Hörende und gehörlose Welt

Eine Annäherung an die Gebärdensprache (Teil 1)
Lambert Jacobsz (1598-1636) „Elisa und Gehasi“

Hörende und gehörlose Welt? In einem früheren Artikel hatte ich mich schon mit dem Thema Gebärdensprache beschäftigt. (Der Artikel drehte sich um die kleine Meerjungfrau, der es vermutlich besser ergangen wäre, wenn sie Gebärden gekonnt hätte…) Ich selbst kann so gut wie gar keine Gebärde. Man könnte vielleicht annehmen, dass Leute, die sich mit Hörtechnik beschäftigen, auch Gebärden können. Aber das ist eher die Ausnahme. Auch diejenigen, die Hörtechnik nutzen, können meist keine Gebärdensprache.

Zwischen Menschen, die mit Technik hören, und Menschen, die das nicht bzw. nur sehr eingeschränkt können, liegen Welten. Das ist nicht nur so dahingesagt. Diejenigen, die Gebärdensprache wie (bzw. als) ihre Muttersprache sprechen, unterscheiden nach meiner Erfahrung immer zwischen der hörenden Welt und ihrer eigenen, also einer anderen Welt – der Welt der Stille.

Virus und Gebärden

Außerdem gibt es Menschen, die sich – aus unterschiedlichen Grünenden – zwischen hörender und gehörloser Welt bewegen bzw. zwischen diesen beiden Welten vermitteln; Gebärdendolmetscher*innen zum Beispiel. Wie wichtig diese Vermittlung ist, konnte man beim Corona-Virus sehen. – Falls du hören kannst: Stell dir vor, du bist in einem Land, dessen Sprache du nicht verstehst. Und du weißt, dass es da aktuell eine Gefahr gibt, z. B. so einen Virus, über den ständig und überall geredet wird. Aber du bekommst nur einen Bruchteil der Informationen mit. – Wie fühlst du dich?

Ausschnitt aus einem alten Gemälde

Gebärdensprachlich orientierten Menschen ging es beim COVID-19 oft genau so. Es werden wichtige Infos im Fernsehen verbreitet, die alle betreffen. Aber anders als in vielen anderen Ländern wird im deutschen Fernsehen (oft) nicht gebärdet. Und dann fehlt die Vermittlung zwischen hörender und gehörloser Welt. Wer nicht hören kann, bleibt außen vor.

Zwischen hörender und gehörloser Welt

Eine Vermittlerin zwischen der hörenden und der Gehörlosen Welt ist Judit Nothdurft. Wir laufen uns immer mal wieder über den Weg, meist auf der Hörgeräte-Messe. Und für den Block habe ich sie gebeten, mir etwas über Gebärdensprache und über ihre Arbeit zu erzählen.

Judit Nothdurft kam vor über 30 Jahren nach Deutschland, und sie kommt eigentlich aus Ungarn. Das hört man auch noch an ihrem Akzent – natürlich nur, wenn man ihr lautsprachlich zuhört. Gebärdensprache spricht sie auch seit ungefähr 30 Jahren. Damals bekam sie ihren ersten Sohn. Und es stellte sich bald heraus, dass ihr Sohn gehörlos ist.

„Ich hatte keine Ahnung, was das überhaupt bedeutet“, erzählte sie mir. „Uns Eltern wurde nur gesagt, wir sollen laut und deutlich sprechen. Als ich dann jedoch mit Gehörlosen zusammenkam, sah ich, dass sie mit ihren Babys bereits gebärdeten, dass sie sich mit ihnen verständigten. Und ich stellte fest, dass ich meinem Kind die Inhalte der Sprache allein durch das Sprechen nicht vermitteln kann. Mir wurde klar, dass ich Gebärdensprache lernen muss, um meinem Sohn Dinge erklären zu können – vor allem die Dinge, die man nicht sehen kann.“

Ausschnitt aus einem alten Gemälde

Gebärdensprache lernen kann man zum Beispiel in der Volkshochschule. Das war auch damals schon so, auch wenn – wie mir Judit Nothdurft erzählte – alles noch längst nicht so ausgereift war wie heute. Erst lernte sie selbst die Gebärden, und dann brachte sie diese ihrem Mann und ihrem Sohn bei, später auch ihrem zweiten Sohn, der einseitig gehörlos ist. Die ganze Familie erlernte also eine für alle neue Sprache. Doch es ging noch um mehr: „Ich habe auch den Kontakt in die gehörlose Welt gesucht. Erst dort lernt man, so richtig zu sprechen, also so, wie es in der Volkshochschule nicht vermittelt wird. Und man lernt, mit Gehörlosen umzugehen, lernt ihre Kultur.“ – Auch Judit Nothdurft sagt, dass es eine ganz andere Welt ist.

Mit den Augen verstehen

Was ist der entscheidende Unterschied zur Welt, die wir Hörenden kennen? – „Auf jeden Fall ist es eine sehr offene Welt“, so meine Gesprächspartnerin. „Und Gehörlose nehmen ihre Welt vor allem visuell wahr. Deshalb müssen sie auch Informationen visuell bekommen. Wenn wir ihnen Informationen durch Gebärdensprache und durch visuelle Bilder geben, dann kapieren sie unheimlich schnell, was wir ihnen sagen wollen. In der visuellen Wahrnehmung sind diese Menschen sehr stark. Sie können schnell Zusammenhänge begreifen, bei denen wir Hörenden eher noch etwas hängen.“

Ausschnitt aus einem alten Gemälde

Eine völlig andere Form der Wahrnehmung. Und auf die hat sich die hörende Welt bislang nicht genug eingestellt: „Deshalb gibt es da auch immer noch Barrieren. Begibt man sich jedoch auf eine Ebene, nimmt man die Barrieren weg, dann öffnen sich diese Menschen sehr schnell und sind auch sehr dankbar dafür. Sie unterstützen dich auch, damit du mit in ihre Welt kommen kannst. Damit du gemeinsam mit ihnen feiern oder Dinge mit ihnen erleben kannst.“

Gehörlosenkultur und Gebärdennamen

Und Gehörlose haben nicht nur eine eigene Sprache, sondern auch eine eigene Kultur. – „Musik, Theater, Pantomime… Sie haben ihre Kultur genauso wie wir unsere. Sie haben all das für sich geschaffen; natürlich alles in Gebärdensprache. Es ist auch eine ganz kleine, in sich geschlossene Welt. Man kennt sich sehr gut.“

Ausschnitt aus einem alten Gemälde

Typisch für die Gehörlosenkultur ist zum Beispiel, dass man einander Gebärdennamen gibt. – „Diesen Namen bekommt man meist anhand äußerer Merkmale. Und man behält ihn ein Leben lang. Ich habe meinen Gebärdennamen bekommen, als mein Kind im Kindergarten war. Ich hatte immer eine Mütze auf und trug die Haare nach hinten. Die anderen Kinder haben das zu meinem Sohn gebärdet und ihm gesagt: ‚Das ist deine Mama.‘ Von da an hatte ich diesen Namen.“

Grammatik in der Gebärdensprache

Gebärden sind wie Worte. Und die Gebärdensprache hat auch eine Grammatik. – „Diese Grammatik hat jedoch nichts mit der in unserer Lautsprache zu tun. Es gibt keine Artikel, keine Fälle, keine Pronomen, keine gebeugten Verbformen. Der Satzbau ist ganz anders. Verben stehen meist am Ende des Satzes. Worte wie „haben“ oder „werden“ stellt man mimisch dar; sie werden jedoch nicht so ausgedrückt, wie es Hörende machen. Und es wird grundsätzlich geduzt.“

Ausschnitt altes Gemälde

Diese gravierenden Unterschiede seien der Grund, warum Gehörlose oft Probleme haben, Schriftsprache zu lesen und zu verstehen. – „Auch die Schriftsprache der Hörenden ist eben nicht ihre Muttersprache.“

Gebärdensprache und Dialekte

Auch Gebärdensprache für sich ist nicht überall gleich – nicht mal die Deutsche Gebärdensprache (kurz: DGS). Es gibt Dialekte, Unterschiede zwischen Nord und Süd. Sogar zwischen Münchner und Nürnberger Gebärdensprache gibt es schon Unterschiede. In dieser Hinsicht funktionieren Gebärden also durchaus genauso wie die Lautsprache.

„In Bayern wird zum Beispiel Samstag wie Waschtag gebärdet, also so, als würde man Wäsche auf einem Waschbrett reiben. Im Norden hingegen wischt man sich für Samstag mit dem Handrücken unter dem Kinn. Und Sonntag heißt es in Bayern, wenn man die Hände wie zum Beten zusammenlegt. Im Norden hingegen streicht man sich für Sonntag mit der flachen Hand übers Revers beziehungsweise übers Kleid – weil man sich am Sonntag natürlich schick macht. Gerade bei Wochentagen ist der Unterschied zwischen den Dialekten sehr deutlich.“

Im nachfolgenden Video zum Beitrag über hörende und gehörlose Welt stellt sich Judit Nothdurft kurz vor – mit ihrem Namen und mit ihrem Gebärdennamen, in Laut- und Gebärdensprache.

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Und in diesem Video zeigt dir Judit Nothdurft noch, wie du anderen in Gebärdensprache Frohe Ostern wünschen kannst.

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PS 1: Judith Notdurft findet ihr zum einen unter ihrer Firmenhomepage. Zum anderen betreibt sie aber auch ein Info-Portal für Gehörlose. Dort findet man bundesweit alle möglichen Kontakte, die gebärden können – von Arzt bis Rechtsanwältin… Auch wer mehr über gehörlose und hörende Welt erfahren will, ist hier richtig.

PS 2: Die Fotos zum Beitrag über hörende und gehörlose Welt zeigen keine Gebärdensprache – aber Gebärden aus alten Bildern. Auch wenn man keine Gebärdensprache kann – Mimik und Gestik gehören ja schon immer zur menschlichen Kommunikation. Und ganz oben, bei dem Bild vom Propheten Elisa und dem Knecht Gehasi vom holländischen Maler Lambert Jacobsz (1598-1636) sieht es für mich schon so aus, als würden sich die beiden in Gebärdensprache unterhalten…


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