Vom Lichteinschalten

Über Aufklärung, nicht hören können und die Grenzen jeder Vernunft
Narrenturm auf dem Gelände des Alten Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien

Hinter der Ankündigung, „Ich muss dich jetzt mal über etwas aufklären…“, kann sich sonst was verbergen. In jedem Fall etwas, was mir bislang wohl nicht klar war. Das Aufklären, um das es hier geht – also die große Epoche der Aufklärung, die im 18. Jahrhundert von Europa aus in die Welt strahlte – funktionierte nach dem gleichen Prinzip. Und diese Aufklärung hatte auch mit dem Hören – oder besser gesagt mit dem Nicht-hören-können – zu tun; vor allem mit den Menschen, die nicht hören können.

Aufklärung: Endlich selbst denken!

Im Englischen heißt Aufklärung „Enlightment“, also sowas wie Erleuchtung. Damals wurde sozusagen das Licht eingeschaltet. (Besser gesagt, wurde es angezündet; einschalten konnte man Licht im 18. Jahrhundert noch nicht.) Bis dahin blieb es ziemlich finster: finsteres Mittelalter, dem es an Vernunft fehlte. Das sollte nun endlich vorbei sein.

Illustration zu einem Beitrag über Aufklärung, nicht hören können und die Grenzen jeder Vernunft auf die-hörgräte.de

Es hatte viel mit dem Einfluss zu tun, den die Religion bislang auf alles und jeden ausgeübt hatte. Die Aufklärung war nicht gegen Religion, aber sie trennte sie vom Staat. Sie verlagerte die Bildung von den Höfen in die Städte. Sie vertrat die Idee der Toleranz, brachte den Gedanken vom Weltbürgertum hervor und war für Freiheit. – Bürgerliche Freiheit, kirchliche Freiheit, Pressefreiheit usw. „Freiheit! Gleichheit! Brüderlichkeit!“ (Schwesterlichkeit war noch kein Thema.)

Ein Wahlspruch der Aufklärung lautete: „Sapere aude!“ Das ist Latein und bedeutet: Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – Bestimmung des Menschen soll es sein, Vernunft zu verbreiten, die Geister aufzuklären und die Tugend zu befördern. Das Glück der Gemeinschaft und jedes einzelnen liegt darin, menschlich zu sein.

Aufklärung: Kopf statt Kirche

Die Ziele der Aufklärung waren also vernünftig. Sie hat viel bewirkt – Gutes, mitunter auch weniger Gutes, weil bei aller Vernunft vieles noch gar nicht klar war, etwa, was mit „menschlich sein“ überhaupt gemeint ist. Oder auch, was ein Mensch ist und worin er sich von einem Tier unterscheidet.

Es ging immerhin darum, solche Dinge zu klären, sie nicht von Gott oder Kirche entscheiden zu lassen, sondern den eigenen Kopf zu bemühen. – Aufklärung bringt den „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“, hat der Aufklärer Immanuel Kant gesagt.

Narrenturm auf dem Gelände des Alten Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien (Detail)

Kant soll auch gesagt haben, dass nicht sehen können von den Dingen trennt und nicht hören können von den Menschen. Oder der Ausspruch stammt von Helen Keller; ganz klar ist das nicht. Auf jeden Fall brachte die Aufklärung auch Menschen, die nicht hören konnten, Veränderungen bzw. Freiheit.

Taub und stumm = dumm?

Freiheit ist auch so ein großes Wort… Verglichen mit den meisten anderen Menschen waren Menschen ohne Gehör damals alles andere als frei. Und sie waren ohne Sprache, also stumm. Natürlich konnten sie sich mit Zeichen und Gebärden bemerkbar machen. Das hatten Gehörlose schon immer getan; so wie es auch hörende Menschen schon getan hatten, bevor sie auf die Idee kamen, mit Mündern und Zungen immer noch komplexere, hörbare Sprachen hervorzubringen. Doch Gebärdensprache, die Gehörlose systematisch und schon im Kindesalter erlernen konnten, gab es nicht.

Gehörlose Menschen galten nicht nur als taubstumm, sondern auch als dumm. Das waren bzw. blieben sie oft auch. Wenn man keine Sprache hat, wie soll man dann Zugang zum Wissen bekommen – vor allem über das, was man nicht unmittelbar sehen und anfassen kann?! Womit soll man ohne

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Die Idee einer pädagogischen Förderung von Gehörlosen war zur Zeit der Aufklärung keinesfalls völlig neu. Adlige bzw. wohlhabende Familien, in denen ein gehörloses Kind lebte, konnten es sich leisten, spezielle Privatlehrer zu suchen, um dem Kind Zeichen, Gebärden oder auch Lautsprache beibringen zu lassen, und es so bestmöglich zu fördern. Der spanische Mönch Pedro Ponce de León zum Beispiel betrieb schon 200 Jahre vor der Aufklärung eine Schule für Gehörlose, in der er Kindern reicher Adelsfamilien Sprache, Rechnen, Lesen und andere Dinge beibrachte. Doch das waren absolute Ausnahmen.

Aufklärung, Gehörlosigkeit und „Idioten“

Noch etwas war den Gehörlosen immer versagt worden: die kirchlichen Sakramente. Was das in einer Welt bedeutete, in der nichts ohne die Kirche lief? Gehörlose waren kein Teil der Glaubensgemeinschaft und somit ganz vom Wohlwollen der hörenden Menschen abhängig, mit denen sie lebten. Sie waren weitgehend ohne Rechte. Sie hätten sich ja nicht einmal vor einem Gericht verteidigen können. Schwerverbrechern, Räubern und Mördern drohten nicht nur Folter oder Tod, sondern auch der Ausschluss aus den Sakramenten. Gehörlose bekamen diese gar nicht erst.

Narrenturm auf dem Gelände des Alten Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien (Detail)

Wer nicht hören und sprechen konnte, wurde ebenso ausgeschlossen wie „Narren“, „Schwachsinnige“, „Idioten“. Schon weil es in der allgemeinen Wahrnehmung gar keine Unterschiede gab. Worte wie das englische „deaf“ (taub) und das deutsche „doof“ haben den gleichen Ursprung, „taub“ heißt im Niederländischen „doof“ usw. Man sah keinen Unterschied zwischen gehörlos und geistig behindert.

Die Aufklärung ändert das. In Paris, der Hauptstadt der Aufklärung, werden im Zuge der Französischen Revolution allen Bürgern die Menschenrechte zuerkannt – auch den gehörlosen Bürgern. Sie bekamen damit eine Anerkennung, die ihnen die Kirche jahrhundertelang verwehrt hatte. Und auch geistig behinderte Menschen gewannen – im wahrsten Sinne des Wortes – mehr Freiheit. Es gibt ein bekanntes Gemälde des Malers Tony Robert-Fleury. Es zeigt, wie der Psychiater Philippe Pinel 1795 in der Pariser Anstalt Salpetriere die „Geisteskranken“ von den Ketten befreit, an denen man sie bislang „verwahrt“ hatte.

Die dunklen Blüten der Vernunft

Aufklärung brachte in vielerlei Hinsicht einen ersten, wichtigen Schritt: hin zur Entstigmatisierung von Gehörlosen und geistig Behinderten, hin zur modernen Psychiatrie und – wie ich hier noch schreiben will – hin zu Sprache und Bildung von gehörlosen bzw. stark schwerhörigen Kindern. Auch das machte die Welt vernünftiger.

Narrenturm auf dem Gelände des Alten Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien (Detail)

War die Welt von da an vernünftig? Davon auszugehen, dass ab sofort die Vernunft regiert, setzte voraus, dass man schon wusste, was vernünftig ist und was nicht. Wer weiß das schon?! Dass Vernunft immer begrenzt ist, wird sozusagen zur Kehrseite der Aufklärung, auf der wiederum finstere Blüten treiben – nicht zuletzt im Umgang mit tauben Menschen. Auch darüber demnächst noch mehr.

Illustration zu einem Beitrag über Aufklärung, nicht hören können und die Grenzen jeder Vernunft auf die-hörgräte.de

PS: Die lichten Fotos zum Artikel über die Aufklärung sind nicht in Paris aufgenommen, sondern auf dem Gelände des Alten Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien. Der „Narrenturm“ wurde 1784 als erste Psychiatrische Klinik Europas erbaut – im Auftrag von Kaiser Joseph II., der gemeinsam mit seiner Mutter Maria Theresia auch das Kaiserlich königliche Taubstummeninstitut einrichten ließ. Der Kaiser war kein Aufklärer, und der „Narrenturm“ sieht sicherlich nicht nach einem guten Ort für geistig behinderte Menschen aus; das war er auch nicht. Doch in der damaligen Zeit war er ein Fortschritt. (Eine „dunkle Blüte aufklärerischer Vernunft“ ist dieser Turm natürlich auch. Wer nach Wien kommt, kann ihn besuchen. In den einstigen Zellen ist heute das Museum des Pathologisch-anatomischen Institutes.)

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