Stumme, wilde Kinder? – Häufiger führe ich Interviews mit jungen Menschen, die taub sind und mit dem Cochlea-Implantat (CI) hören. (Ich habe sie hier schon als „Generation CI“ vorgestellt, weil sie zur ersten Generation gehören, die von Kindheit an mit dieser Innenohrprothese aufwachsen konnte.) Bei den Interviews erfahre ich ihre Geschichten und schreibe sie auf. Und ich stelle Fragen wie: Was glaubst du, wie dein Weg ohne das CI verlaufen wäre? Oder: Wie würdest du jetzt leben, wenn es kein CI gäbe? Solche Was-wäre-wenn-Fragen sind so eine Sache. (Man soll sich vorstellen, dass etwas nicht da ist, was immer da ist.)
Als ich das einmal 12-jährige CI-Träger fragte, wussten die tatsächlich nichts zu antworten. Aber junge Erwachsene mit CI haben sich die Frage (nach meiner Erfahrung) oft schon selbst gestellt. Neulich, als ich Tim interviewte, bekam ich eine Antwort, über die ich länger nachdachte; dann entstand dieser Artikel. Tim meinte, er sei froh, in einer Zeit zu leben, in der es das CI gibt, und nicht im Mittelalter: „Damals haben sie Kinder wie mich einfach im Wald ausgesetzt.“
Taube Kinder, die im Wald ausgesetzt wurden?
Ich hab hier schon geschrieben, welchen Stellenwert Hören und Sprache für die Entwicklung von Kindern haben, und dass die Leute früher oft nicht unterscheiden konnten, ob jemand taub oder geistig behindert ist. Wer keine Sprache hat, dem fehlt nicht nur die Verständigung mit anderen. Ihm fehlt auch das Material, mit dem man denkt und lernt.
Eine Sprache kann man auch dann haben, wenn man nicht hören kann. (Taube Menschen sind keinesfalls stumm bzw. taubstumm!) Im Blog findest du Artikel über Gebärdensprache und über das Verhältnis von hörender und nicht hörender Welt. Die erste Schule für sogenannte „Taubstumme“ wurde vor gerade mal 250 Jahren eröffnet. Und vorher? Hat man sich tauber Kinder einfach entledigt? Wie bei „Hänsel und Gretel“?
Bestimmt hat es so etwas gegeben. Menschen entledigen sich anderer Menschen, lassen sie wie einen Ballast zurück, vielleicht nur, um selbst zu überleben. Wie verbreitet es war, gehörlose Kinder im Wald auszusetzen? Dokumente darüber wird es kaum geben. Menschen, die am Rand bzw. außerhalb der Gesellschaft stehen, sind für Menschen innerhalb der Gesellschaft selten von Interesse. Es sei denn, sie bieten Anlass zu spektakulären Geschichten, zu wilden Phantasien, Mythen und Märchen. Oder sie erscheinen den gebildeten Leuten als eine Art Forschungsgegenstand.
Menschen, Tiere und wilde Kinder
Zur Zeit der Aufklärung – also der Zeit, in der auch die ersten „Taubstummen-Schulen“ entstanden – erwachte ein Interesse am „wilden Menschen“ (bzw. an „wilden Kindern“). Kinder, die ausgesetzt wurden, die wegliefen oder vergessen wurden, und die dann irgendwie allein in der Wildnis überlebten, hatte es schon immer und überall auf der Welt gegeben. In den Geschichten werden diese wilden Kinder oft von Tieren aufgezogen – meist von Wölfen, auch von Bären, Schafen, Schweinen, Affen…
Was von solchen Geschichten stimmt, ist schwer zu sagen. Schon in der Antike gab es Mythen wie den von Romulus und Remus, die am Tiber ausgesetzt und von einer Wölfin gesäugt wurden, um später Rom zu gründen. Auch Mowgli aus dem „Dschungelbuch“ geht auf solche Geschichten zurück. Der Autor Joseph Rudyard Kipling hat das Buch Ende des 19. Jahrhunderts in Indien verfasst; auch dort gab es damals aufsehenerregende Geschichten von wilden Kindern, die mit Wölfen gelebt haben sollen.
In der Aufklärung stellte man sich Fragen, die man sich so nie zuvor gestellt hatte: Was ist überhaupt ein Mensch? Was macht ihn aus? Was unterscheidet uns vom Tier? Vieles war noch völlig unklar. Man wusste zum Beispiel kaum etwas über Menschenaffen. War ein Orang-Utan ein Tier oder doch eine „Unterart“ Mensch? Das wurde heiß diskutiert. (Und diese Beschäftigung führte später zu grandiosen Dingen wie der Evolutionstheorie – aber auch zu Rassismus, Abwertung und Vernichtung von Menschen.) Und von wilden Kindern, die über Jahre von aller Welt verlassen bzw. nur mit den Waldtieren aufgewachsen waren, erhofften sich damals Forscher – Ärzte, Philosophen, Pädagogen – Antworten auf solche Fragen.
Wilde Kinder und gescheiterte Aufklärer
Doch die Kinder konnten den Aufklärern meist keine Antworten geben – zumindest keine Antworten, wie sie sich die Aufklärer versprochen hatten. Die meisten wilden Kinder blieben nämlich ohne Sprache (also tatsächlich stumm). Sie hatten die Zeit, in der ein Kind Sprache erlernt, versäumt, und das ließ sich nun nicht mehr nachholen. Oder ihre Möglichkeiten, sich sprachlich mitzuteilen, blieben sehr beschränkt. Und es misslang, die „wilden Kinder“ zu erziehen. Sie ließen sich nicht in die Gesellschaft einfügen. Sie blieben Außenseiter, und die Forscher verloren das Interesse.
Waren diese Kinder taub? Oft wurden sie für taub gehalten; schon weil stumm und taub in der allgemeinen Wahrnehmung eins war. Und festzustellen, ob ein Mensch taub ist, ist oft nicht einfach. Zumal bei Kindern; und dann noch bei Kindern, die sich in jeder Hinsicht anders benahmen, als man es gewohnt war: Sie waren nicht nur stumm und äußerlich völlig verwahrlost, wenn man sie aufspürte und einfing. Sie gingen nicht aufrecht, ertrugen weder Kleidung noch geschlossene Räume. Und sie lebten ganz auf sich selbst und auf den Augenblick fokussiert, auf die Befriedigung unmittelbarer Bedürfnisse. Vertrauen und Gefühle wie Mitleid oder Dankbarkeit hatten sie in der Wildnis ebenso wenig gelernt wie Gerechtigkeit oder Moral.
Manche sinnlichen Fähigkeiten hingegen – das zeigen die Untersuchungen der Aufklärer – waren bei diesen Kindern oft überdurchschnittlich gut ausgeprägt bzw. optimal angepasst an ihr Lebensumfeld. Beschrieben werden zum Beispiel ein extrem guter Geruchssinn oder auch eine Unempfindlichkeit gegenüber Schmerzen oder extremen Temperaturen. Kinder, die unter Fleischfressern gelebt hätten, hätten nur rohes Fleisch gegessen, andere nur Eicheln und Kastanien.
Wilde Kinder und Hörverlust?
Um zu überleben, können sich Menschen offensichtlich an ganz viele Dinge anpassen – wahrscheinlich auch mit dem Gehör. Von Kasper Hauser wird zum Beispiel berichtet, dass er Gespräche verfolgen konnte, die in sehr großer Entfernung geführt wurden. Und der „Wolfsjunge“ Victor von Aveyron, über den ich hier noch schreiben werde, soll ebenfalls leiseste Geräusche, etwa das Knacken einer Nuss, sehr gut gehört haben; viele wesentlich lautere Geräusche ignoriert er hingegen völlig.
Also waren die Kinder, die im Wald ausgesetzt wurden, doch nicht taub? Sicherlich wurden auch taube Kinder ausgesetzt. Aber die wenigsten der Kinder, die ausgesetzt wurden, werden das überhaupt längere Zeit überlebt haben. Und ob ihnen dort Tiere halfen? Oder wie das überhaupt möglich war? Und ob es möglich war, unter diesen Bedingungen zu überleben, wenn man auch noch einen Hörverlust hat? Die wilden Kinder gaben mehr Fragen als Antworten. Manche Aufklärer sagten dann, die Kinder seien gar keine „echten Wilden“, sondern einfach geistig behindert bzw. „nur schwachsinnig“. Spätere Forscher meinten, die Kinder seien fast ausnahmslos Autisten gewesen usw.
Ganz genau erfahren wird man es nie. Gegen die Annahme, dass man Kinder im Wald ausgesetzt hat, wenn sie nicht hören konnten, spricht aber auch noch etwas anderes: Auch heute dauert es mitunter Jahre, bis Eltern bemerken, dass ein Kind nicht bzw. schlecht hört. Zuverlässige Hördiagnostik für Babys und kleine Kinder gibt es noch nicht lang. Man hat also damals nicht einfach gewusst, dass ein Kind taub ist. Das sicher festzustellen, hat Monate oder Jahre gedauert. Vielleicht hat man gehofft, gebangt, gebetet. Wann hat man entschieden: „Nein, das wird jetzt doch nichts mehr. Dieses Kind wird niemals hören, und deshalb bringen wir es in den Wald“?
Es stimmt sicherlich, dass Menschen mit einer Behinderung in früheren Jahrhunderten oft ausgegrenzt wurden. (Abbé de L’Epée schreibt ja sogar davon, dass taubstumme Kinder getötet werden – allerdings in „barbarischen Ländern“, in denen sie „als Ungeheuer“ gelten würden.) Aber vielleicht ist das nur die eine Seite, mit der man früheren Jahrhunderten nicht voll gerecht wird. Andererseits war es damals viel selbstverständlicher, einen Menschen ins Arbeitsleben zu integrieren, der weniger intelligent oder in seiner Wahrnehmung eingeschränkt war – weil man jede Arbeitskraft brauchte und das Arbeitsleben längst nicht so spezialisiert war wie heute.
PS 1: Die Bilder über den Beitrag zu den stummen, wilden Kindern zeigen Wald (bzw. den Berliner Stadtforst).
PS 2: Für diesen und nachfolgende Artikel über die „wilden Kinder“ habe ich insbesondere P. J. Blumenthals Buch „Kasper Hausers Geschwister. Auf der Suche nach den wilden Menschen“ genutzt. Blumenthal hat rund 100 Berichte von „wilden Kindern“ gesammelt. (Wie der Verfasser mitunter über Menschen mit geistiger Behinderung oder auch über Menschen mit Autismus spricht, fand ich allerdings nicht akzeptabel. Mein Buch war antiquarisch und es gibt neuere Auflagen. Hoffe, das Lektorat hat sich das noch mal angesehen.)
PS 3: Gibt es heute noch Kinder, die mutterseelenallein im Wald ausgesetzt werden? – Kinder, denen jede Zuwendung vorenthalten wird, und die – wie die „wilden Kinder“ damals – ums Überleben kämpfen und verwahrlosen, gibt es durchaus. Ob kleine Arbeitssklaven, Kindersoldaten, Straßenkinder, Kinder, die irgendwohin abgeschoben, eingesperrt, verlassen werden… Auch in Deutschland gibt es die. „Eine Umwelt, die den reinen Materialismus als Tugend preist, entseelt nicht minder als Jahre unter den Wölfen“, schreibt P. J. Blumenthal.
2 Kommentare. Leave new
Die Lektüre hat mich auf folgenden Gedanken gebracht:
“Ausgesetzte” taube / hörbehinderte Kinder können auch ganz einfach verloren gegangen sein, wenn sie sich verirrt haben – denn das Rufen nach ihnen werden sie nicht gehört haben.
Danke, das ist sicherlich denkbar. Wobei das Rufen nach ihnen ja immer voraussetzt, dass sie jemand vermisst und sucht. VG Martin Schaarschmidt