder auch als Eltern eines schwerhörigen Kindes trifft) ist sehr wichtig. CI-Träger*innen sagen mir immer wieder, dass man das unbedingt selbst entscheiden muss. Gar nicht gut ist hingegen, wenn man sich – mit einer Art „Kaninchen-Gefühl“ – diese Entscheidung von anderen abnehmen lässt.
Dass sich Hanna Hermann sehr bewusst für das CI entschied, hatte ich auch schon geschrieben. Sie sagt: „Als ich nach zehnjähriger Taubheit wieder hören konnte – das Verstehen-können dauerte sehr lange – war ich vor allem eines: Dankbar! Allen involvierten Personen sehr dankbar. Die Technik war dafür notwendig – so wie sie war. Und die Nachsorge war sehr fürsorglich, hätte damals nicht besser sein können. Schließlich waren alle Beteiligten zum jeweiligen Zeitpunkt Pioniere!“
Was ihr die Behandlung bringen würde, ob sich die OP überhaupt lohnen würde, das wusste Hanna Hermann vorher nicht. Auch heute kann man das nicht zu 100 Prozent voraussagen, aber es gibt sehr viele Erfahrungen: „Die Entwicklung meines Hörens und Verstehens war in den Jahren nach 1984 nicht im Ansatz vorhersehbar! Von Kindheit an schwerhörig, konnte ich Sprache niemals rein akustisch verstehen, konnte nie telefonieren. Heute ist Telefonieren mit bekannten und unbekannten Personen für mich selbstverständlich, auch wenn es manchmal Einschränkungen gibt.“
Nach diesen ersten zehn Jahren mit Cochlea-Implantat entwickelte sich Hanna Hermanns Gehör immer noch weiter – zum Beispiel beim Musikhören: „In der Anfangszeit hörte sich Musik für mich nicht gut an. Bis heute verstehe ich die Liedertexte (noch) nicht. Doch die aktuelle CI-Technik führte dazu, dass ich Musik in vielen Variationen jetzt sehr gerne höre und daran viel Freude habe.“
Ein anderes Leben und eine Schnecke
Beim Hören geht es nicht nur ums Hören bzw. um einen Sinn. Mehr oder weniger hören zu können, hat Auswirkungen auf ganz viele Lebensbereiche. Das kann man kritisieren, weil es ja zum Beispiel bedeutet, dass jemand, der weniger hört, im Leben häufiger behindert wird als jemand, der gut hört. Aber es bedeutet eben oft auch, dass man mit Hörtechnik und fachkundiger Betreuung solche Behinderungen verringern und eigene Grenzen überwinden kann. Man kann vielleicht sogar ein „anderer Mensch“ werden:
„Ohne das Hören und Verstehen mit Cochlea Implantaten hätte ich nicht die Person werden können, die ich heute bin“, sagt Hanna Hermann. „Ich hätte ein ganz anderes Leben führen müssen.“
Zu ihrem Leben mit CI gehörte zum Beispiel auch, dass sie Chefredakteurin der Fachzeitschrift „Schnecke“ wurde. Die „Schnecke“ ist die größte deutsche Zeitschrift für das CI – und eine Plattform für alle, die mit dem CI (oder mit anderer Hörtechnik) zu tun haben. Die Idee zur „Schnecke“ hatte Professor Lehnhardt Ende der 80er Jahre. Und Hanna Hermann hat die Zeitschrift damals mit anderen CI-Trägerinnen und Trägern gegründet. Sie hat die Zeitschrift gemeinsam mit einem Team über 25 Jahre verantwortlich weiterentwickelt und zu dem gemacht, was die „Schnecke“ heute ist. Ich bin Hanna Hermann auch erstmals begegnet, weil sie die Chefredakteurin der „Schnecke“ war.
Zwei Ohren und zwei CI
Mehr als 25 Jahre nach ihrer ersten CI-Implantation war Hanna Hermann noch einmal eine Art „Versuchspatientin“: Im Jahr 2000 besuchte sie einen Kongress, auf dem es natürlich ums Hören ging, und ein CI-Träger erzählte begeistert, wie es ist, auf beiden Ohren mit dem Cochlea-Implantat zu hören:
„Das war phantastisch! Doch wer sollte von nun an zwei CIs bekommen dürfen? Es gab ohnehin nur eine limitierte Anzahl von CIs, die in den CI-Kliniken eingesetzt werden durften. Sollten nun Patienten, die das erste CI benötigten, zurückstehen, damit ein anderer das zweite bekam? Durfte ich so egoistisch sein und ein zweites CI haben wollen?“
Schon diese Entscheidung für sich zu treffen, sei nicht einfach gewesen, sagt Hanna Hermann. Bis sie dann 2003 ein zweites Implantat bekam (wieder in der Medizinischen Hochschule Hannover, diesmal beim Professor Lenarz), war es ein langer Prozess. Es gab große Widerstände. Es ging vor allem um Geld (bzw. um die Kostenübernahme durch die Krankenkasse). Das ist ja meist ein Thema bei neuen Behandlungen. Heute ist es eher Standard, dass man zwei CI bekommt, wenn man sie braucht. Und im Übrigen ist heute auch klar, dass es zu kurz greift, eine CI-Versorgung allein aus Kostengründen nicht zu bewilligen. (Auch mit Blick auf die Kosten greift das zu kurz.) Standard sind zwei CI allerdings nur in Deutschland; die meisten anderen Länder sind noch lange nicht so weit.
Für Hanna Hermann brachte das zweite CI nicht nur das Erlebnis, plötzlich auf beiden Ohren zu hören: „Von Anfang an spürte ich eine Erleichterung beim Hören und Verstehen und ich verstand sehr bald sehr viel besser. Besonders fiel mir das bei Kongressen auf. Früher musste ich mich auf das Verstehen konzentrieren, das erforderte alle Energien – wobei ich mich allerdings nicht schonte, ich gab alles. Aber die Steigerung des Hörvermögens durch das zweite CI war eine phantastische Bereicherung.“
PS 1: Mit ihrem ersten Implantat hat Hanna Hermann weit über 30 Jahre gehört. Sie sieht das Hören mit dem CI auch heute noch als Aufgabe, für die sie Ausdauer und Geduld braucht. – Weil Hören für sie anstrengend sein kann. Und weil sich ihr Gehör bis heute immer noch verändert und Neues lernt. Hanna Hermann sagt, dass sie denen, die das ermöglicht haben, täglich dankt.
PS 2: Die Fotos zum Beitrag zeigen Kaninchen – ein wehrhaftes Kaninchen von einem Café in Berlin, ein exzentrisches Kaninchen von einem Gothic- und Punk-Shop in London, Streetart-Kaninchen aus Berlin und London, das berühmtestes holländische Kaninchen Nijntje und ein Schneekaninchen aus Berlin-Köpenick. Der Hörgräten-Blog hat so seine eigenen Bilder. Fotos von Personen gibt es hier nicht, höchstens Mal von historischen Personen. Wer wissen will, wie Hanna Hermann aussieht, findet sie zum Beispiel hier.