Oralistischer Prinz rettet gehörloses Aschenputtel?

Über den Film „Gottes vergessene Kinder“ der US-amerikanischen Regisseurin Randa Haines
Mix aus Filmbildern aus „Gottes vergessenen Kindern“ und Gottesdarstellungen aus dem Deckengemälde der Sixitinischen Kapelle

Für mich ist es der Klassiker unter den Filmen, in denen es ums Hören bzw. Nicht-hören geht. Das liegt wohl daran, das „Gottes vergessene Kinder“ immer genannt wird, wenn man nach Filmen zum Thema sucht. Oder daran, dass es ein erfolgreicher Hollywoodfilm ist, der das Thema früh aufgegriffen hat. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich den Film vor nicht ganz 40 Jahren, als er gerade in die Kinos kam, zum ersten Mal sah. Er wurde 1986 erstmals gezeigt. Ich habe ihn so 1988 gesehen – im „Theater des Friedens“ in Rostock (DDR), einem Kino, in dem man an Couchtischen sitzen, „Kardinal“ Weinbrand bestellen und pausenlos „alte Juwel“ quarzen konnte, während vorne der Film lief; ich war jung und der Saal meist ziemlich leer.

„Gottes vergessene Kinder“ – die Story

Ich habe den Film jetzt nochmal gesehen. Es war ein bisschen so, als würde man einen früheren Bekannten treffen. Man sortiert Erinnerungsstücke. „Gottes vergessene Kinder“ hatten sich mit anderen Filmen vermischt, die ich damals gesehen habe: die Szenen mit den jugendlichen Gehörlosen und Szenen aus „Fame“, in dem es um Schauspielschüler geht; oder die Frisur der Hauptheldin Sarah (Marlee Matlin) mit der von Jennifer Beals in „Flashdance“. Man fragt sich, wie man das, was man jetzt sieht, damals gesehen hat. Es ist ein bisschen, als betrete man einen Raum aus einer anderen Zeit, in dem sich was entdecken lässt: auch über Hören und Nicht-hören.

Damit Leser, die den Film tatsächlich noch nicht kennen, eine Chance haben, hier kurz zum Inhalt: Der noch relativ junge Gehörlosenlehrer James Leeds übernimmt eine Klasse an einer Hörgeschädigten Schule in Maine. Er ist gut ausgebildet, und mit seinen unkonventionellen Methoden gelingt es ihm, einen Zugang zu den jugendlichen Schülern zu finden. Das ist nicht leicht. Denn was James sie lehrt, wollen sie eigentlich nicht lernen: lautsprachlich sprechen, so wie die Hörenden. James selbst spricht ihre Sprache, also Gebärden, ganz gut. Doch er tut alles, um die Schüler zum lautsprachlichen Sprechen zu ermutigen. Er lobt sie selbst dann, wenn sie ihn – verständlich artikuliert – „Arschloch“ oder „Schlappschwanz“ nennen. Und er verschafft ihnen Zugang zum Tanzen und Singen, lässt sie Spaß haben, vermittelt ihnen, selbstbewusst (und lautsprachlich) in die (hörende) Welt zu gehen. Dafür wird er von ihnen verehrt.

Illustration zu einem Artikel Beitrag über den Film „Gottes vergessene Kinder“ auf die-hörgräte.de

Und dann gibt es Sarah, eine junge, gehörlose Frau, die auch von klein auf die Schule besucht hat und nun als Putzfrau hier arbeitet. James verliebt sich in Sarah; sozusagen eine Aschenputtel-und-Prin-Geschichte. Der Prinz will das Aschenputtel erlösen: Er will der jungen, intelligenten Frau gleichfalls „das Sprechen“ (also Lautsprache) beibringen. – Nur will Sarah gar nicht „erlöst“ werden.

Die spannendste Figur des Films: Sarah

Ohne die Figur der Sarah wäre „Gottes vergessene Kinder“ niemals so ein Erfolg geworden. Sarah ist nicht nur intelligent und schön, sie ist stark, wütend und verletzt, in ihrer Sprache (also der Gebärdensprache) äußerst beredt, aufbrausend, raumfüllend. Zugleich ist sie distanziert, introvertiert, an sich selbst zweifelnd, einsam. Sie darf nicht die sein, die sie sein könnte und sein will. Sie kann die Fähigkeiten, die sie hat, nicht ausleben. Dass das so ist, liegt vor allem an Erfahrungen, die sie mit hörenden Menschen gemacht hat – nicht zuletzt an Erfahrungen mit Pädagogen wie James – auch wenn sie sich in den verliebt.

Mix aus Filmbildern aus „Gottes vergessenen Kindern“ und Gottesdarstellungen aus dem Deckengemälde der Sixitinischen Kapelle

Neben ihr sieht James oft etwas bieder, unbeholfen und „verunglückt“ aus. Dass nicht nur, weil er Sarah missversteht und sich einbildet, es würde etwas ändern, wenn er sie lehrt, mit dem Mund zu sprechen. Mitunter habe ich mich gefragt, ob er sie deshalb so bevormundet, weil sie gehörlos ist, oder weil es in den 1980ern generell noch normaler erschien, dass Männer Frauen klein machen, um sie besser beschützen zu können – was ja ungefähr heißt: Frauen nicht ernst nehmen.

In Drehbüchern kann man solche Widersprüche leichter auflösen als im Leben; deshalb gibt’s schließlich ein Happy-End – mit Kuss & Abspann. (Abgesehen davon sollen William Hurt und Marlee Matlin nach dem Dreh zu „Gottes vergessene Kinder“ eine Zeit lang ein Paar gewesen sein; das nur der Vollständigkeit halber.)

Marlee Matlin war 21, als sie Sarah spielte. Sie bekam für ihre Rolle den Oscar als beste Hauptdarstellerin. Bis heute ist sie die jüngste, die diesen Preis bekommen hat. In den USA wurde „Gottes vergessene Kinder“ erst durch Marlee Matlins Oscar zum Kassenschlager. Und sie ist wirklich gehörlos. Man stelle sich vor, sie wäre es nicht gewesen… Das hätte nicht funktioniert. So aber wurde Marlee Matlin die erste gehörlose Schauspielerin mit einem Oscar.

Erlösung durch Lautsprache – wo liegt das Problem?

Der Konflikt, den James und Sarah in „Gottes vergessene Kinder“ austragen, reicht weit zurück. Natürlich geht es darum, dass er sie ernst nehmen muss, auch ihre Grenzen. Mann + Frau und gleichzeitig Lehrer + Frau kann nur schief gehen. Aber da ist noch mehr:

Illustration zu einem Artikel Beitrag über den Film „Gottes vergessene Kinder“ auf die-hörgräte.de

Seit Ende des 18. Jahrhunderts haben Pädagogen darüber gestritten, mit welcher Sprache man gehörlose Kinder in die Gesellschaft integriert. Die einen wollten Gebärden. Die anderen wollten, dass die Kinder Lautsprache lernen, damit sie sich Hörenden mitteilen können, die nicht gebärden können, und dass diese Kinder einen besseren Zugang zur Schriftsprache finden. Schriftsprache ist wichtig. Beide Seiten wollten etwas Gutes. Heraus kam eher das Gegenteil.

Die Pädagogen beschlossen, die Gebärdensprache aus den Gehörlosenschulen zu verbannen. Bis auf wenige Ausnahmen wurde in der westlichen Welt nach 1880 nur noch nach der oralistische Methode (also in Lautsprache) unterrichtet. Gebärden – also oft die Muttersprache der Kinder – hatten in der Schule nichts verloren. Übte man Sprechen (so wie James im Film), wurden den Kindern die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Auch jeder andere Schulstoff wurde nicht mit Gebärden vermittelt, obwohl die Kinder ihn so leichter und besser verstanden hätten. Und beschlossen hatten all das hörende Pädagogen. Für gehörlose (also gebärdende) Pädagogen hatten die Schulen keine Verwendung mehr.

Diese Art der Pädagogik kam aus Deutschland. Sie hat auch die Schulen in den USA lange Zeit geprägt. In der Schule im Film ist es nicht mehr so streng. Es wird gebärdet. Und wenn James seinen Schülern Lautsprache vermittelt, fesselt er sie nicht, sondern tanzt mit ihnen herum (oder lässt sich „Arschloch“ rufen). Er macht alles, um die Schüler zu motivieren. Es ist dennoch ein ständiger K(r)ampf – mit mehr oder weniger Erfolg. Und die düstere Pädagogik ist keinesfalls vergessen. Anderswo gab es die auch 1986 noch. Und als vollwertige Sprache anerkannt war Gebärdensprache da immer noch nicht. Da waren die USA Vorreiter. Doch die erste wissenschaftliche Arbeit über eine nationale Gebärdensprache erschien auch dort erst 1960. Davor waren Gebärden irgendwas, aber kein Thema, mit dem sich Forscher ernsthaft beschäftigten.

Vergessene Kinder und „Deaf Rights“

Heute sind sich nahezu alle Fachleute einig, dass die Verbannung der Gebärdensprache aus der Schule ein großer Fehler war. Man nahm den gehörlosen Kindern die Muttersprache und zwang sie in die Lautsprache. Inzwischen werden gehörlose Schüler häufig in Gebärdensprache als Muttersprache unterrichtet, Lautsprache hingegen ist wie Fremdsprache. Es sei denn, ein gehörloses Kind hört mit dem Cochlea-Implantat. Dann erlernt es wie alle hörenden Kinder die Lautsprache, was das Erlernen der Gebärdensprache aber nicht ausschließt.

Illustration zu einem Artikel Beitrag über den Film „Gottes vergessene Kinder“ auf die-hörgräte.de

Mit der Etablierung der CI-Therapie war man 1986 noch nicht sehr weit. Als geburtstaube 21-jährige wäre Sarah für das CI auch kaum geeignet. Aber gerade in den USA war die Gebärdensprache stark auf dem Vormarsch. Gehörlose Menschen begannen, für ihre Rechte zu streiten. Schon in den 70ern entstand die „Deaf Rights“ Bewegung. In diesem Kontext steht auch der Film.

Interessant ist die Szene, in der James Sarah zur Party für eine gehörlose Universitätsdozentin begleitet: Auf der Party wird nur gebärdet und James fühlt sich ausgegrenzt, denn er versteht wenig – so wie sonst Sarah vieles nicht versteht. Plötzlich ist sie diejenige, die voll integriert ist. Sie ist begeistert von der Dozentin, einer Frau, die etwas erreicht hat, so wie Sarah gern was erreichen würde. James hingegen ist sauer und beide verlassen die Party früh. Was frisst ihn so an? Dass er mal nicht mitreden konnte? Dass Sarah von der Frau begeistert ist, die Karriere gemacht hat? Oder fürchtet er, dass ihn Sarah weniger braucht, als ihm lieb ist? Sieht er sich selbst in Frage gestellt – als männlicher Beschützer, als Gehörlosenpädagogen, beides?

Gottverlassen und ohne Worte?

Anders als spätere Filme, in denen nicht gehört wird, verzichtet „Gottes vergessene Kinder“ darauf, die hörenden Zuschauer akustisch in die Welt der Gehörlosen eintauchen zu lassen oder sie allein mit Gebärden zu konfrontieren (abgesehen von der Szene, in der Sarah und James tatsächlich tauchen). Wird gebärdet, wird alles, was der Zuschauer wissen muss, von den hörenden Akteuren nachgeplappert. Das wird also eher konventionell gelöst.

Mix aus Filmbildern aus „Gottes vergessenen Kindern“ und Gottesdarstellungen aus dem Deckengemälde der Sixitinischen Kapelle

Andererseits ist Sarah eine Figur, die so reich, komplex und strahlend ist… Mir fallen jüngere Filme ein, in denen gehörlose Figuren neben den hörenden eher simpel und blass angelegt wurden; und das, obwohl die Story den Gehörlosen mehr Raum geboten hätte.

Im Original heißt der Film „Children of a Lesser God“, also Kinder eines geringeren Gottes. Wie dieser Titel motivier ist, konnte ich nirgendwo finden. Vielleicht liefert das Theaterstück eine Erklärung, das dem Film zugrunde liegt und ebenso heißt. Sein Autor Mark Medoff hat auch das Drehbuch geschrieben. „Gottes vergessene Kinder“, also die deutsche Übersetzung des Titels, erscheint mir nicht weniger schwülstig, außerdem missverständlich: Geht es um Gottes Kinder, die man vergessen hat? Oder sind es Kinder, die Gott vergessen hat? Und warum überhaupt Kinder?

Ein Film ist das eine, wie er vermarktet wird, oft was anderes. Die ARD bewarb „Gottes vergessene Kinder“ kürzlich mit „Liebe ohne Worte“. Angesichts der Gebärdenflut, mit der Sarah den Lehrer James immer wieder an die Grenzen seiner sprachlichen Fähigkeit führt, ist dieser Aufmacher Blödsinn.

Mix aus Filmbildern aus „Gottes vergessenen Kindern“ und Gottesdarstellungen aus dem Deckengemälde der Sixitinischen Kapelle

PS 1: Die Fotos zum Beitrag über den Film „Gottes vergessene Kinder“ zeigen Filmbilder gemischt mit Bildern von Gott – aus dem Deckengemälde der Sixitinischen Kapelle, gemalt zwischen 1508 und 1512 von Michelangelo Buonarroti.

PS 2: Den Link zu einem Trailer von „Gottes vergessene Kinder“ stell ich hier auch noch rein.

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