Die weltweit erste Gehörlosenschule

Über Abbé de l'Epée, Aufklärer und Pionier der Gehörlosenpädagogik (Teil 2)
Buchstabe im Fingeralphabet aus Paul Hirsch, „Persönliches Erleben im gebärdlichen Ausdruck“ von 1926

Im letzten Artikel ging es um den Aufklärer Abbé de l’Epée, der von zwei armen, tauben Zwillingsschwestern lernte, dass Menschen ohne Gehör nicht dumm sind, wenn sie nur eine Sprache und ausreichend Bildung erhalten. Der Abbé hatte daraufhin begonnen, die beiden zu unterrichten und ihre Gesten und Gebärden zu einer deutlich komplexeren Sprache auszubauen. Und er hat dafür gesorgt, dass diese Sprache von vielen gelernt und dann genutzt werden kann – in der Gehörlosenschule.

Gehörlosenschule für alle

Seine Gehörlosenschule gründete der Abbé 1771, zwölf Jahre nachdem er den Zwillingen erstmals begegnet war. Erst hatte er begonnen, weitere taube Kinder aus den umliegenden Vierteln von der Straße zu holen und zu unterrichten. Nun aber gab es eine Schule – die erste öffentliche und vor allem kostenlose Schule, speziell für taube Kinder.

Finanziert hat der Abbé seine Schule mit eigenem Geld und mit Spenden. Es war ihm nicht nur wichtig, dass auch taube Kinder aus ärmlichen Verhältnissen kommen können. Er hatte die Schule für genau diese Kinder gegründet. Das entsprach seinem Glauben und auch den Grundsätzen der Aufklärung.

„Die Taubheit ist ein Elend, dem Personen jeden Standes und jedes Berufes verfallen sind“, so Abbé de l’Epée. „Wir haben unter unseren Schülern vornehme und reiche, aber auch arme und solche aus der Hefe des Volkes. Dass wir den ersteren alle Arten von Kenntnissen geben, die sie verstehen können, damit wird man wohl ohne Zweifel einverstanden sein. Nun wohl, so muss man, was man auch dazu sagen möge, dulden, dass die anderen sie in Gesellschaft mit erwerben können. Das ist umso gerechter, als die Reichen nur bei mir geduldet werden. Nicht ihnen, sondern den Armen habe ich mich gewidmet. Ohne diese würde ich niemals den Unterricht der Taubstummen übernommen haben. Die Reichen haben die Mittel, einen Lehrer für ihre Kinder zu suchen und zu bezahlen.“

Gute Christen und alte Vorurteile

Ziel des Abbé war es nicht nur, tauben Kindern eine Sprache zu lehren und ihnen dadurch den Zugang zu Bildung zu eröffnen. Er wollte sie auch zu guten Christen und zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft erziehen. Dazu gehörte, dass alle Schülerinnen und Schüler der Gehörlosenschule ein Handwerk erlernen. Mit Abschluss der Schule erlangten sie sogar einen höheren Status, als ihn viele Hörende zu dieser Zeit erlangen konnten.

Doch das kostete natürlich. Für seine Vision brauchte der Abbé reiche Gönner. Er musste nicht nur taube Kinder finden, die die Gehörlosenschule besuchen möchten. Er musste auch Leute mit Geld von dem überzeugen, was seine Schule für die Allgemeinheit tut. Wie gesagt, galten gehörlose Menschen in den Augen der meisten Hörenden damals nicht nur als „taubstumm“, sondern als dumm und nicht bildungsfähig.

Illustration zu einem Beitrag über die erste Gehörlosenschule der Welt auf die-hörgräte.de

„Die Taubstummheit stellte sich also den Augen als ein entsetzlicher Zustand dar und schien nach der Ordnung der Natur ein unheilbares Übel zu sein“, so der Abbé. „Wir wissen sogar durch einwandfreie Berichte, dass es noch jetzt barbarische Länder gibt, in denen man die Kinder, die weder hören noch sprechen können, tötet, weil man sie als ungeheuer ansieht.“

Mit den Ländern wird er sicherlich nicht Frankreich oder Deutschland gemeint haben. (Auch dazu demnächst noch mehr.) Klar war jedoch: Damit das Geld nicht ausgeht und die Gehörlosenschule fortbesteht, musste man aufklären – insbesondere die führenden Köpfen des Landes.

Der Unterricht als „PR-Event“

Diese Aufklärung gelang Abbé de l’Epée gemeinsam mit den Kindern und mit viel Enthusiasmus. Alle Schüler mussten regelmäßig Prüfungen ablegen, bei denen sie zeigten, was sie in der Gehörlosenschule gelernt hatten. Diese Prüfungen fanden nicht etwa hinter verschlossenen Türen statt. Sie waren öffentliche Veranstaltungen, die beworben wurden und bei denen feine Damen und Herren im Publikum saßen. Dass taube Kinder entgegen jeder Erwartung Erstaunliches wissen und leisten können, machte die Prüfungen zur Attraktion – und zu regelrechten „PR-Events“. Die Vorstellungen in den Köpfen wandelten sich grundlegend.

„Heute haben sich die Dinge geändert“, schrieb der Gründer der ersten öffentlichen Gehörlosenschule später. „Man hat mehrere Taubstumme sich in der Öffentlichkeit zeigen sehen. Die Prüfungen, die sie zu bestehen hatten, sind durch Programme angekündigt worden, welche die Aufmerksamkeit des Publikums erregt haben. Personen jeden Standes und jeden Ranges haben sich in Menge dazu eingefunden. Die Schüler sind umarmt worden, man hat ihnen Beifall gezollt, sie mit Lob überhäuft, sie mit Lorbeeren gekrönt. Die Kinder, die man bis dahin als Auswurf der Natur angesehen hatte, haben sich mehr ausgezeichnet und ihren Vätern und Müttern mehr Ehre gemacht als deren andere Kinder, die nicht imstande waren, gleiches zu leisten, und die darob erröten.“

Buchstabe im Fingeralphabet aus Paul Hirsch, „Persönliches Erleben im gebärdlichen Ausdruck“ von 1926

Es herrschte Aufbruchsstimmung. Die Zeitungen berichten – auch ausländische. Der Unterricht selbst fanden dann fast „ständig unter vornehmen Zeugen statt“. – Bei den Lehrveranstaltungen sah man „alle Tage Gelehrte verschiedener Länder und Personen höchsten Standes. Sogar einige unserer Fürsten haben sie mit ihrer Anwesenheit beehrt, und fremde Herrscher haben sich selbst davon überzeugen wollen, dass die öffentlichen Zeitungen sie nicht durch falsche Berichte getäuscht hatten.“

Auf einmal viel mehr Gehörlose?

Der Erfolg war riesig. Aus ganz Frankreich kamen bald taube Kinder in die Gehörlosenschule. Und der Fortbestand der Schule war gesichert. König Ludwig der XVI. persönlich spendete Räume und Geld.

Noch ein Erfolg war, dass Gehörlose nun viel stärker ins öffentliche Bewusstsein kamen. So, als gäbe es mit einem Mal viel mehr Gehörlose. – „Wenn es scheint, dass es heute mehr Taubstumme gibt als in früheren Zeiten, so kommt das daher, dass man bis auf unsere Tage die Kinder, die ohne die Fähigkeit zu hören und zu sprechen geboren wurden, von der menschlichen Gesellschaft fernhielt, weil ihr Unterricht immer als sehr schwer, in mancher Hinsicht sogar als unmöglich angesehen wurde“, so der Abbé. Zwar hätten Gelehrte auch früher schon gewusst, wie man diese Kinder fördern kann. „Aber die übrigen Menschen kamen gar nicht auf den Gedanken, dass man jemals dieses Werk versucht hatte, und noch weniger ahnten sie, dass es jemandem gelungen war.“

Buchstabe im Fingeralphabet aus Paul Hirsch, „Persönliches Erleben im gebärdlichen Ausdruck“ von 1926

Auch Taubheit selbst werde nunmehr anders erlebt. Denn es sei „gar nicht mehr die Rede davon, die Taubstummen gänzlich von der Welt abzuschließen. Die Taubheit, die man allein für das Los der Menschen erhielt, die, sich durch eine kleine Glocke bemerkbar machend, ihr Brot in den Straßen erbetteln, erscheint jetzt nur noch als eine jener körperlichen Hässlichkeiten, von denen auch die höchsten Stände nicht ausgenommen sind, und deren Nachteilen leicht abzuhelfen ist.“

Erste Gehörlosenschule und Revolution

Als der Abbé im Revolutionsjahr 1789 starb, hatte seine Schule 60 Schülerinnen und Schüler. Ihr Wissensstand war hoch. Bei der Kommunikation mit Hörenden blieben sie jedoch auf Hilfe angewiesen. Die Gehörlosenschule blieb erhalten. Aus der Privatschule wurde bald eine staatliche Schule. (Unter Napoleon wird sie später kaiserlich.) Der König wurde guillotiniert. Den Abbé hingegen ernannte die Nationalversammlung zum „Wohltäter der Menschheit“. Und den gehörlosen Bürgern wurden die Menschenrechte zuerkannt – wie hier beschrieben.

Die Ausrichtung der Schule änderte sich jedoch bald. Der Unterricht blieb nur teilweise kostenlos. Die Bildungsziele wurden zurückgefahren. Es lag nicht an den Schülern, sondern am Geld. Der Staat wollte sparen. Das war schon damals ein großes Thema …

Gebärdensprache oder doch Lautsprache?

Die Gehörlosenschule fand Nachahmer. In anderen Städten Europas entstanden „Taubstummenschulen“. über die Schule in Wien hatte ich hier schon geschrieben. Deutschland war ebenfalls früh dabei; insbesondere mit der Schule von Samuel Heinicke in Leipzig. (Darüber irgendwann mal mehr.)

Illustration zu einem Beitrag über die erste Gehörlosenschule der Welt auf die-hörgräte.de

Der Ansatz, gehörlosen Kindern Gebärdensprache als Muttersprache zu lehren, hatte in vielen Ländern starken Einfluss – etwa auch in den USA. Das ist gleichfalls ein Verdienst des Abbé. Auch wenn das System, das er entwickelt hatte, später durch bessere ersetzt wurde – erst durch ihn konnte sich Gebärdensprache zu einer richtigen Sprache entwickeln. Er hat den Gehörlosen Bildung ermöglicht. Und er hat ihnen geholfen, sichtbar zu werden.

Allerdings gab es auch Gegner der Gebärdensprache. Die hatte es schon zu Lebzeiten des Abbé gegeben – nicht unter den Gehörlosen, aber unter den Gelehrten. Wie gesagt: mit der Aufklärung begann das Zeitalter der Vernunft. Also stritten sich die Gelehrten, was vernünftig ist: Tauben Menschen eine eigene Sprache aus Gebärden zu geben, oder ihnen Lautsprache anzutrainieren, weil das hörende Menschen verstehen. Da schieden sich die Geister; und es wurde zum echten Problem. – Nicht für die streitenden Pädagogen, doch dafür umso mehr für diejenigen, die nicht hörten.

Illustration zu einem Beitrag über die erste Gehörlosenschule der Welt auf die-hörgräte.de

PS 1: Die Bilder zum Arikel über die erste öffentliche Gehörlosenschule zeigen weiße Wände und ein paar Buchstaben aus dem Fingeralphabet aus Paul Hirsch, „Persönliches Erleben im gebärdlichen Ausdruck“ von 1926.

PS 2: Für den Artikel über den Abbé de l’Epée habe ich insbesondere die „Geschichte der Sonderpädagogik“ von Sieglinde Luise Ellger-Rüttgardt genutzt.


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