Im vorangegangenen Beitrag hatte ich mich mit Judit Nothdurft über Gebärdensprache sowie über hörende und gehörlose Welt unterhalten. Judit Nothdurft ist selbst hörend. Sie hat zwei erwachsene hörbehinderte Söhne. Und sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, hörende und gehörlose Welt mit einander zu verbinden, hörende und gehörlose Menschen für den jeweils anderen zu sensibilisieren. Judit Nothdurft ist selbständige Dozentin und unterrichtet unterschiedlichste hörende Menschen in Gebärden. Hier noch etwas mehr aus dem Gespräch mit ihr. Es geht vor allem um das Gebärden lernen.
Gebärdensprache ist eine Sprache wie jede andere. Für manchen ist sie sogar die schönste Sprache der Welt. Aber in Deutschland wurde sie überhaupt erst 2002 als Sprache anerkannt. Das heißt, sie gilt noch gar nicht lange als offiziell als echte Sprache. Anerkennung heißt allerdings nicht, dass sie auch Amtssprache ist. Wenn die Gebärdensprache Amtssprache wäre, müsste es in jeder Behörde jemanden geben, der gebärden kann. Amtssprache ist die Gebärdensprache bislang nur in einem einzigen Land der Welt – in Neuseeland.
Dennoch war diese Anerkennung in Deutschland ein wichtiger Schritt – damit zum Beispiel die Ausbildung von Gebärdensprachdolmetscher*innen geregelt werden konnte, damit man diesen Beruf auch studieren kann, damit geregelt werden kann, wer ggf. Kosten für den Unterricht übernimmt usw. Gehörlose haben jetzt überhaupt erst das Recht, darauf zu bestehen, dass Gebärdensprache ihre Muttersprache ist. Und sie können somit auch fordern, dass sie Informationen in ihrer Muttersprache erhalten. Das wird durch die UN-Behindertenrechtskonvention von 2008 unterstützt.
Gebärden lernen für Hörende?
Was sollte jemand, der noch nie etwas mit Gebärdensprache zu tun hatte, unbedingt über Gebärdensprache wissen? – „Erst einmal finde ich wichtig, dass jemand, der in einer gehörlosen Umgebung ist, Gebärdensprache lernt“, so Judit Nothdurft. „Es ist dann für ihn selbst leichter. Er tut aber auch seiner Umgebung einen großen Gefallen.“
Gebärdensprache zu lernen, bringt laut meiner Gesprächspartnerin sogar dann was, wenn man nicht unbedingt in so einer Umgebung ist: „Ich unterrichte oft Gebärdensprache in großen Firmen oder anderen Einrichtungen. Dort erkläre ich den Leuten immer: ‚Selbst wenn Sie nicht mit Gehörlosen zu tun haben, Sie werden durch die Kenntnis dieser Sprache ganz anders auftreten und anders wahrgenommen.‘ Gebärdensprache ist Körpersprache. Mit Gestik und Mimik, starkem Gesichtsausdruck. Das übernimmt man ganz automatisch. In einem Vortrag wirkt man dann zum Beispiel viel lebendiger und interessanter.“
Judit Nothdurft fände schön, wenn es in Schulen die Möglichkeit gäbe, Gebärdensprache als Wahlfach zu belegen: „Selbst wenn man die Sprache nicht ständig braucht, ist sie ein unheimliches Plus. Man lernt, sich visuell zu konzentrieren und Dinge wahrzunehmen. Was macht der andere jetzt mit der Hand? Welche Bewegung ist das? Man lernt nicht nur, die eigene Mimik einzusetzen, sondern auch, die Mimik der anderen zu verstehen, sich Beziehungen zwischen Menschen zu erschließen.“
Hörende und gehörlose Kolleg*innen
Judit Nothdurft hält ihre Gebärdensprachseminare sehr oft in Firmen, in denen es gehörlose Mitarbeiter*innen gibt. – „Ich bringe den hörenden Mitarbeitern bei, wie sie den Umgang mit den Kollegen gestalten können. Und sie lernen die wichtigsten Gebärden – eine Woche lang, sechs Stunden am Tag. Man fängt bei Adam und Eva an. Sie lernen das, was sie für die Arbeit vor allem brauchen. Und sie unterhalten sich dann auch mit den gehörlosen Kollegen. Es kommt vor, dass der gehörlose Kollege dann meint: ‚Also ich arbeite hier schon 15 Jahre, aber noch nie zuvor hat sich jemand hier so lange mit mir unterhalten…‘“
Ihre Seminare zum Gebärden lernen gibt die Dozentin zum Beispiel jedes Jahr bei einem großen Autohersteller. Für die teilnehmenden Mitarbeiter sei so eine Woche natürlich „Hardcore“. Sie lernen sehr viel – genau das, was sie auch brauchen. Sie wissen danach, wie man Bremse oder Chassis gebärdet. Und sie lernen zu fragen, wie es dem anderen geht, ihm einen ‚Guten Appetit!‘ zu wünschen, sich über Fußball zu unterhalten…
Gebärdensprache und Notfallmedizin
Ein anderer wichtiger Bereich, in dem Judit Nothdurft Gebärdensprachkompetenz vermittelt: Notfallmedizin. Hier unterrichtet sie Notfallsanitäter und Ärzte, damit diese sich mit gehörlosen Patienten verständigen können. Der Unterricht erfolgt dafür nicht in Wochenkursen, sondern in einem Block von vielleicht zwölf Stunden. In der Ausbildung von Notfallsanitätern ist Gebärdensprache zum Teil sogar Prüfungsfach.
„Die haben natürlich auch eine riesige Verantwortung. Sie müssen ja herausbekommen, welche Medikamente ein Patient nimmt oder ob er Allergien hat. Sie müssen zumindest die Fragen stellen können, die sie bei einem Notfall in der Lautsprache auch stellen.“
Übersetzt in die Lautsprache fragt man in Gebärdensprache dann zum Beispiel: „Du Tablette wann?“ Also nicht: „Wann haben Sie die Tablette genommen?“ Und es heißt auch nicht: Welche Tablette haben Sie genommen?“ Sondern: „Name Tablette was?“ – Die Grammatik funktioniert also ganz anders als die der Lautsprache.
Selbstverteidigung für Gehörlose
Noch ein ganz anderes Schulungsangebot hat Judith Notdurft vor einigen Jahren ins Leben gerufen: nämlich Kurse zur Selbstverteidigung für gehörlose Frauen.
„Anlass war eine Studie, die zeigte, dass 75 Prozent aller gehörlosen Frauen bereits im Alter von 16 Jahren Gewalterfahrungen gemacht haben. Das kann Gewalt in der Familie sein oder auch Gewalt im schulischen Umfeld. Gehörlose wohnen sehr oft im Internat, weil die Schulen weit weg von zu Hause sind. Und Gehörlose hören einen Angreifer nicht, wenn er von hinten kommt. Hinzu kommt, dass Gehörlose viel über körperliche Nähe kommunizieren. Wenn sie jemandem etwas sagen wollen, dann fassen sie denjenigen oft am Arm, damit er sie ansieht. Diese Berührungen können missverstanden werden, und das erhöht die Gefahr eines Übergriffs.“
Also hatte sich Judit Nothdurft Gedanken gemacht und ein Konzept geschrieben. Sie wollte Frauen helfen, sich im Falle eines Übergriffs wehren zu können. Und sie fand einen namhaften Projektpartner: Peter Althof. Der VIP-Bodyguard hat schon für Michael Jackson, Pamela Anderson, Boris Becker oder Diego Maradona als Personenschützer gearbeitet. – „Er ist sehr bekannt, hat in Nürnberg ein eigenes Studio, mit Matten, Kissen zum Schlagen und allem, was man für ein Training braucht. Ich habe ihn gefragt, ob er mitmachen würde, und er war sofort Feuer und Flamme.“
Inzwischen gibt es zweimal jährlich einen Selbstverteidigungskurs, in dem gehörlose Frauen lernen, sich zu verteidigen. Sie trainieren, wie sie sich aus bestimmten Griffen befreien können oder wie sie reagieren sollten, wenn jemand ein Messer zieht. – „Aber noch wichtiger als die Griffe ist das Selbstbewusstsein, das sie dabei gewinnen. Das ist Wahnsinn! Sie gehen nachher ganz anders raus aus dem Kurs. Wirklich scharf! Und wenn sie das erstmal geschafft haben, ist es schon sehr viel wert.“
Abschließend kannst du selbst noch ein paar Gebärden lernen. Judit Nothdurft zeigt dir, wie du jemandem in Gebärdensprache einen „Guten Morgen“ und einen „Guten Abend“ wünschen kannst.
PS 1: Judith Notdurft findet ihr zum einen unter ihrer Firmenhomepage. Zum anderen betreibt sie aber auch ein Info-Portal für Gehörlose. Dort findet man bundesweit alle möglichen Kontakte, die gebärden können – von Arzt bis Rechtsanwältin… Auch wer mehr über gehörlose und hörende Welt erfahren will, ist hier richtig.
PS 2: Die Fotos zum Beitrag über Hören und Gebärden lernen zeigen sprechende Hände, die ich in Berlin, Leipzig und London fotografiert habe.