Zwingend hören?

Warum ein CI-Zwang falsch und völlig unsinnig ist
Illustration zu einem Beitrag über CI-Zwang auf die-hörgräte.de

In meinem Artikel über die Generation CI hatte ich von jungen Menschen geschrieben, die mit einem „elektrischen Ohr“, dem Cochlea-Implantat (CI), aufgewachsen sind. Das hier ist ein Blog über das Hören mit und ohne Technik, ich stelle Möglichkeiten und Chancen moderner Hörtechnik vor, berichte von meinen Begegnungen mit Menschen, die mit solcher Technik leben und sie nicht missen möchten… Das CI ist für viele von ihnen eine großartige Sache. Zugleich finde ich das Thema, über das ich heute schreiben möchte, sehr wichtig: Es geht um CI-Zwang bzw. um die Tatsache, dass es falsch und völlig unsinnig wäre, Eltern dazu zu zwingen, ihr Kind mit einem Cochlea-Implantat versorgen zu lassen.

Der „Fall Braunschweig“

Vor Jahren ging ein Fall durch die Medien, der viel diskutiert wurde. Eltern hatten ihren anderthalbjährigen Jungen im Klinikum Braunschweig vorgestellt. Der Junge ist – ebenso wie seine Eltern – gehörlos. Ärzte hatten den Eltern eine CI-Operation empfohlen. Die Eltern hatten sich gegen die Operation entschieden. Daraufhin wandte sich die Klinik über einen Anwalt an das Jugendamt. Die Klinik warf den Eltern vor, das Wohl ihres Kindes zu vernachlässigen, wenn sie es nicht operieren lassen. Der Fall ging zum Familiengericht.

Schnecken-Plastik am Eingang des Cochlear Implant Centrums (CIC) „Wilhelm Hirte“ in Hannover

In den Medien äußerten sich dazu verschiedene Experten. Zum einen hieß es, eine frühzeitige Versorgung mit dem CI brächte dem Kind ganz andere, zusätzliche Chancen für sein Leben, und es sei Aufgabe der Eltern, das zu ermöglichen. Dem entgegen stand die Sicht der gehörlosen Eltern, die ihr Kind weder als behindert noch als krank ansahen. Von vernachlässigtem Kindeswohl könne deshalb gar keine Rede sein; vielmehr greife die Klinik in das verfassungsmäßige Recht der Eltern ein, erklärte der Anwalt der Familie. Scharfe Kritik gab es zudem vor allem von gehörlosen Menschen. Der Deutsche Gehörlosen-Bund kritisierte u. a. eine Sichtweise, die die positiven Aspekte des Lebens Gehörloser außer Acht lasse. Die in der CI-Implantation tätigen „sehen in der Gehörlosigkeit nicht selten etwas Negatives und Auszumerzendes“, so der Verband (in einer Stellungnahme von 2017).

Hören als Pflicht?

Als dieser Fall damals durch die Medien ging, habe ich ihn auch mit verschiedenen Leuten diskutiert. Für hörende Gesprächspartner lag die Sache oft völlig klar. Natürlich durfte man seinem Kind diese Technik nicht vorenthalten… Mir fiel ein Interview mit der Mutter eines damals sechsjährigen Mädchens ein, das mit zwei CI hörte. Die Frau selbst war nicht hörgeschädigt. Und sie erzählte mir, wie sie Wochen nach der Geburt ihrer Tochter erfahren hatte, dass das Mädchen taub ist. Es war ein Schock für sie. Im Gespräch war deutlich zu spüren, wie nah ihr dieses Erlebnis Jahre später noch ging. Und sie versicherte mir, sie hätte damals keinen Moment gezögert, als sie von der Möglichkeit einer CI-Implantation erfuhr. Ihre Tochter sollte nicht „behindert“ sondern „normal“ sein. Für sie als Hörende hieß das, das Mädchen sollte hören können.

Illustration zu einem Beitrag über CI-Zwang auf die-hörgräte.de

Aber wer entscheidet, was „normal“ ist? Und darf man gehörlose Eltern, für die ein Leben in der Welt der Stille und das Sprechen in der Gebärdensprache normal sind, dazu zwingen, die Dinge genauso zu sehen wie jemand, für den Hören die Normalität ist?

Urteil gegen den CI-Zwang

Nach über einem Jahr fällte das Familiengericht in Goslar Anfang 2019 sein Urteil: die Möglichkeit einer Operation obliege „allein der Entscheidungsfreiheit und Fürsorge der Eltern“. Sie könnten also nicht von der Klinik gezwungen werden, ihr Kind implantieren zu lassen.

Ich finde, dass das die absolut richtige Entscheidung war, und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen finde ich, dass der Staat (bzw. das Gericht) den Eltern einen solchen Schritt nicht vorschreiben darf. Der Staat hat das Recht und die Pflicht zu handeln, wenn ein Kind in seiner Familie misshandelt wird, wenn ihm lebenswichtige Behandlungen vorenthalten werden… Aber all das ist hier nicht der Fall. Die Eltern haben lediglich entschieden, dass das Kind gehörlos leben soll wie sie. Wer gibt Hörenden das Recht, von einem schon immer gehörlosen Menschen zu verlangen, er müsste Nicht-hören-können als genau so schlimm erleben wie sie?!

Aufwachsen und leben mit Hörtechnik

Ein zweiter Grund hat mit einem wichtigen Anliegen dieses Blogs zu tun: nämlich mit dem Leben mit Technik. Mir liegt daran zu zeigen, welche Chancen ein Leben mit moderner Hörtechnik eröffnen kann. Mir liegt aber auch daran, zu zeigen, dass das Leben mit dieser Technik eine komplexe Angelegenheit ist. Ein Hörgerät ist kein Küchengerät, das man benutzt oder wieder zurückschickt, wenn es nicht macht, was man will. Hören ist höchst individuell. Hörgeräte müssen an das Ohr angepasst, eingestellt, gepflegt und nachjustiert werden und man trägt sie täglich viele Stunden.

Schnecken-Plastik am Eingang des Cochlear Implant Centrums (CIC) „Wilhelm Hirte“ in Hannover

Und beim Cochlea-Implantat ist alles noch deutlich komplexer. Man trägt die Technik nicht nur an, sondern auch in sich. Rehabilitation und Training sind mitentscheidend für den Erfolg. Man braucht eine lebenslange Nachsorge. Es ist längst nicht damit getan, sich so ein Dings in den Kopf setzen zu lassen. Schon unter diesem Gesichtspunkt wäre es völlig sinnlos, Eltern gegen ihren Willen zu zwingen, ihr Kind implantieren zu lassen.

Im Artikel über die Generation CI hatte ich von den jungen CI-Trägern geschrieben, die mir in Interviews immer wieder erzählen, dass sie sich ein Leben ohne diese Technik nicht vorstellen könnten. Aber auch etwas anderes berichten sie immer wieder: Wie wichtig auf ihrem Weg mit dem CI die Unterstützung und die Förderung waren, ganz besonders die durch ihre Eltern.

Eine ethische Frage, die alle angeht

Letzten Endes geht es beim CI-Zwang um eine ethische Frage, auf die die Gesellschaft (und damit alle) Antwort geben muss. Diese Frage betrifft nicht nur Cochlea-Implantate, sondern ganz Vieles, was durch neue Technologien möglich wird. Wie weit geht man mit pränataler Diagnostik, mit Gentechnik, künstlicher Intelligenz…? Klar darf nicht einfach alles gemacht werden, was machbar ist. Genauso wenig macht es Sinn, alles zu verteufeln. Es braucht ethische Spielräume und Grenzen. Und wo die sind, können und sollten weder Politik noch Medizin oder Industrie allein entscheiden dürfen oder auch müssen. Jeder muss selbst entscheiden können, welche der neuen Möglichkeiten er nutzen will oder nicht.

Illustration zu einem Beitrag über CI-Zwang auf die-hörgräte.de

PS 1: Die Fotos zum Beitrag über CI-Zwang zeigen die Cochlea-Schnecken-Plastik am Eingang des Cochlear Implant Centrums (CIC) „Wilhelm Hirte“ in Hannover, und zwar unterschiedlich eingefärbt. Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre war das CIC das erste CI-Zentrum in Deutschland und Europa.

PS 2: Der „Fall Braunschweig“ diente kürzlich auch als Stoff für einen Spielfilm. Über den will ich auch noch schreiben.


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