Meeresruh

Vom Rauschen des Meeres, dem Ursprung des Hörens und dem großen Ganzen
Meeresrauschen und Meeresruh - Meereswellen

Meeresrauschen, Meeresstille, Meeresruh… – wer die Worte mal googelt, stößt auf jede Menge Angebote für Angenehmes: Urlaube und Klangkonserven mit entspannender Wirkung. Das Geräusch des Meeres, sein Rauschen, scheint uns gut zu tun. Rein klanglich ist es gar nicht so verschieden vom Geräusch einer Autobahn. Dennoch kommt niemand auf die Idee, Ferienhäuser mit Autobahnrauschen zu vermarkten: „Relaxen Sie bei den einzigartigen Geräuschen von A1, A2 und A3. Jetzt in einer liebevoll aufbereiteten Sonderedition!“ – Mit Autogeräuschen hatten wir uns hier schon beschäftigt. Höchste Zeit, mal der Meeresruh auf den Grund zu gehen.

Immer laut: das Meer, das Meer

Meeresruh gibt es eigentlich gar nicht. Das Meer ist nie ruhig. Es hört nicht auf, Geräusche zu machen. Das geht schon Millionen Jahre so. Wellen kommen und gehen. Sie machen Krach und klingen nie gleich. An einem weiten Sandstrand ist das Geräusch des Meeres völlig anders als an einer Steilküste. Auch unter Wasser ist es nicht still.

Meeresrauschen und Meeresruh - Meereswellen

Das Wort „Meeresruh“ scheint vor allem einen Zustand zu beschreiben, der in uns entsteht. Frage wäre dann nur, warum uns etwas nicht stört und warum es uns sogar entspannt, obwohl es laut ist.

Meeresruh und Ursprung

Unser Gehör kommt sozusagen aus dem Wasser. Unser erstes Hör-Erlebnis ist das Wasser. Das gilt für die Entwicklungsgeschichte des Menschen und auch für jeden einzelnen (Hörenden) von uns.

Der Komponist und Klangforscher Raymond Murray Schafer nennt das Wasser unsere „Ur-Soundscape“. Er vergleicht die Ozeane mit dem Fruchtwasser im Mutterleib: „Beide haben eine ähnliche chemische Zusammensetzung. Ozean und Mutter. In der dunklen ozeanischen Flüssigkeit drückten die unbarmherzigen Wassermassen auf das erste Schall wahrnehmende Organ. Das Ohr des Fötus wird vom Fruchtwasser umspült und so auf das Plätschern und Gurgeln des Wassers eingestimmt – zuerst auf die Unterwasserresonanz des Meeres, noch nicht auf das Plätschern der Wellen an der Wasseroberfläche.“

Meeresrauschen und Meeresruh - Meereswellen

Schafer beschreibt, wie wir als amphibische Wesen dem Meer entstiegen sind – umgeben vom Wellenschlagen. Und auch, wenn wir uns – entwicklungsgeschichtlich gesehen – weiter ins Landesinnere begeben und uns somit vom Meeresrauschen entfernt hätten – der ursprüngliche Zauber des Meeres sei uns immer geblieben – als innere Meeresruh.

Von Tropfen und Frequenzen

Das Branden und Auslaufen der Wellen ist etwas sehr Vertrautes und Gutes. Ein Auf und Ab, das anschwillt und wieder abklingt und doch niemals gleichförmig ist. Analysiert man dieses Rauschen, zeigt sich, dass alle Frequenzen – also das gesamte Frequenzspektrum – etwa gleichzeitig und mit gleicher Stärke zu hören sind.

Jedes andere Geräusch tritt dahinter zurück. Die „Meeresruh“ ist vergleichbar mit einem Weißen Rauschen, einem künstlich hergestellten Rauschen, das andere Klänge dämpft (so dass sie uns weniger wichtig erscheinen). „Jeder Tropfen klingt in einer anderen Tonhöhe, jede Welle legt einen anderen Filter über eine unerschöpfliche Fülle Weißen Rauschens“ (so Schafer).

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Die Klänge entstehen durch Bewegung. Das Wasser trifft aufeinander. Es schwappt über, verdrängt die Luft. Ohne Bewegung läge das Meer still wie Wasser in einem Glas.

Meeresruh = null Information

Auch wenn Menschen, die ausschließlich mit Technik hören (und daher vergleichen können), diese absolute Stille als etwas sehr Angenehmes beschreiben, Meeresruh ist diese Stille nicht mehr. Unsere Ohren (zumindest die meisten) sind eben nicht dafür gemacht, nichts zu hören.

Was uns beruhigt, ist eher eine aktive Stille. Eine, die uns das Gefühl gibt, dass wir da sind und alles läuft bzw. fließt, die aber sonst nichts bedeutet. Null Information. Nur die Intervalle, von denen wir wissen, dass sie nicht abreißen werden, solange wir leben (und hören). Also kommt da jetzt nichts, was uns bedroht oder anstrengt. Und darauf lässt sich unser Gehirn gerne ein. Es muss nicht denken. Es muss nicht mehr tun, als dieses Rauschen unterschwellig wahrzunehmen oder ganz auszublenden.

Ein Teil im großen Ganzen

Unterschwellig gibt uns das Geräusch des Wassers das Gefühl, Teil eines großen Ganzen zu sein. Das Schlagen der Wellen folgt einem Muster, das dem unserer Atmung und unseres Herzschlags entspricht. Hinzu kommen die Gezeiten der Meere, die mit Tag und Nacht zusammenhängen. Meeresruh ist etwas, was sich in den Tiefen unseres Bewusstseins einstellt. So ein glückliches Gefühl darüber, Teil dieser Welt und lebendig zu sein.

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„Wenn sie die Möglichkeit dazu hätten, würden vermutlich alle Menschen nahe am Wasser wohnen, Tag und Nacht in Hörweite seiner Regungen“, sagt R. Murray Schafer. Klanglich ist das Rauschen einer Autobahn zwar nicht so weit vom Meeresrauschen entfernt, es gibt Intervalle, die auf und absteigen, es gibt ein breites Spektrum an Frequenzen, es gibt keinerlei Information und es reißt (meist) nie ab. Dennoch sträubt sich das Gehirn, das Rauschen der Fahrzeuge als „Autobahnruh“ zu erleben oder entspannt darauf zu vertrauen, dass wir Teil eines großen Ganzen sind, in dem sich jeder mit x km/h von A nach B katapultieren kann.

Der Fotograf und das Meer

In meiner Arbeit interviewe ich ständig Menschen, die besondere Erfahrungen mit dem Hören haben. Über Meeresgeräusche habe ich vor einiger Zeit mit dem Kameramann und Fotografen Mike Gast gesprochen. Er wurde in Deutschland geboren, hat aber seine Kindheit auf Vancouver Island verbracht – also auf einer kanadischen Insel. Seine Muttersprache ist Englisch. Nach der High School und einem Kunst-Studium an der University of California wurde er Kameramann und hat 40 Jahre lang vor allem in Deutschland gearbeitet, Spielfilme und Fernsehspiele für ZDF, ARD und SAT.1 gedreht. Heute verbringt er seine Zeit vor allem als Fotograf – und vor allem am Meer, auf der Insel Rügen. Das Meeresrauschen – und überhaupt Geräusche – sind ihm bei dieser Arbeit sehr wichtig. Deshalb ist er auch sehr froh, dass er gute und vom Hörakustiker gut eingestellte Hörgeräte hat, denn sein natürliches Hörvermögen hat nachgelassen.

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„Wasser ist für mich faszinierend. Das Geräusch von Wasser gehört da unbedingt dazu“, hat er mir erklärt. Das käme auch daher, dass er auf dieser Insel aufgewachsen sei. „Das Meer kann sehr laut sein. Im Pazifik kommen die Wellen hoch und machen: Wummms!. Es gibt Strände, an denen es richtig zischt. Ich habe jahrelang in Kalifornien Wellenreiten gemacht. Diese riesigen Wellen machen unglaubliche Geräusche. Aber der Pazifik hat andere Wellen als der Atlantik oder die Elbe oder die Ostsee. Alle haben ihren eigenen Geräuschpegel. Wenn ich auf Rügen sehr früh morgens unterwegs bin, ist das Meer oft ganz leise. So, als käme es gerade aus dem Schlaf. Geräusche macht es auch dann.“ – Als Kind hätte er diese Geräusche noch mit seinem natürlichen Hörvermögen gehört. Und jetzt könne er das mit seinen Hörgeräten auch wieder.

Sich selbst erleben – ein Tag am Meer

Im Gespräch konnte Mike Gast das, was er hört, sehr genau beschreiben. Sicherlich hat er das auch als Kameramann über Jahre besonders trainiert – die Dinge, die er durch das Fenster der Kamera sieht, genau wahrzunehmen; und das auch mit den Ohren. Er hat mir Fotos vom Meer gezeigt und beschrieben, wie ihn Geräusche der Natur zu einem Motiv führen. Diese Art zu sehen und zu hören will er auch anderen vermitteln – und das nicht nur mit seinen Fotos.

Erzählt hat er mir von einem Erlebnis mit dem Schauspieler Klausjürgen Wussow, das ich hier noch einfüge, weil es zum Thema Meeresruh passt: „Wir waren zum Dreh in Mexiko, und ein Tag pro Woche war frei – meist der Sonntag“, so Mike Gast. „Ich hatte ein Auto, wollte an die Küste fahren, und Klaus fragte mich am Vorabend, ob er mitkommen darf. Also fuhren wir früh morgens an die Golfküste von Mexiko.“

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„Wir kamen an, ich parkte das Auto und wir gingen zum Strand runter. Dann sagte ich ihm: ‚Normaler Weise ziehe ich hier jetzt meine Klamotten aus und gehe nackt so eine Stunde; hier ist weit und breit kein Mensch.‘ Er sah mich erst an, dann zog er seine Hosen aus und wir sind eine Stunde lang nackt spazieren gegangen. Dann habe ich gesagt: ‚Klaus, geh jetzt mal ein bisschen im flachen Wasser, und setze deine Fußsohlen ganz behutsam.‘ – Das hat er dann gemacht, hat mich angeguckt und gemeint: ‚Das ist schön.‘ So ging das den ganzen Tag. Ich habe ihm Sachen gezeigt, die er nicht kannte. Am Abend sind wir zurück zum Hotel. Und als wir ausstiegen, meinte er zu mir: ‚Mike, vielen Dank, das war einer der schönsten Tage meines Lebens. Ich habe Dinge entdeckt, die ich zuvor nie erlebt hatte.‘ – Eigentlich sollte sich jeder Mensch auf solche Art selbst erleben können.“

Meeresrauschen und Meeresruh - Meereswellen

PS 1: Die Fotos zum Beitrag über die Meeresruh zeigen das Meer bzw. die Ostsee und den Atlantischen Ozean, außerdem die Hörgräte am Strand.

PS 2: Die Zitate von Raymond Murray Schafer stammen aus seinem Buch „Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens.“, Schott Music, 2010.

PS 3: Das vollständige Interview mit Mike Gast ist zuerst in der Fachzeitschrift „Audio Infos“ erschienen. Inzwischen findet man es aber u. a. auch hier.


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