Von Eltern, Experten und hörgeschädigten Kindern

Aufwachsen mit eingeschränktem Gehör, Teil 3: Morag Clark
Kinder-Schaufensterpuppe

Im vorangegangenen Teil der Artikel-Serie über das Aufwachsen mit eingeschränktem Gehör ging es um Helen Keller und das Erlernen von Sprache. Beim Schreiben musste ich zwangsläufig an Morag Clark denken, mit der ich vor einigen Jahren ein langes Interview geführt habe. Nun kennt nicht jeder Morag Clark. Aber wenn es ums Aufwachsen mit eingeschränktem Gehör und um das Erlernen von Sprache geht, ist Dr. Morag Clark (1929-2019) bedeutend und wichtig.

„Hörgeschädigte Kinder wie jedes andere Kind behandeln.“

Morag Clark zählt zu den ganz großen Vorreiterinnen der Hörgeschädigten-Pädagogik und hat tausenden schwerhörigen Kindern überall auf der Welt Zugang zum Hören und zur gesprochenen Sprache eröffnet. (Sie wurde dafür sogar von Queen Elizabeth zum Member of the British Empire (MBE) ernannt.) Als ich ihr begegnete, war sie knapp 85. Eine kleine, eher unscheinbare und ein wenig zerstreute alte Dame, die aber immer noch tat, was sie ihr Leben lang getan hatte: durch die Welt reisen und sich um schwerhörige Kinder kümmern. Davon hat sie sehr lebendig berichtet. Und sie erschien mir wie eine Art wandelndes Geschichtsbuch. Sie wusste sehr viel darüber, wie sich der Umgang mit hörgeschädigten Kindern in den letzten 50, 60 Jahren verändert hat.

Morag Clark steht für einen Ansatz (bzw. für eine Lehre), den sie maßgeblich mitentwickelt hat: für den „Natürlichen Hörgerichteten Ansatz“. Wofür der steht, scheint ganz einfach: Eltern sollten „hörgeschädigte Kinder genau so behandeln, wie sie normal hörende Kinder behandeln würden“. Es geht nicht darum, wie man Kinder, die nicht hören können, erzieht oder therapiert. Es geht vor allem um die Frage, wie Eltern mit einem solchen Kind leben.

Was hörgeschädigte Kinder nicht machen können…

Schon die Art und Weise, wie Morag Clark zu ihrem Beruf (und ihrer Berufung) kam, finde ich bezeichnend: Sie wurde in Glasgow geboren und hatte während ihrer Kindheit überhaupt nichts mit Hörschädigung zu tun. Dann bewarb sie sich Ende der 50er Jahre als junge Frau für ein Studium der Hörgeschädigten-Pädagogik. Eigentlich interessierte sie das gar nicht. Sie trieb nur gern Sport und an der Uni, an der sie sich bewarb, gab es tolle Sportangebote. Als sie gefragt wurde, wie sie zu ihrem Studienwunsch gekommen sei, hat sie ehrlich geantwortet – und deshalb auch nicht damit gerechnet, angenommen zu werden. Man hat sie dennoch genommen. Und als sie wissen wollte warum, sagte man ihr: „Wir haben Sie angenommen, weil sie die einzige Bewerberin waren, die nicht wusste, was hörgeschädigte Kinder nicht machen können.“

Kinder-Schaufensterpuppe

Wie man mit hörgeschädigten Kindern damals umging, ist ein Thema für einen anderen Beitrag. Diese Antwort sagt aber schon viel: Wenn sowieso klar ist, was ein Kind nicht kann, dann nimmt man diesem Kind von vornherein jede Möglichkeit, zu zeigen, was es tatsächlich kann. Man nimmt ihm die Chance, sich nach eigenen Kräften und Möglichkeiten zu entwickeln. Und wenn z. B. ein Lehrer bzw. eine Lehrerin einem Kind so begegnen…

Sicherlich treffen Kinder, die mit einer Behinderung aufwachsen, mitunter auch heute noch auf voreingenommene Erwachsene. Morag Clark meinte jedoch, dass sich in den 50, 60 Jahren, in denen sie Hörgeschädigten-Pädagogik erlebt hat, sehr viel verändert hat. Zwischen damals und heute sei „ein riesengroßer Unterschied“. Grund dafür sei vor allem: die Technik.

Hören und Sprache mit Technik lernen

In den frühen 60er Jahren kamen die ersten Taschen-Hörgeräte auf den Markt. Bis dahin gab es für viele schwerhörige Menschen keinerlei technische Hilfe. Die kam in der Breite erst mit den Taschen-Hörgeräten. Und damit gab es – zumindest in den Industrieländern – auch für schwerhörige Kinder ganz neue Möglichkeiten, um gesprochene Sprache – die sie ja eigentlich nicht hören konnten – zu erlernen und mit dieser Sprache zu leben.

Kinder-Schaufensterpuppe

Doch dafür – so Morag Clark – musste man vor allem den Eltern dieser Kinder etwas beibringen. Die Eltern mussten lernen, „dass sie tatsächlich mit ihrem Kind sprechen können, weil das Kind eben wirklich Sprache erwerben kann.“

Wichtig sei dafür zum einen die Technik. Die muss optimal genutzt werden. Und man bekommt sie in reichen Ländern, in denen die Gesundheitskassen Hörgeräte oder Cochlea-Implantate (CI) finanzieren, natürlich viel leichter als in armen. Doch nicht weniger wichtig als die Technik seien die Eltern. Sie sind für das Kind verantwortlich – und nicht irgendwelche Fachleute. Therapeuten, Ärzte, Experten… hätten nur die Aufgabe zu vermitteln und den Eltern zu helfen, das eigene Kind noch besser wahrzunehmen.

Morag Clark: Eltern haben die Verantwortung – nicht die Experten

Oft – so meine Gesprächspartnerin – liefe es so: Wenn ein kleines Kind nicht hören kann, sind dessen Eltern sehr verunsichert. Dann gehen sie mit ihrem Kind zu den Experten. Die untersuchen und behandeln das Kind. Und die Eltern schauen sich genau an, wie die Experten das machen. Und dann beginnen die Eltern ihr Kind ebenfalls zu „behandeln“ – wie die Experten.

Doch Eltern, die ihre Verantwortung Ärzten oder Lehrern überlassen, würden keine eigene Verantwortung übernehmen. Dabei seien es doch die Eltern, die ihr Kind am besten kennen, die wissen, was es „aufhorchen lässt“.

Kinder-Schaufensterpuppe

Morag Clark, die in vielen Ländern der Welt mit hörgeschädigten Kindern und deren Eltern gearbeitet hatte, meinte, sie würde so was ständig erleben: Da fragten Eltern ein Kind zum Beispiel immer wieder, wie dieser oder jener Gegenstand heißt, und das Kind muss antworten – wie bei einem Vokabeltest. Sie erzählte von einer Mutter, die ihr Kind ständig fragte, wie sein Name ist… – „Eltern müssen sich auch darüber klar werden, was das Kind tatsächlich interessiert. Zu sagen, wie man heißt, ist nicht wirklich interessant. Also, wenn eine Mutter ihr Kind fragen muss, wie es heißt, dann hat das Kind das Recht, seine Mutter zu ignorieren.“

Es zählt Können – und nicht Nichtkönnen

Eltern sollten ganz normal mit ihren Kindern umgehen. Und Experten sollten sie dabei bestärken. „Sie sollen jedoch nicht länger die Experten sein, die den Eltern demonstrieren, wie sie mit ihrem Kind umzugehen haben“, so Morag Clark. „Hier in Deutschland gibt es Fachleute, die das nicht mögen.“

Ich denke, das ist ein entscheidender Punkt für alle Eltern, die ein Kind mit Behinderung haben: Dass man auf die Stärken und auf die Möglichkeiten seines Kindes vertraut und auf die eigene Beziehung zu ihm. Dass man nicht immer daran denkt, was ein Kind nicht kann. Und dass man sich nicht ständig „reinreden lässt“ – von Expertinnen und Experten, die zwar vielleicht jede Menge wissen, das Kind jedoch überhaupt nicht kennen.

Beim Ansatz von Morag Clark bedeutet das: Eltern sollen auf die kommunikativen Fähigkeiten ihres schwerhörigen Kindes vertrauen und sich als Familie stark machen. Sie sollen nicht wie Lehrer sein, die ständig Druck machen und Kinder andauernd testen. Und Eltern sollen einfach Eltern sein, gemeinsam mit dem Kind Erlebnisse und Spaß haben, dem Kind die Welt erklären, mit ihm kommunizieren. Eigentlich alles ganz einfach…

Kinder-Schaufensterpuppe

PS 1: Das Interview, aus dem ich hier zitiert habe, ist vor einigen Jahren in der Fachzeitschrift Hörgeschädigten-Pädagogik erschienen. Auf meiner Homepage habe ich es auch eingestellt.

Morag Clark

PS 2: Die Fotos zum Beitrag über das Aufwachsen mit eingeschränktem Gehör und Morag Clark zeigen Kinderschaufensterpuppen. – Abgesehen vom letzten Bild; das zeigt Morag Clark beim Interview-Termin (und die Hörgräte).

PS 3: Wer sich das Interview mal durchliest, der wird feststellen, dass sich Morag Clark gegen das Verwenden der Gebärdensprache ausspricht. Zu Gebärdensprache gab es schon mehrere Beiträge auf dem Blog. Hier nur so viel: In diesem Punkt stimme ich nicht mit Morag Clark überein. Zugleich denke ich jedoch, dass man ihrem Lebenswerk nicht gerecht wird, wenn man es auf die Ablehnung von Gebärdensprache reduziert. Deshalb schreibe ich das hier auch nur als Randbemerkung.


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