Wie stellst du dir jemanden vor, der sich dir als Alpöhi vorstellt? Alpöhi lebt in Viernheim, heißt eigentlich Thomas M. Haase und ist 74. Ich werde ihn hier nur den Alpöhi nennen, weil er mir gesagt hat, dass ich ihn so nennen soll. (Auch wenn ich dabei etwas zögere, weil ich bei Alpöhi an Heidi und ihren Großvater denken muss; aber ich lebe ja nicht im Süden und habe keine Ahnung…) Bevor ich gleich noch mehr über den Alpöhi erzähle, klickst du am besten erst den Film an. Das gehört sozusagen zum Artikel. Warum, erkläre ich gleich.
„Musik ist für mich sehr wichtig“, versichert der Alpöhi bei unserem Interview-Termin. Der ist diesmal online. Alpöhi auf dem Bildschirm trägt seine Alltagstracht, hinter ihm hängen viele Bilder und im Schrank ist eine Sammlung mit Tabakspfeifen. „Ich bin leidenschaftlicher Trachtler und Musikant“, erklärt er mir, und dass er sich in der Tracht wohlfühlt.
Selbst zu einer Beerdigung würde er nichts anderes anziehen: „Da gehst du nie in Schwarz. Du trägst deine Festtracht. Wenn ich in meiner Tracht sitze und spiele und die Leute zuhören, und wenn ich ihnen dann sage, dass ich gehörlos bin, glauben sie es nicht: ‚Das kann nicht sein…‘ – So komme ich mit ihnen ins Gespräch. Es spricht sich rum. Und das ist es, was ich mit der Musik möchte – die Leute erreichen und zum Nachdenken anregen. Sie sollen stehen bleiben und meine Geschichte hören.“
„Es hieß immer nur, der Junge ist halt dumm.“
Die Geschichte beginnt in Alpöhis Kindheit und ist anfangs alles andere als glücklich: „1949, als ich sechs Monate alt war, bekam ich eine Meningitis, also Hirnhautentzündung. Meine Eltern waren für zwei Wochen im Urlaub und eine Oma hat mich betreut. Sie hat die Meningitis nicht erkannt. Dann wurde das mit Streptomycin behandelt; das war damals das Ur-Penicillin, noch in seiner reinen Form.“
Durch diese Behandlung ertaubt das linke Ohr des Kindes. Sein Hörnerv bleibt aber intakt. (Sonst hätte der Alpöhi später auf diesem Ohr kein Cochlea-Implantat bekommen können.) Mit dem rechten Ohr kann er als Kind noch gut hören. Aber er lernt erst mit sechs Jahren sprechen. Das Medikament hatte auch Teile des Gehirns beeinträchtigt und die Entwicklung des Jungen verzögert.
„Ich weiß, dass wir mal beim Arzt waren, der meiner Mutter erklärte: ‚Der Bur ist geistig stark beeinträchtigt, der wird wahrscheinlich mit 20 schon sterben.‘ – Dass ich schwerhörig bin, hat niemand erkannt. Es hieß immer nur: ‚Der Junge ist halt dumm, behindert.‘ Natürlich war ich behindert – durch die Schwerhörigkeit. Aber es gab keine Förderung und nichts. Ich kam auf die Sonderschule; damals hieß das noch Hilfsschule. Auch da bekam ich keine Förderung. Für mich gabs nur völlige Isolation. Wer nicht hören kann, der wird doppelt bestraft – durch die Unkenntnis und die Respektlosigkeit der Leute, durch ihre Ablehnung, durch ihre Ungeduld. Sie geben dir einfach nicht das Gefühl, ein Teil ihres Lebens zu sein.“
„Ich bekam so einen Zorn, dass ich sogar die Begabtenprüfung schaffte“
Auch seine Eltern hätten ihn abgelehnt, erzählt mir der Alpöhi: „Mein Vater hatte Philosophie studiert, war promoviert und in leitender Position beim Süddeutschen Rundfunk. Für meinen Vater existierte ich praktisch nicht. Wir wohnten zwar unterm gleichen Dach. Aber ein Gesprächspartner war ich für ihn nie.“
Nach der Hilfsschule kommt Alpöhi in eine so genannte betreuende Werkstatt und beginnt eine Malerlehre. – „Das war in Gaisbühl in Reutlingen. Die Werkstatt war für geistig Behinderte. Der Psychiater, der mich damals untersuchte, attestierte mir eine hochgradige geistige Behinderung. Jahre später hab ich ihn wiedergetroffen. Er wollte mir nicht glauben, dass ich derselbe bin.“
Weil es Probleme gibt, wechselt der Alpöhi die Lehrwerkstatt. – „Der Malermeister war ein Sadist. Doch ich kam zu einem anderen Lehrmeister. Der war sehr religiös und er war der erste, der an mich geglaubt hat. Er ließ mich den halben Tag arbeiten und schickte mich die andere Hälfte zum Unterricht. Meine Eltern hingegen verstanden nicht, was das soll. Sie trauten mir nichts zu. Doch genau das machte mich wütend und ehrgeizig. Ich bekam so einen Zorn, dass ich sogar die Begabtenprüfung schaffte und studieren durfte. Ich entschied mich für Philosophie.“
„Ernst Bloch war mein Ziehvater, doch mein leiblicher Vater hat mich nie akzeptiert.“
Als er 27 ist, hört der Alpöhi auch rechts immer weniger. Und er begreift, dass er links überhaupt nicht hört. Auch wenn man es sich kaum vorstellen kann: Bis dahin hatte niemand sein Gehör untersucht. Nun bekommt er zum ersten Mal ein Hörgerät. Und in Tübingen, wo er Philosophie studiert, trifft er wieder einen Menschen, der an ihn glaubt – den berühmten Philosophen Ernst Bloch.
„Sechs Jahre lang war Ernst Bloch mein Ziehvater. Mein leiblicher Vater hat mich auch jetzt nicht akzeptiert. Bloch und er kannten sich, doch sie waren nicht freundlich miteinander. Ernst Bloch hat ihm einen Brief über mich geschrieben, doch er hat das nur abgetan. Als ich eine Arbeit für mein Studium schrieb, meinte mein Vater, ich hätte das irgendwo abgekupfert… Meine Brüder und ich, wir haben unsere Mutter später immer geehrt. Aber über unseren Vater hat niemand ein Wort verloren, wenn wir zusammensaßen. Der war für uns alle wie Gift; eigentlich schade.“
Sein erstes Cochlea-Implantat bekommt der Alpöhi 2012 von Professor Peter Plinkert im Uniklinikum Heidelberg eingesetzt – auf dem rechten Ohr, das zuvor nie gehört hatte. – „Professor Plinkert kenne ich schon viele Jahre. Er hat sich sehr früh mit dem CI beschäftigt. Andere Fachleute meinten, bei mir hätte ein CI sowieso keinen Sinn, nachdem ich so lange nichts mehr gehört habe. Damals habe ich so schlecht gehört. Wenn ein anderer Zither-Spieler neben mir saß, konnte ich nicht mehr zwischen einem F und einem fis unterscheiden. Das ging erst wieder, als ich zwei CI hatte.“
Alpöhi und seine Cochlea-Implantate: „heute ist alles ganz anders“
Mit seinem CI hörte der Alpöhi bald so gut, dass er sich ein halbes Jahr später auch links implantieren ließ; diesmal von Dr. Jérôme Servais. Und dann hörte er besser als je zuvor: „Auch wenn ich unter Leuten sitze, bekomme ich das meiste mit. Ich bekomme nicht alles mit. Aber die anderen kriegen auch nicht immer alles mit. Eigentlich gibt es gar keine normal Hörenden. Ich sage immer: ‚Normal Hörend ist der, der sich einbildet, alles zu hören.‘ Aber das kann keiner.“
Heute kommt der Alpöhi schnell mit Leuten ins Gespräch: „Wenn man schwerhörig ist, fragt dich niemand, wie es dir geht. Die Leute bedauern dich. Aber sie nehmen dich nicht im Dialog wahr.“ Inzwischen seien sie anders zu ihm. Wenn er Zither spielt oder Maultrommel oder Mundharmonika, dann kommt er bald in Kontakt. Und dann glauben die Leute wieder nicht, dass er eigentlich taub ist, oder sie wünschen sich wieder, dass er auf der Zither das berühmte Harry-Lime-Thema aus „Der dritte Mann“ spielt.
Seit zwölf Jahren leitet der Alpöhi außerdem eine Selbsthilfegruppe für CI-Träger (kurz: SHG); und zwar die SHG Rhein-Neckar, die es schon seit 1998 gibt. – „Jemand hat mal über mich gesagt, ich sei der musikalische Selbsthilfegruppenleiter – also einer, der die Leute mit Musik einfängt. Leider läuft unsere Gruppe seit der Corona-Zeit nicht mehr so richtig. Aber ich mache viele Beratungen, treffe mich mit Leuten, um ihnen etwas über das Cochlea-Implantat zu erzählen.“
Ganz unterschiedliche Leute sind das – Erwachsene jeden Alters und auch Eltern gehörloser Kinder. – „Das alles kann man nur machen, wenn man eine gewisse Berufung spürt“, sagt der Alpöhi. „Ich erlebe, dass ich anderen damit etwas geben kann. Ich berate jemanden. Wochen später hat er auch ein CI und erzählt mir begeistert, dass er nun telefonieren kann. Sowas zeigt mir, dass es etwas gebracht hat.“
„Wenn ich meine Zither stimme, bin ich genauer als ein Messgerät“
Was bedeutet dir Zitherspielen und wie bist du überhaupt dazu gekommen? – „Musik bedeutet für mich einfach, dass es mir Freude macht. Aber einen richtigen Zither-Lehrer hatte ich nie. Die meisten Leute freuen sich darüber, wenn ich Zither spiele. In meiner Gruppe gibt es auch zwei, die sagen: ‚Fängt der schon wieder mit seiner Zither an?!‘ Auch das kann ich verstehen. Aber wenn ich spiele, bekomme ich mehr Aufmerksamkeit, als wenn ich nur erzähle oder Visitenkarten verteile. Der Eindruck ist anders, wenn ich spiele und dann erst verrate, dass ich taub bin. Und ich spiele überall. Jetzt spiele ich bei der Hauptversammlung der CI-Träger in Waldkirch. Am Wochenende war ich im Friedwald und hab am Grab meiner Mutter gespielt.“
Dass er auf beiden Seiten ein CI hat, ist dem Alpöhi beim Musizieren besonders wichtig: „Du kannst nicht Musik machen mit nur einem Ohr. Du brauchst beide. Hörst du einen Klang mit beiden Ohren, dann ist der vollumfänglich. Hörst du hingegen nur mit einem Ohr, ist das wie eine Wassersuppe – ohne Gewürz drin. Auch orientieren kann man sich mit einem Ohr kaum, und bei Gesprächen bekommt man vieles nicht mit. Doch wenn ich heute meine Zither stimme, dann bin ich genauer als ein Messgerät. Musikerkollegen, die gut hören, wundern sich immer, dass ich das mit dem CI so gut kann. Aber ich habe auch jahrelang trainiert. Auf der Zither kann ich bis zu sechs Töne gleichzeitig spielen – mit Begleitung und so. Ich höre, wenn einer dieser Töne nicht stimmt.“
Einmal hat ihm ein Professor erklärt, dass CI-Träger überhaupt keine Musik hören könnten – und auch nicht musizieren. Da hat der Alpöhi dem Professor aber vehement widersprochen und ihm dann was vorgespielt.
Und zweimal war Alpöhi zu einem Wettbewerb an der Musikakademie “Frederic Chopin“ in Warschau – einem, an dem nur Musiker mit Cochlea-Implantat teilnehmen. Dort waren auch Professoren und die baten den Alpöhi bei einem Experiment mitzumachen: Er saß auf einem Stuhl und links und rechts von ihm stand je ein Flügel. Einer klang perfekt und beim anderen waren zehn Töne verstimmt. Dann wurden die Flügel im Wechsel gespielt und der Alpöhi sollte sagen, wo was nicht stimmt. Er hat dann neun der zehn verstimmten Töne rausgehört, und die Professoren waren baff.
Zum Schluss seiner Geschichte verrät mir der Alpöhi noch, dass ihm der Herrgott gesagt hat, er würde noch eine Weile leben: „Aber er hat auch gesagt: ‚Bereite dich vor. Denn der alte Zitherspieler hier oben, der schon seit Millionen Jahren spielt, der wird langsam alt…‘ – Der Humor ist wichtig; auch damit man mit einer Taubheit umgehen kann. Selbstmitleid blockiert dich nur. Und die Hoffnungslosigkeit kann mit Hoffnung umgewandelt werden.“
PS 1: Die Fotos zum Beitrag zeigen eine Zither, die ich am Kongressabend vom Internationalen Kongress der Europäischen Union der Hörakustiker (EUHA) fotografiert habe. Leider war der Abend etwas wild, so dass die Zither dann gar nicht mehr gespielt wurde… Und ganz genau genommen ist auf den Bildern keine Zither, sondern ein Hackbrett, das aber auch eine Kastenzither ist. Wie gesagt, ich habe keine Ahnung. Und wenn du den Unterschied zwischen einer Zither und einem Hackbrett nicht kennst, dann lies am besten hier nach. Der Alpöhi spielt übrigens eine Alpenländische Zither und er hat mir erklärt, dass das was Besonderes ist.
PS 2: Übrigens, Fotos von Personen gibt es auf diesem Blog nie, höchstens Mal von historischen Personen. Wer wissen will, wie der Alpöhi aussieht, schaut am besten nochmal ins Video.