Auf zum Trommelfell!

Die erste der drei Expeditionen ins Ohr, Distanz ca. 30 Millimeter
ein kleines Stück von einem alten, gusseisernen Kanaldeckel, vor allem ein Loch, durch das man ins Dunkel blicken kann

Jede Expedition braucht einen Ausgangspunkt. Man geht solange, wie man sich auskennt. Man kommt sozusagen an die eigene Grenze. Und ab der geht es erst richtig los. Man wechselt vom Bekannten ins Unbekannte. Sind – wie heute fast immer – Kameras da, hält man diesen Wechsel fest und macht einen bedeutenden Spruch wie: „Das ist jetzt zwar nur mein einer Fuß vor dem anderen, aber doch ein großer Schritt für die Menschheit usw.“

Liegt das Unbekannte unterirdisch, braucht man einen Einstieg. Am Anfang der Expedition steht hier in aller Regel ein schwarzes Loch. Das ist bei unserem Thema auch so.

Natürlich kennt jeder Ohren – große, kleine, spitze… Aber wenn vom Ohr die Rede ist, ist meist nur ein Teil von Ohr gemeint – die Ohrmuschel. Zum Beispiel würde niemand sagen: „Wasch dir deine Ohrmuschel!“, obwohl es beim Waschen von Ohren vor allem um die Muschel geht. Die Ohrmuschel ist also das Bekannte. Und das Unbekannte ist das, was im Kopf steckt und auch noch zum Ohr gehört. Und wer da hin will, muss in ein schwarzes Loch.

Über schwarze Löcher

Schwarze Löcher haben es bekanntlich in sich. Sie stehen im Verdacht, der Ursprung des Universums zu sein, und man vermutet, dass sie all das, was sie vor zich Millionen Jahren mal ausgespuckt haben, ohne Probleme wieder verschlucken könnten. Schwarze Löcher können Angst machen. Deshalb braucht man ein Herz am rechten Fleck, wenn man in sie hinein will.

Blick in ein rostiges, altes Rohr: innen ist es sehr dunkel und am Ende ein kleiner Lichtpunkt

Hinzu kommt eine andere Herausforderung: In unserem Fall ist das Loch sehr klein, zumindest in Relation zu uns. Wir könnten uns so weit schrumpfen, dass wir in dieses schwarze Ohrloch passen; aber auch das ist nur bedingt zielführend, wie wir im Laufe der Expedition feststellen werden. Damit wir das Ziel erreichen, sind weitergehende Verwandlungen erforderlich.

Optimal für jede Expedition ins Ohr ist eine Verwandlung in Schall und Rauch. (Den Rauch jetzt nur, weil es bei jeder Verwandlung irgendwie zischen und rauchen muss, damit man auch sieht, dass was abgeht.) Eigentlich werden wir zu Schall. Weil Schall ein bisschen sehr allgemein ist, nehmen wir mal an, dass wir ein gesprochenes Wort sind, zum Beispiel „Hallo“. Das ist für den Beginn einer Expedition optimal. Denn egal, ob man jemanden grüßen, ihn was fragen, ihm belangloses Zeug erzählen, ihm ein Auto verkaufen oder ihn später heiraten will; mit „Hallo“ ist man schon mal ganz gut dabei.

Nun aber endlich ins schwarze Loch! – Wenn du dir jetzt ausgemalt hast, dass du in das Loch kriechen sollst, in dem du dir jeden Morgen herum pulst, muss ich dich enttäuschen. Es geht hier um Interaktion (also um was mit anderen), und es wäre daher nicht zielführend, wenn du als „Hallo“ in dein eigenes Ohrloch kriechst. Also such dir irgendein anderes aus, nur nicht deins. Und nun der Schritt für die Menschheit…

Ist es dir eventuell unangenehm, dir vorzustellen, in irgendein fremdes Ohr rein zu müssen? Wenn ja, könnte ich das gut verstehen. Es könnte eklig sein, weil das Ohr ungewaschen sein kann und sowieso immer Zeug im Gehörgang hängt. – Ich finde, schon das Wort Ohrenschmalz ist für sich genommen eine eklige Angelegenheit, weil Schmalz sonst ja zum Essen ist. Man sieht daran, dass der Volksmund ein ziemliches Ferkel sein kann. Aber wir können das Zeug auch Cerumen nennen, dann klingt es fachlich-neutral.

Über Cerumen (Ohrenschmalz)

Ich glaub nicht, dass jemand Cerumen essen mag. Es ist definitiv nicht zum Verzehr geeignet. Es soll sogar giftig sein. Dennoch ist es nicht fair, so zu tun, als handle es sich um Dreck. Denn das Cerumen schützt das Gehör. Es kommt aus irgendwelchen kleinen Drüsen, und Käfer zum Beispiel mögen es überhaupt nicht. Für sie stinkt Cerumen wie die Pest, und daher kommen sie auch nie auf die Idee, uns in den Kopf zu krabbeln.

Blick in das Rohr einer Kartaune, altes Metall und ein schwarzes Loch

Wir hingegen haben als „Hallo“ keinerlei Probleme hier durch zu kommen. Wir sind unsichtbar, riechen nichts, müssen auch nichts betreten oder anfassen, sondern schwingen als Welle durch die Luft. Wir sind hoch oder tief, laut oder leise und vielleicht noch vorn oder hinten betont. Je nachdem fallen die Wogen unserer unsichtbaren „Hallo-Welle“ anders aus. Und so werden wir von der Ohrmuschel aufgenommen, gebündelt und in den Gehörgang geschickt. Auch der Tunnel, durch den wir müssen, ist je nach Ohr anders. Gehörgänge sind einzigartige Dinger. Sie sind weiter oder enger, kürzer oder länger. Aber in aller Regel bleibt es in ihnen dunkel und auf halbem Weg gibt es einen Knick. Bis zu dem sind die Wände weich und fleischig, dahinter werden sie hart. Dann hast du schon Schädelknochen unter dir.

Nach ungefähr 25-30 Millimetern ist Schluss. Wir stehen vor einer Wand, dem Trommelfell. Wir haben das Ziel der ersten Etappe erreicht, und auch als sehr kleines Irgendwas kämen wir hier nicht mehr weiter. Aber als „Hallo“ gehst du fast überall durch.

PS: Die Fotos hier zeigen schwarze Löcher – und zwar eines in einem Kanaldeckel in Berlin-Oberschöneweide, eines in einem alten Berliner Rohrpostrohr und eines in einer Kartaune, die Kronprinz Friedrich Wilhelm seinem Vater (König Friedrich I.) zum Geburtstag geschenkt hat. (Den Begriff „Kartaune“ musste ich nachschauen. Ich würde zu einer Kartaune eher alte Kanone sagen, was vermutlich falsch ist. Aber ich würde mir ja auch nie eine Kartaune zum Geburtstag wünschen…)


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