
Mit dem Leben wurde auch das bessere Hören elektrisch. Und das läuft anders ab als mit Hörhilfen ohne Strom: Der Schall bleibt nicht einfach Schall, der auf dem Weg durchs Hörrohr verstärkt wird. Der Schall wird umgewandelt. Aus Schallschwingungen werden elektrische Spannungsschwankungen. Die werden verstärkt, und man wandelt sie wieder in Schallschwingungen um. Die Schwingungen sind dann jedoch größer als sie es ursprünglich waren. Für Hin- und Rückverwandlung des Schalls braucht man zwei Dinge: ein Mikrofon und einen Lautsprecher bzw. Hörer. Im Prinzip ist es wie beim Telefon; nur das es beim Telefon darum ging, die verwandelten Schallschwingungen als Spannungsschwankungen über weite Strecken zu übertragen, und nicht darum, die Schallschwingungen größer zu machen.
Telefon & Hörgerät: weiter hören und besser hören
Kein Wunder also, dass die Erfindung von Telefon und Hörgerät eng zusammengehören. Auch vor dem elektrischen Strom gehörten „weiter hören“ (Telefon) und besser Hören (Hörhilfe) schon zusammen. Giovanni Battista della Porta hatte sein Hörrohr nicht für schwerhörige Menschen erdacht, sondern zum „weiter hören“. Und schon seit dem Mittelalter nutzte man Schläuche oder Rohre, um sich über größere Distanz miteinander auszutauschen. Solche Vorrichtungen gab es in Burgen, später in Schiffen, Fabriken oder Häusern reicher Leute, die ihre Diener jederzeit erreichen wollten; natürlich kamen Rohre und Schläuche längst nicht so weit wie Telefone.
Der Erste, der gesprochene Worte in Form von Spannungsschwankungen über größere Distanzen schickte, war Philip Reis. Er war Physiker und Lehrer. Die anderen Physiker nahmen seine Erfindung nicht ernst. Er meldete sie auch nicht zum Patent an. Und er hatte erst recht keine Firma, die aus Erfindungen Produkte macht, mit denen man reich wird. Immerhin gab er dem Ding den Namen: Telefon.

Der Amerikaner Antonio Meucci, der auch ein Telefon erfand, meldete es gleichfalls nicht zum Patent an. Und der Amerikaner Elisha Gray, der auch ein Telefon erfand, wollte es zum Patent anmelden, konnte das jedoch nicht mehr, weil zwei Stunden vor ihm schon jemand ein Telefon zum Patent angemeldet hatte. Das war Alexander Graham Bell (der das Telefon eher nicht erfunden hat).
Alexander Graham Bell: Menschen mit Technik „reparieren“
Für manche Erfindungen ist die Zeit irgendwann so reif, dass gleich mehrere auf dieselbe Idee kommen. Reis war der erste. Hat ihm zu Lebzeiten aber nur Spott eingebracht und nutzt ihm heute – wo jeder seine Erfindung immer bei sich hat – auch nichts mehr.
Alexander Graham Bell, der eher nicht der Erfinder des Telefons ist, ist für unser Thema dennoch spannend: Er hatte eine taube Mutter. (Bells Mutter hatte ihr Gehör als Jugendliche verloren.) Und vermutlich war das ein Auslöser für seinen ganzen weiteren Weg. Er hatte schon früh die Idee, Menschen, die nicht hören und (Lautsprache) sprechen können, mit Technik „zu reparieren“. Als Bell 13 war, baute er eine „Sprechmaschine“, die „Mama“ sagen konnte. Später wurde er Taubstummenlehrer, heiratete eine gehörlose Frau und forschte nach einer Lösung, mit der man gesprochene Sprache verstärken kann. Er fand diese Lösung aber nicht.
Bell hat eine Menge anderer Sachen erfunden: ein drahtloses Lichttelefon (das Photophon), eine Weiterentwicklung von Edisons Phonographen (das Graphophon), einen Metalldetektor und ein Audiometer (also ein Gerät zur Messung der Hörfähigkeit). Er experimentierte auch mit Drachen und anderen Fluggeräten und war Mitentwickler eines extrem schnellen Schnellboots.

Vor allem aber erfand Bell Dinge für taube Menschen. Er baute Visual Speech Maschinen – also Maschinen, die Lautsprache visuell darstellen, damit gehörlose Menschen sie lernen können. Und er baute Vibrationsgeräte, durch die gehörlose Menschen Lautsprache als Vibrationen fühlen sollten. Er baute auch einfache Detektoren, die gehörlosen Menschen Töne bzw. Laute anzeigen können. Und er gründete Einrichtungen, in denen gehörlose Menschen lernen sollten, die Erfindungen zu nutzen.
Alexander Graham Bell: Gehörlosigkeit und „Erbgesundheit“
Alexander Graham Bell war nicht nur Erfinder, sondern auch ein Pionier für Hörgeschädigten-Pädagogik, der sein ganzes Leben dafür arbeitete, dass gehörlose Menschen in die Gemeinschaft der Hörenden integriert werden. Er soll voller Idealismus gewesen sein. All das ist an sich gut und verdienstvoll. Doch manches, was erst gut und verdienstvoll ist, ist später das Gegenteil davon…
Bell wollte, das gehörlose Menschen ebenso sprechen lernen wie die Hörenden. Deshalb war er gegen Gebärdensprache und für die orale Erziehung. Und er war Eugeniker – also Anhänger von etwas, was zu seiner Zeit als Wissenschaft galt und heute das Gegenteil von Wissenschaft ist – und diskriminierend, rassistisch, menschenverachtend.
Die Eugenik sollte bessere Menschen hervorbringen, indem man die menschliche Vererbung kontrolliert. Und Bell meinte, dass bessere Menschen entstehen, wenn man verhindert, dass zwei gehörlose Menschen heiraten und Kinder bekommen. Gehörlosigkeit war für ihn ein Defekt, den man beseitigen muss. Gehörlose sollten auch keine eigenen Schulen mehr besuchen, damit sie gar nicht erst andere Gehörlose kennenlernen, die sie später heiraten könnten. Über all das hielt er Vorträge und schrieb Artikel über „Erbgesundheit“ und er war Mitglied in einer der führenden Eugeniker-Organisationen der USA.
Wer hat das Hörgerät erfunden?
Bell selbst soll seine Erfindungen für taube Menschen für seine bedeutendsten Erfindungen gehalten haben. Heute kennt man ihn vor allem wegen des Telefons, das er eher nicht erfunden hat, und wegen der Maßeinheit Bel. Die nimmt man vor allem für den Schalldruckpegel bzw. für die Lautstärke.

Wer hat das Hörgerät erfunden? Die Frage ist ähnlich knifflig wie die nach dem Erfinder des Telefons. Ein Name, der oft genannt wird, ist Werner von Siemens, zumal Siemens später einer der bekanntesten Hörgeräte-Hersteller war. Aber Werner von Siemens hat kein Hörgerät erfunden, sondern einen Telefonhörer für Schwerhörige namens „Phonophor“.
Der Erfinder des ersten Hörgeräts war ziemlich sicher ein Berliner Ohrenarzt. Er hieß Louis Jacobson und ist viel weniger bekannt als Werner von Siemens. Das hat auch damit zu tun, wie er sein Hörgerät zum Patent anmeldete. 1897 ließ sich Louis Jacobson einen „telephonischen Apparat für Schwerhörige“ patentieren. Das war für sich genommen ebenfalls kein Hörgerät. Aber neun Monate vorher hatte Louis Jacobson schon ein sehr leistungsstarkes Mikrofon zum Patent angemeldet. Und der „telephonische Apparat“ war nur ein Zusatzpatent zu dem Mikrofon.
Nimmt man beide zusammen, ist man genau da, wo dieser Artikel anfing: Schallschwingungen in Spannungsschwankungen umwandeln, und die dann in lautere Schallschwingungen zurückverwandeln… – Also ein Hörgerät! Obendrein hatte Jocobson in seiner Patentschrift vermerkt, dass sein Apparat das Hören sowohl über Luft- als auch über Knochenleitung verstärken kann.
Louis Jacobson kennt auch deshalb niemand, weil er – anders als Werner von Siemens – kein Geschäftsmann war. Er war Arzt. Einer seiner Lehrer war der Wiener Ohrenarzt Victor Urbantschitsch, der schon im 19. Jahrhundert kleinen, hochgradig hörgeschädigten Kindern beibrachte, wie sie ihr Restgehör nutzen können. Louis Jacobson hat sich vermutlich gefreut, dass er eine Lösung gefunden hatte, mit der schwerhörige Menschen noch mehr hören können.

PS 1: Die Fotos zeigen alte Telefone, die ich in Museen in London, Wien und Berlin fotografiert habe, u. a. ein „Loud-Speaking-Telephon“ von Gower-Bell.
PS 2: Für den Artikel habe ich u. a. das Buch „Die Hand am Ohr. Eine kleine Geschichte der Hörakustik“ von Rainer Hüls genutzt. Das Buch ist 2009 erschienen und stellt die Geschichte der Hörtechnik ausführlich dar. Ein bisschen durfte ich die Entstehung des Buches damals unterstützen, u. a. mit einem Porträtfoto vom Arzt und Hörgeräte-Erfinder Louis Jacobson, das gar nicht so leicht zu finden war.