Gestohlenes Ich

Über den Roman „Talk Talk“ des US-amerikanischen Autors T. C. Boyle
Illustrationen zu einem Artikel über den Roman „Talk Talk“ von T. C. Boyle

Der Roman „Talk Talk“ von T. C. Boyle beginnt mit einem ganz normalen, etwas hektischen Morgen im Leben der Lehrerin Dr. Dana Halter. Wenige Absätze später ist nichts mehr normal: Dana hat einen Zahnarzt-Termin, sie ist spät dran und überfährt ein Stoppschild. Ein Polizist hält sie an, überprüft ihre Personalien und schaltet plötzlich auf Rot: Dana Halter blickt in den Lauf seiner gezogenen Waffe. Sie wird festgesetzt. Handschellen werden ihr angelegt. Sie ist verhaftet; und sie versteht nichts: „Er war energisch, geradezu brutal gewesen und hatte ihr nichts erspart. Vielleicht hatte er ihr Fragen gestellt oder Anweisungen gegeben, vielleicht hatte er seinen Ton gemäßigt, doch sie hatte ihn weder hören noch sein Gesicht sehen können, und ihre Hände waren zusammengebunden wie gefangene Fische.“

Hörender Bestseller-Autor und gehörlose Hauptfigur

Dana, die bald darauf in einer Gefängniszelle hockt, versteht nicht nur nicht, als man sie zahlreicher Verbrechen bezichtigt, die sie nie begangen hat. Dana Halter verstehtüberhaupt nicht; denn sie kann nicht hören. Auch sprechen kann sie kaum. Ihre Sprache ist die Gebärdensprache. Und mit Handschellen ist sie zum Schweigen verurteilt – so, als hätte man sie obendrein geknebelt. Sie sitzt gefangen in einem Labyrinth aus Gesetzen und Maßnahmen, das so verworren und so mächtig ist, dass sie eigentlich nur noch hoffen kann – darauf, dass sich irgendwas klärt, dass irgendjemand ihr glaubt…

Der Roman „Talk Talk“ des US-amerikanischen Bestseller-Autors T. C. Boyle erschien 2006. Boyle ist sehr erfolgreich und er schreibt viel und schnell – mit gewissem literarischem Anspruch, und zugleich unterhaltsam, oft auch spannend. „Talk Talk“ ist ein bisschen wie ein Thriller (weshalb hier auch nicht viel verraten wird). Die Hauptfigur Dana Halter erinnert ein wenig an ihren Schöpfer.

Alte Abbildungen zum Erlernen des Mundabsehens

Wie der Autor hat sie Literatur studiert, sie hat promoviert und sie schreibt. Die Geschichte vom „wilden Kind“ Victor, an der Dana in „Talk Talk“ arbeitet, hat T. C. Boyle selbst geschrieben und einige Jahre nach „Talk Talk“ veröffentlicht. Andererseits ist T. C Boyle nicht gehörlos. Dana Halter hingegen ist als Kind postlingual ertaubt. – Das heißt, sie hatte vor ihrem Hörverlust bereits Lautsprache erlernt (und sie sagt im Buch, dass es für sie dadurch „tausendmal leichter sei, zu sprechen, zu lesen und in der Welt der Hörenden zu funktionieren“).

Sprache, Identität und das gestohlene Ich

Als gehörloses Kind hat Dana sowohl die Gebärdensprache gelernt, als auch – mit der sogenannten oralen Methode – Lautsprache sprechen geübt (diese gemischte Methode nennt man „totale Kommunikation“). Hörenden Gesprächspartnern sieht Dana vom Mund ab (was sehr anstrengend und nie eindeutig ist; mitunter kaut der andere nur Kaugummi…). Um ihre Sprechstimme in Form zu halten, besucht Dana alle sechs Monate eine Sprachtherapeutin und sie trainiert regelmäßig vor dem Spiegel. Doch ihre eigentliche Sprache sind Gebärden. Wenn Dana „in Gebärdensprache redete, starrte man sie immer an, offen oder verstohlen“.

Scham empfindet sie deshalb schon lange nicht mehr. Sie hat an der berühmten Gallaudet University in Washington studiert – an der ersten Universität für gehörlose und schwerhörige Studenten und der einzigen, deren gesamtes Programm speziell auf diese ausgerichtet ist. Und Dana hat dort den März 1988 miterlebt – als die Studenten für die erstmalige Ernennung eines gehörlosen Präsidenten auf die Straße gingen und „die Deaf-Power-Bewegung wirklich in Schwung kam“.

Illustrationen zu einem Artikel über den Roman „Talk Talk“ von T. C. Boyle

Hören mit einem CI will Dana Halter hingegen „auf keinen Fall“. Ihre Sprache; Kultur und Identität sind die eines Menschen ohne Gehör. Doch genau diese Identität – bzw. ein großes Stück von dem, was Dana Halter zu Dana Halter macht – wurde ihr von einem Unbekannten gestohlen.

Gehörlose Frau, hörender Mann und die Statistik

Für T. C. Boyle muss dieser Zusammenhang der Antrieb zum Schreiben von „Talk Talk“ gewesen sein: „Ich wurde zu Dana inspiriert, weil ich es faszinierend fand, in einem Buch über Identitätsdiebstahl und die Wurzeln der individuellen Identität eine ganz andere Kultur zu porträtieren, eine, die ihre Identität notwendigerweise noch stärker schützt als die der hörenden Kultur.“

Diese Faszination teilt der Autor mit der zweiten Hauptfigur von „Talk Talk“ – mit Bridger, Danas hörendem Freund. Erstmals begegnet ist Bridger Dana in einer Disco. Dort sah er sie tanzen: „Es war, als hörte sie einen tieferen Rhythmus, einen Gegenrhythmus, ein unter der Oberfläche der Musik verborgenes Muster, dessen sich niemand sonst bewusst war … Es faszinierte ihn. Sie faszinierte ihn. … Er hatte keine Ahnung, dass sie taub war. Denn er war ja auch taub – alle waren taub, jedenfalls bis die Lichter angingen und der DJ das Donnern verstummen ließ.“

Alte Abbildungen zum Erlernen des Mundabsehens

Bridger liebt Dana und steht ihr bei. Sie liebt ihn auch, hat jedoch keine Illusionen, was die Aussicht auf eine dauerhafte Beziehung betrifft; statistisch gesehen geht diese Aussicht gegen Null. Dana weist Bridger „nachdrücklich darauf hin, dass neunzig Prozent der Gehörlosen einen Partner unter ihresgleichen f(i)nden, und bei denen, die dennoch jemanden aus der Welt der Hörenden heirateten, war die Scheidungsrate atemberaubend hoch.“

„Talk Talk“ und die andere Perspektive

Dennoch sind Dana und Bridger zusammen. Bridger erlernt sogar ein wenig Gebärdensprache. Irgendwie kommunizieren sie, auch wenn er nie weiß, wieviel sie versteht. Bridger schmeißt sogar seinen Job, um Dana beizustehen. Gemeinsam gehen sie auf Jagd nach dem „gestohlenen Ich“.

Wie diese Jagd endet, wer gewinnt und was aus Dana und Bridger wird, erfährst du, wenn du „Talk Talk“ liest. Unterhaltsam und spannend ist der Roman allemal. Und was Dana Halters Gehörlosigkeit betrifft – T. C. Boyle, der beim Romane schreiben ständig neue Themen anpackt, hat gründlich recherchiert; so wie er das – laut eigener Aussage – immer macht: in Büchern und im Internet gelesen, die Gallaudet University besucht und dort Studenten getroffen, einen Bekannten befragt, der ertaubt ist und mit dem CI hört. Ein bisschen merkt man dem Buch diese Recherchearbeit auch an. Aber das muss kein Nachteil sein, weil man (als hörender Leser) erfährt, was der hörende Autor bei seinen Recherchen herausfand.

Illustrationen zu einem Artikel über den Roman „Talk Talk“ von T. C. Boyle

„Ich glaube, dass ein guter Romanautor in der Lage sein sollte, die Sichtweise eines jeden Menschen, egal welcher Kultur, darzustellen, und ich habe im Laufe meiner Karriere aus vielen Perspektiven geschrieben“, sagt T. C. Boyle. „Ich kann nur sagen, dass ich versuche, mich in die Sichtweise meiner Figuren hineinzuversetzen und ihre Version der Realität wiederzugeben.“

Ist es ein Problem, dass sich der hörende T. C. Boyle in die gehörlose Dana Halter hineinversetzt? Natürlich ist die Beschreibung eines Lebens ohne Gehör in „Talk Talk“ eine ganz andere als etwa in „Quallen haben keine Ohren“. Aber wo kämen wir hin, wenn Autoren nur aus ihrer eigenen Perspektive schreiben dürften?! Dann würden manche Perspektiven vielleicht niemals in Bücher kommen; schon gar nicht in einen Bestseller…

Alte Abbildungen zum Erlernen des Mundabsehens

PS 1: Die Zitate von T. C. Boyle zum Roman „Talk Talk“ stammen aus zwei Interviews, die ich hier und hier gefunden habe.

PS 2: Die Fotos zum Artikel über den Roman „Talk Talk“ zeigen eine alte Lerntafel aus einer „Taubstummenanstalt“. Mit den Abbildungen wurde das Mundabsehen erlernt.

Illustrationen zu einem Artikel über den Roman „Talk Talk“ von T. C. Boyle

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