Von Bogengängen und Vorhofsäckchen

Wie der Gleichgewichtssinn arbeitet und was das bringt
Blick in einen alten, stillgelegten Eisenbahntunnel in den Ardenne

Es gibt Dinge, die fantastisch funktionieren, ohne dass man an sie denkt. Hören ist so ein Ding, das Gleichgewicht auch. Nimmt man die ganze Evolution, hat es ziemlich gedauert, bis Menschen aufrecht stehen und auf zwei Beinen gehen konnten. Wenn man sieht, wie kleine Kinder damit anfangen, ahnt man, wie herausfordernd das ist: Gleichgewicht ist ein schmaler Grad zwischen fallen und fallen. Wer die Balance nicht findet, der kann in zich Varianten zu Boden gehen. Und woandershin kommt er ohne ein Gleichgewicht nicht.

Gleichgewicht – eine Kopfsache

Über das Ohr als Sinnesorgan habe ich hier viel geschrieben. Genau genommen beherbergt das Ohr gleich zwei Sinnesorgane: eines zum Hören und eines fürs Gleichgewicht. Das Gleichgewichtsorgan ist Teil des Innenohrs. Neben der Hörschnecke sitzen drei ringförmige Kanäle, die Bogengänge. Diese Ringe haben einen Durchmesser von ungefähr sechs Millimetern und ihre Wände sind dünn. Unterhalb der Ringe sind zwei Vorhofsäckchen – also in jedem Ohr drei Ringe und zwei Säckchen. Alles ist mit Flüssigkeit gefüllt, und jeder Bogengang führt in eine kleine Höhle. Diese Höhlen heißen auch Ampullen, und in ihnen sitzen winzige Härchen. Die funktionieren ganz ähnlich wie die Sinneshärchen in der Hörschnecke.

Illustration zu einem Artikel über Gleichgewicht auf die-hörgräte.de

Wenn du deinen Kopf hebst oder drehst, dann bewegst du damit auch deine Innenohren und die Bogengänge und die Säckchen, die mit Flüssigkeit gefüllt sind. Mit jeder Bewegung bewegt sich auch diese Flüssigkeit, und die kleinen Härchen bewegen sich in ihr. – Die Härchen in der Hörschnecke bewegen sich ja auch in Flüssigkeit; dann gehen die Bewegungen der Härchen als Impulse an den Hörnerv und den Rest macht das Gehirn. Beim Gleichgewicht ist es ebenso: Härchen bewegen sich, der Nerv nimmt die Bewegung als Impuls auf und überträgt zum Gehirn. Nur ist die Flüssigkeit im Gleichgewichtsorgan etwas zähflüssig, sozusagen mehr Sirup als Wasser. Die Impulse kommen deshalb immer leicht verzögert an.

Wechselspiel der Sinne

Drei Bogengänge haben wir übrigens, weil sich der Kopf in drei Richtungen bewegen lässt: hoch-runter, rechts-links sowie hoch-runter und rechts-links, also zusammen. Jeder Bogengang ist für eine dieser Richtungen zuständig. In den Vorhofsäckchen läuft das ganz ähnlich ab wie in den Bogengängen: Auch in den Säckchen sind Härchen. Nur sind die etwas anders: Zwischen diesen Härchen sitzen Körnchen, die Ohrsteine. Die sind mikroskopisch klein und ungefähr wie Sandkörner, die sich in den Fasern eines Badetuchs festgesetzt haben, als man am Strand war.

Durch die Verbindung aus Härchen und Körnchen kann dein Gleichgewichtsorgan auch erfassen, wenn dein Kopf beschleunigt wird – also nicht durch deine eigene Kopfbewegung, sondern von außen: Der Fahrstuhl, in dem du stehst, fährt an, das Auto rollt mit dir los, das Flugzeug, in dem du sitzt, setzt zum Start an… Der Moment, in dem dein Kopf von Stillhalten in Beschleunigung übergeht, und ebenso der Moment, in dem dein Kopf anhält bzw. abgebremst wird – das alles wird von Härchen und Körnchen erfasst und weitergeleitet, vom Gehirn verarbeitet und dann an andere Sinne übertragen, die mit diesen Informationen was anfangen können. Die Augen (bzw. das Sehzentrum) zum Beispiel. Man weiß dann, ob der eigene Zug weiterfährt oder der auf dem Nachbargleis usw. Auch für den Körper sind die Informationen hilfreich. Er erfährt sozusagen, wo er im Raum seine Glieder, seine Gelenke und Muskeln hat. Es hilft ihm, das Gleichgewicht zu halten, sicher zu stehen oder zielgerichtet weiterzukommen.

Blick in einen U-Bahn Tunnel / Durchgang in der Londoner U-Bahn

Sind diese Informationen hingegen widersprüchlich, wird es schwierig. Mögliche Auslöser solcher Sinneswidersprüche gibt es etliche: eine Bootstour bei ordentlich Wellengang, zu viel Karussellfahren, Alkohol und andere Drogen… Dazu später mehr. Hier halten wir erst einmal fest, dass in deinen Gleichgewichtsorganen innerhalb weniger Millimeter fantastische Dinge ablaufen, wenn du den Kopf bewegst. Immer vorausgesetzt, du hast zwei Gleichgewichtsorgane und die sind voll funktionstüchtig.

Ohne Gleichgewicht wird’s übel

Was, wenn das Gleichgewichtsorgan nicht funktionstüchtig oder gar nicht vorhanden ist? Dann wird es – im wahrsten Sinne des Wortes – ziemlich übel. Es gibt Krankheiten, die das Gleichgewicht stören. Bei der Menière-Krankheit (auch Morbus Menière; der Name kommt von einem Pariser Ohrenarzt) staut sich Flüssigkeit im Innenohr. Das führt zu Schwindelanfällen, die plötzlich kommen und über Stunden bleiben. Wenn dir jemals richtig elendig schwindlig war, kannst du dir ausmalen, wie sich das Leben verändert, wenn dich diese Zustände jederzeit ausknocken können?

Illustration zu einem Artikel über Gleichgewicht auf die-hörgräte.de

Ich hatte mal ein Interview mit einem Musikprofessor mit Morbus Menière. Die Krankheit mindert auch die Hörfähigkeit. Und da der Professor in seinem Beruf auf gutes Hören angewiesen war, er auch selbst musizierte, war der Hörverlust für ihn schlimm. Doch das, was ihm am meisten zu schaffen machte, war der Verlust des Gleichgewichts und sein Schwindel.

Er versuchte, sich mit der Krankheit zu arrangieren. Vor den Studenten hielt er sie sogar geheim. Aber bei Schwindelattacken war er völlig machtlos. Der Raum begann sich zu drehen. Die Wahrnehmung spielte verrückt. Er musste sich übergeben. Über Stunden war an nichts anderes zu denken, als diesen Zustand zu überstehen. Wenn ihm das in der Uni passierte, verbarrikadierte er sich in seinem Arbeitszimmer. Er konnte nur abwarten, bis das vorbei war. Und er war froh, eine Sekretärin zu haben, die im Vorzimmer saß und alle Leute abwimmelte, die zu ihm wollten.

Blick in den Elbtunnel in Hamburg

PS: Die Fotos zum Artikel über das Gleichgewicht zeigen keine Bogengänge, sondern Tunnel, die ich in den Ardennen, in Berlin-Friedrichshagen, in Nürnberg und Hamburg sowie in der Londoner U-Bahn fotografiert habe.


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