Kavalierstart

Über Männer und Maschinen - und weiter über Lärm und Macht
Illustration zum Beitrag Kavalierstart

Im vorangegangenen Beitrag ging es um den Zusammenhang von Lärm und Macht, Göttern und Menschen. Und kurz gesagt, ging es darum, dass Menschen, die viel Krach machen, immer auch wie kleine Götter sind. Wer laut ist, bestimmt. Wenigstens für den Moment. Das ist dieser eine Augenblick, in dem sich alle umdrehen, um dich zu sehen: dich, den göttlichen Krachmacher. Dich der du so laut sein kannst, weil du z. B. diesen extra-affengeilen, alles übertönenden Motor dein Eigen nennst. Dich, der du mit diesem Ding röhren kannst, wie der tollste Hirsch in der Brunftzeit… Das wollen wir in diesem Hörgräten-Beitrag noch etwas vertiefen. Und mir fiel kein besseres bzw. vertiefenderes Beispiel ein als das: den Kavalierstart.

Kavalierstart – das Männer-Ding

Der Begriff erscheint mir schon ein bisschen old-fashioned. Dennoch weiß vermutlich jeder, was mit einem Kavalierstart (oder auch Kavaliersstart, Angeber- bzw. Ampelstart) gemeint ist. Ein absichtlich lautes, auffälliges, besonders schnelles Anfahren, bei dem die Reifen nach Möglichkeit ein bisschen durchdrehen und je nach Wetterlage sogar quietschen, bevor es los geht.

(Hintergrund-Info vom Auskenner: „Für einen Kavalierstart wird das Getriebe zuerst ausgekuppelt, dann die Drehzahl durch das Bedienen des Gaspedals kräftig nach oben getrieben (in den Bereich des maximalen Drehmoments), um anschließend zügig, etwa durch seitliches Abrutschen vom Kupplungspedal, wieder einzukuppeln.“, Quelle im PS 1.)

Illustration zum Beitrag Kavalierstart

Natürlich ist das ein „Männer-Ding“. Mann steht an der Ampel und wartet. Alle warten, dass es weiter geht. Alle sind konzentriert. Und genau in diesem Moment lässt Mann sie hören, was „in ihm steckt“, was er „unter der Haube hat“, was für ein „toller Tiger im Tank“ sitzt usw. Mann röhrt. Und nach so viel Wind muss dann natürlich was kommen. Wer einen Kavalierstart macht, muss die nächste rote Ampel mit klarem Vorsprung erreichen. Undenkbar, den Motor erst aufheulen und danach absaufen zu lassen. Totalversager. Rohrkrepierer.

Höflich sein und Sporen geben

Klar gibt es auch Frauen, die ein Auto derart anfahren können. Aber ich kann mich an keine erinnern, die ich dabei erlebt hätte. Kavalierstarter waren immer Männer. Es gibt keine Kavalierin. Ein Kavalier ist ein Mann; so einer, der der Frau die Tür aufhält, ihren Koffer trägt, sich zu benehmen weiß. (Auch das wirkt ein bisschen old-fashion; aber irgendwie mag ich das Wort und das, wofür es steht.)

Kavalier kommt eigentlich vom französischen “chevalier”. Der Chevalier war ein berittener Soldat. Und auch den Chevaliers- bzw. Kavalierstart gab es zu seiner Zeit schon. Man gab seinem Pferd die Sporen, und zwar so, dass es spektakulär aussah und vermutlich auch klang (und für das Pferd wohl nicht gerade angenehm war, aber welches Pferd spricht schon darüber…). Das Pferd wieherte. Jeder dachte sich: „Was für ein toller Chevalier!“ bzw. „Was für ein lächerlicher Angeber!“ Und dann stürmten Reiter und Pferd auf und davon.

Motorensound und Sex

Natürlich ist das alles ziemlich albern. Wer lässt sich heute noch von einem Typen beeindrucken, der sein Auto aufdreht?! Man schüttelt den Kopf, tippt sich an die Stirn, irgend so was. Rein rechnerisch ist es dämlich, einen Kavalierstart zu machen: erhöhter Gummiabrieb, eine erhebliche Belastung für alle kraftübertragenden Teile. Neben den Reifen bekommen auch die Kupplung und das Getriebe was ab, wenn sie das immer wieder über sich ergehen lassen müssen. Röhren kostet also extra. Man muss es sich leisten können. Mit stärkerer Motorisierung gelingt ein Kavalierstart übrigens wesentlich einfacher. (Lächerlich so was!)

Plastik von Max Esser 1938/39

Dennoch verrät das Beispiel etwas über das Verhältnis von Menschen zu ihren Maschinen. Ein Auto ist eben viel mehr, als von A nach B zu kommen. Es spricht zwar vieles dafür, dass sich das Verhältnis zum Auto gerade wandelt. Aber für viele ist Auto immer noch mehr als Mobilität. Die Maschine ist ein Stück eigener Starke. Der Motor ist ein Teil von mir. Er macht mich potent. Motoren sind Sex. Motorensound ist Macht und Sex. (Und er wird deshalb auch bewusst designt, was ein anderes Thema ist.)

Bist du schon mal auf einer Auto-Messe gewesen? Es gibt vermutlich kaum eine andere Branche, in der es so viel sexistische Werbung gibt, wie in der Automobilbranche.

Kavalierstart und Elektroauto

Interessant finde ich, darüber nachzudenken, wie sich das Verhältnis zum Auto ändert, wenn bei diesem Auto kein Kavalierstart mehr möglich ist. Ein Elektroauto heult nicht mehr auf. Ist es denkbar, das Autos allein durch diese klangliche Veränderung einen Teil ihrer Bedeutung verlieren? Dass sie dann zwar immer noch Transportmittel sind, dass ihnen jedoch etwas von ihrer sonstigen Attraktivität verloren geht?

Skulptur von Max Esser, 1938/39

Was bedeutet es für einen klassischen Kavalierstarter, wenn er sich klanglich so gar nicht mehr mit seinem Auto hervortun kann? Schließlich will er ja gehört werden. Irgendwie wollen wir ja alle ständig gehört werden. Schreiende Babys, röhrende Autofahrer, bloggende Blogger, alle…

Leise Kanonen

In diesem Zusammenhang noch mal ein Zitat des Hörforschers R. Murray Schafer: „Lärm ist ein bedeutender Erreger von Aufmerksamkeit und die Industrialisierung wäre wohl nicht so erfolgreich ausgefallen, wenn man leise Maschinen entwickelt hätte. Zugespitzt formuliert, könnte man sagen: Wenn Kanonen leise wären, hätte man sie nie im Krieg eingesetzt.“

Eine interessante Überlegung. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob er hier Recht hat. Zumindest den letzten Satz finde ich aus heutiger Sicht überzogen. Es gibt moderne Waffensysteme, die nahezu lautlos töten. Drohnen werden über große Distanzen gesteuert. Krieg scheint pures Hightech. Mitunter entsteht der Eindruck, er sei eine Art Computerspiel. Nur noch Zahlenreihen und Pixel auf einem Monitor. Nur ausgelöschte Datenpunkte und alles sauber und leise. Eine wahnwitzige, menschenverachtende Illusion, die nicht zuletzt dadurch entsteht, dass die martialischen, grausamen Klänge des Krieges ausgeblendet wurden.

Illustration zum Beitrag Kavalierstart

PS 1: Die Erklärungen zum Begriff Kavalierstart habe ich in einem Beitrag der Autorevue Online gefunden. Die weist übrigens auch darauf hin, dass ein Angeberstart rechtliche Konsequenzen haben kann. Zwar sei das Durchdrehen lassen von Autoreifen zulässig. Der § 102 KFG (vierter Absatz) untersage jedoch die Erzeugung von “ungebührlichem Lärm, … Rauch, … sowie schädlichen Luftverunreinigungen” durch den unsachgemäßen Betrieb eines Autos. Besonders teuer könnte es werden, wenn beim Start Steine aufgewirbelt werden, die Fußgänger und andere Fahrzeuge „beschädigen“; und falls sogar ein Unfall entsteht, gilt das Ganze als „grob fahrlässig“ und die Versicherung zahlt nicht…

PS 2: Das Zitat von R. Murray Schafers stammt erneut aus „Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens“, erschienen 2010 in SCHOTT-Musikverlag.

Skulptur von Max Esser

PS 3: Der Hörgräte hat im Netz noch folgende, alternative Antwort auf die Frage, was ein Kavalierstart ist, gefunden: 1. Aussteigen. 2. Beifahrertür öffnen. 3. Der Dame beim Einsteigen helfen. 4. Die Tür “butterweich” schließen. 5. Auf dem Fahrersitz Platz nehmen, Motor starten, Small-Talk betreiben und losfahren. (Danke dafür an joschi67.)

PS 4: Die Fotos aus unserem Beitrag zeigen Männer und ihre Maschinen – zwei vom Bildhauer Max Esser 1938/39 geschaffene Skulpturen an der früheren Nordkurve AVUS (Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße) in Berlin, die die Rennfahrer Ernst Henne (auf BMW) und Ewald Kluge (auf DKW) zeigen.


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