
In meinem Beruf begegne ich ständig Menschen, die schlecht hören. Sie leben deshalb mit Hörtechnik – insbesondere mit Hörgeräten und Cochlea-Implantaten. Ich treffe diese Menschen zum Interview-Termin oder interviewe sie vom Büro aus oder recherchiere. Dann schreibe ich ihre Geschichten – als Interview, als Reportage oder noch anders. Die ersten Geschichten habe ich vor etwa 25 Jahren geschrieben. Wie viele folgten, weiß ich nicht, weil ich sie nicht gezählt habe. Hundert waren es bestimmt. Mich fasziniert, dass ich dennoch nie denke: Das kennst du schon alles?! – Das liegt weniger daran, dass sich die Hörtechnik in den 25 so verändert hat – obwohl sie sich sehr verändert hat. Viel spannender finde ich jedoch die immer neuen Geschichten von denjenigen, die die Technik nutzen. – Zum Beispiel die Geschichte vom Indie-Sänger SIVU. Der ist (noch) kein Star, den jeder kennt; aber für die Geschichte ist das nicht entscheidend.
SIVU und der Traum von der ganz großen Bühne
Dass er Sänger werden und auf der Bühne stehen wollte, wusste SIVU schon früh. Eigentlich heißt SIVU James Page. Er ist in einer kleinen Küstenstadt in der englischen Grafschaft Cornwall aufgewachsen und begann mit 14 Jahren Gitarre zu spielen. Zwei Jahre später schrieb er erste eigene Songs, dachte sich passende Melodien aus, die er sang und mit Akustik-Gitarre begleitete. – „Ich habe schon früh sehr ernsthaft gearbeitet“, erinnert sich SIVU. „Mein Opa, mit dem ich aufwuchs, war Sinatra-Fan, und er spielte zu Hause immer dessen Musik. Also begann ich auch Songs zu schreiben. Als Teenager gründete ich immer neue, schreckliche Bands…“
Songs schreiben, so SIVU, sei für ihn schon bald eine ihm eigene Art zu kommunizieren gewesen: „Das kam so aus mir. Es fühlte sich einfach sehr natürlich an. Später wurde es für mich das Größte, meine Musik zu veröffentlichen. Es gibt nichts Schöneres als ein Album aufzunehmen und es dann erstmals selbst in den Händen zu halten. Zu erleben, dass andere Menschen die eigene Musik hören, ist die größte Belohnung.“

Ein Erfolg, der sich für SIVU schon früh einstellte. Mit Mitte 20 hat er sich einen Ruf als talentierter junger Sänger und Songschreiber erarbeitet: Auftritte im Radio sowie auf großen Musikfestivals, erste Singles erscheinen. Nebenher jobbt er noch im Callcenter oder als Schuhverkäufer. Aber er wird von einer Agentur betreut. Die vertritt sogar Nick Cave. Über die Agentur bekommt SIVU seinen ersten großen Plattenvertrag.
SIVU: „Ich war fertig und merkte, dass was nicht stimmt.“
Sogar der „Guardian“ lobte SIVUs „eigenwilligen Indie-Sound“ und seine sensiblen Texte, die „nicht gerade dem Typ Liam Gallagher“ entsprächen. – Was die Zeitung da jedoch noch nicht wusste: Etwa zur gleichen Zeit erkrankte SIVU an Morbus Menière. (Was das für eine Krankheit ist, hatte ich hier schon geschrieben.)
“Ich erinnere mich an meinen ersten Schub“, so SIVU. „Ich erwachte, der Raum um mich her drehte sich nur noch und in meinen Ohren klingelte es. Das kam wie aus dem Nichts. Es war schrecklich. Ich verlor mein Gehör, vor allem auf dem rechten Ohr. Alles klang, als wäre es unter Wasser. Und mir schien es, als würde sich die Tür zu etwas schließen, das ich liebte. Ich fühlte mich völlig hilflos.”

Anfangs verdrängt SIVU diese Erlebnisse: „Es ging mir wieder gut. Mein erstes Album kam heraus. Ich ging auf Tour und habe mich nicht wirklich um meine Gesundheit gekümmert. Als ich nach sechs Wochen zurückkam, war ich müde und ziemlich fertig. Und ich merkte, dass etwas mit meinem Gehör nicht stimmt. Die Akkorde auf der Gitarre klangen nicht wie gewohnt. Meine Krankheit wurde schlimmer. Ich hatte über mehrere Wochen Schwindelattacken. Mein Gehör ließ sehr nach. Der Hörverlust dehnte sich auch auf mein linkes Ohr aus, das mein bevorzugtes Ohr ist.“
Alles andere als sweet: „Süße, süße Stille…“
Für SIVU begann eine schwierige Zeit. Er muss kürzertreten, aber er gab nicht auf: „Ich arbeitete an meiner zweiten Platte und konzentrierte mich zugleich sehr auf mein nachlassendes Gehör.“
2017 präsentiert er nicht nur sein zweites Album. Er macht darauf auch seinen Hörverlust öffentlich. In seinen Songs setzt er sich mit seiner Krankheit auseinander. Er singt von der „süßen Stille, die wächst“, ohne sich von ihr erdrücken zu lassen.
Auch in einigen deutschen Medien wird das Album gelobt. Der Achtungserfolg kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass SIVU immer wieder an die Grenzen der eigenen Hörfähigkeit stößt: “In einer Phase, in der mein Gehör wirklich schlecht war, habe ich mich selbst beim Singen aufgenommen“, erinnert sich SIVU. „Ich fand meinen Gesang in Ordnung. Aber als ich mir die Aufnahme Wochen später erneut anhörte und es meinem Gehör wieder mal etwas besser ging, klang das alles völlig verstimmt. Das war das Schlimmste!” – Dann erklärt er sogar, dass die aktuelle Platte aufgrund seines Hörverlustes die letzte gewesen sein könnte. Dabei ist SIVU gerade mal 29.
Sänger SIVU: mit Hörgeräten „zurück in meine Musik gefunden“
In den folgenden Jahren wurde es tatsächlich still um SIVU. Er veröffentlichte keine neuen Songs. Studioproduktionen schienen ebenso unmöglich wie Live-Auftritte. Dann aber bekommt SIVU Hörgeräte. Und auch über die spricht er öffentlich. Ein YouTube-Video zeigt, wie er die Geräte erstmals erlebt. Er sitzt in einem Akustik-Raum, in dem die Technik für seinen Hörverlust eingestellt wird. Dann lauscht er konzentriert und ist zugleich sichtlich gerührt: „Das ist unglaublich; so ein Unterschied. Es klingt so gut, Wahnsinn!“

Mit den Hörgeräten sei das Tonstudio endlich kein Ort mehr, der ihn klein und ängstlich mache, so SIVU: „Weil sich meine Hörfähigkeit so drastisch verringerte, änderte sich auch die Art und Weise, wie ich Musik hörte. Die Dinge klangen nicht mehr gleich. Ich zweifelte ständig an mir. Meine Gitarre, deren Klang mir allgegenwärtig ist, klang plötzlich nicht mehr richtig. So etwas erschüttert das Selbstvertrauen. Es machte mich bei jedem Auftritt ängstlich und nervös. Doch durch die Hörgeräte habe ich meine Sicherheit wieder. Dafür bin ich wirklich dankbar. Wenn ich hohe Töne singe, kann ich sie lauter regeln, ohne dafür auch die Bässe verstärken zu müssen. Ich habe wieder eine erstaunliche Klarheit und vor allem das Gefühl, meinem Gehör wieder vertrauen zu können.“
Die neue Technik – so SIVU weiter – hätte ihn komplett verändert: „Meine Hörfähigkeit schwankt täglich. An manchen Tagen betrat ich den Probenraum und stellte fest, dass ich heute keine Musik spielen kann. Aber jetzt geht es. Ich kann die Einstellung jederzeit ändern – je nachdem, wie meine Ohren sich fühlen. Das ist eine große Hilfe. Die Hörgeräte brachten mir sozusagen die Musik zurück. Bis dahin war mir gar nicht so klar, was mir fehlt. Wenn man etwas nicht mehr hört, kann man es auch nicht mehr erkennen – bis es einem zurückgebracht wird. Winzige Nuancen und Klangfarben, auf die ich mich nun wieder verlassen kann. Das hat mich selbstbewusster gemacht. Und ich höre Musik jetzt so, wie ich sie schon lange nicht mehr gehört habe.“

PS 1: Die Fotos zum Beitrag über SIVU sind eigentlich aus Versehen entstanden. Als ich nach Bildern für diesen Artikeln suchte, fand ich die ganz passend.
PS 2: Danach gefragt, was er anderen empfehlen würde, die wie er einen Hörverlust erleben, sagt SIVU: „Sie sollten zu einem Hörakustiker gehen und einen Hörtest machen. Ich selbst wusste anfangs nicht, was mir fehlt. Und ich habe lange gebraucht, um die Tatsache zuzulassen, dass es ein Hörverlust ist. Bis ich mich an den Gedanken gewöhnt hatte, Hörgeräte zu brauchen, war es definitiv eine lange Reise. Inzwischen kann ich mir das Leben ohne meine Hörgeräte überhaupt nicht mehr vorstellen. Ich kann nur jeden ermutigen. Ich selbst kann wieder in die Zukunft schauen. Und ich habe das Gefühl, ich bin zurück. Ich habe lange gebraucht, um diesen Punkt zu erreichen.“
PS 3: Die Geschichte von SIVU hatte ich schon vor längerer Zeit geschrieben. Doch kürzlich habe ich ihn zu einem Interview getroffen. Wahrscheinlich reiche ich das hier irgendwann noch nach.
