Zwischen Fingeralphabet und Klarinette

Über den Film „Jenseits der Stille“ der Regisseurin Caroline Link
Eine Filmszene aus „Jenseits der Stille“ gemischt mit einer Klarinette

Das Leben ist kein Ponyhof. Und gefühlsbeladene Kinofilme zeigen uns, wie wunderbar das Leben ist: als Ponyhof. Das ist nicht gerade ein freundlicher Einstieg, um über den Film „Jenseits der Stille“ der deutschen Regisseurin Caroline Link zu schreiben, ihren Debütfilm von 1996, der von der Kritik hoch gelobt, mit Preisen überschüttet und sogar für den Oscar nominiert wurde. Geht es ums Hören und ums Nicht-Hören, ist er vermutlich einer der bekanntesten Filme überhaupt – zumindest in Deutschland, ein „Nicht-Hör-Film-Klassiker“ und eine Art Denkmal. All das auszublenden und „Jenseits der Stille“ fast 30 Jahre nach seinem Erscheinen möglichst unvoreingenommen zu sehen, ist nicht einfach. Dass „Jenseits der Stille“ besser als das allermeiste war, was deutscher Film und deutsche Filmförderung zu dieser Zeit in die Kinos brachten, steht ohnehin außer Frage. (1996 erschienen vor allem Komödien: „Männerpension“, „Das Superweib“, „Echte Kerle“, „Irren ist männlich“. Vermutlich nicht viel anders als heute – auch nicht allzu witzig, auch wenn die Witze damals noch andere waren.)

Eine Zeitkapsel und jede Menge Beziehungshickhack

Sich heute „Jenseits der Stille“ anzuschauen, ist auch wie ein Blick in eine Zeitkapsel: Was für eine Welt?! Keine allgemeine Krisenstimmung. Familie war noch der Ort aus Vater, Mutter, Kind, an dem fast jeder aufwuchs, an dem man sich geborgen fühlen und von dem man irgendwann nur noch abhauen konnte. Berlin war noch die coole Nachwende-City mit den brach liegenden Freiflächen, den Graffitiwänden und dem Freiraum für wilde Pläne und Partys. Lehrer waren noch besorgt, wenn ein Drittklässler nicht flüssig lesen konnte. Und wer die Aufnahmeprüfung für ein Klarinettenstudium bestand, konnte sich zu Recht Hoffnung auf einen späteren Beruf als Musiker machen… – War damals alles viel besser? Oder ist das auch nur der Film, der mit „wunderschöne(n) Bilder(n), hinreißende(n) Darsteller(n) und eine(r) erfrischend-bewegende(n) Geschichte“ beworben wurde?

Illustration zu einem Beitrag über den Film „Jenseits der Stille“ der Regisseurin Caroline Link auf die-hörgräte.de

Falls jemand den Film nicht kennt, hier die sehr verkürzte Handlung: „Jenseits der Stille“ erzählt die Geschichte von Lara, die als Tochter gehörloser Eltern in einer süddeutschen Kleinstadt lebt. Lara selbst kann hören. Und sie kann – wie ihre Eltern – gebärden. Die anderen in der Familie – ihre Großeltern, Tante, Onkel – können das (mehr oder weniger) nicht. Dann schenkt die Tante, die von der kleinen Lara bewundert wird, dem Mädchen ihre alte Klarinette. Lara entdeckt die Liebe zur Musik, und sie entfernt sich dadurch von ihren Eltern, die ihrerseits fürchten, die Bindung zu ihrem Kind zu verlieren…

Das ist nicht alles. Es gibt jede Menge Beziehungsgeflecht und Beziehungshickhack in Laras Familie: das Verhältnis der Großeltern zu ihrem Vater, das Verhältnis des Vaters zu seiner Schwester (der bewunderten Tante), das Verhältnis der Großeltern zur Tante, das Verhältnis der Tante zum Onkel… Lara bekommt eine kleine Schwester, sie zieht zu Hause aus, sie verliebt sich, sie verliert ihre Mutter durch einen Unfall. Hinzu kommen drei Zeitebenen: Lara in der 3. Klasse, Rückblenden in die Kindheit von Vater und Tante, Lara als 18-jährige Frau.

Coming of Age bzw. vom Erwachsenwerden

Eine Menge Stoff für 109 Minuten – und für reichlich Konflikte und große Gefühle. Andererseits ist klar, dass sich so viele vertrackte Beziehungen immer nur ansatzweise darstellen lassen. Und dass sich all diese Konflikte nur bewältigen lassen, indem man alles glücklich zusammenfügt (also wie beim „Duplo Ponyhof“). Genau das macht „Jenseits der Stille“. Der Film hatte vermutlich auch deshalb so großen Erfolg und man darf seine Figuren, deren Beziehungen und Handlungen nicht zu kritisch hinterfragen, weil die so erwachsene Lara und die so sehr mit ihren gekränkten kindlichen Egos beschäftigten Erwachsenen sonst schnell an Glaubwürdigkeit verlieren.

Eine Filmszene aus „Jenseits der Stille“ gemischt mit einer Klarinette

„Jenseits der Stille“ ist eben auch ein Unterhaltungsfilm. Und ein „Coming of Age-Film“. Also ein Film, in dem sich ein junger Mensch selbst findet. Wenn es in „Jenseits der Stille“ nur darum ginge, würde ich hier kein Wort über diesen Film verlieren. Aber er ist auch ein Film über Hören und Gehörlosigkeit – und als solcher immer noch bemerkenswert.

Die zweite Ebene des Films: Blick in eine andere Welt

Auch was das Nicht-Hören angeht, waren die 90er eine andere Zeit: Die Etablierung des Cochlea-Implantats (CI), das im Film keine Rolle spielt, hat gerade erst begonnen. Und die Gebärdensprache, mit der im Film ebenfalls gesprochen wird, ist in Deutschland noch nicht als rechtlich eigenständige Sprache anerkannt, das kam erst 2002 (§ 6 Behindertengleichstellungsgesetz, BGG). In Gehörlosenschulen wird tauben Kindern immer noch Lautsprache antrainiert, damit sie möglichst „normal“ sprechen können. (Das erwähnt auch der Gehörlosenlehrer Tom mit einer kleinen, eher abfälligen Bemerkung.) Andererseits spricht sich herum, dass auch taube Menschen Musik erleben können, sich Musik taktil und mit Gebärden erschließen und tanzen können. Es bewegt sich was für die Gehörlosen, die sich auch – wir sind in den 90ern – ein Stück Freiheit erkämpft haben.

Dass das überhaupt Gegenstand eines Films ist, dass diese andere, gehörlose Welt Gegenstand in einem Film wird, war ein großer Verdienst von „Jenseits der Stille“. – Und es ist der Grund für den Erfolg, den der Film unter Gehörlosen hatte. Da geht es vermutlich weniger um das, was die hörenden Zuschauer berührt: Also etwa um die Frage, wie Schnee klingt. Vielmehr geht es darum, überhaupt wahrgenommen zu werden – etwa in einem Gottesdienst, als eigenständige Community, als andere Welt. Das ist wichtig, weil es eine Form gesellschaftlicher Teilhabe ist. Deshalb war es vermutlich nicht einmal so wichtig, dass die (eigentlich nur zwei) gehörlosen Figuren des Films neben den Hörenden eher recht blass und schemenhaft wirken.

In damaligen Rezensionen kann man nachlesen, dass lobende Kritiker diese zweite Ebene der „Erwachsenwerden-Geschichte“ oft kaum beachtet und vielleicht auch nicht ganz ernst genommen haben: „Caroline Link findet für das Unverständnis zwischen Alt und Jung eine bezaubernd einfache Übersetzung für die Leinwand: Mutter Kai und Vater Martin können nicht hören.“ – Als wäre die Gehörlosigkeit nur eine Art Metapher für das Nichtverstehen zwischen Generationen.

Aufwachsen zwischen hörender und gehörloser Welt

Und es gibt noch mehr zu sagen über das Verhältnis von hörender und nicht hörender Welt in „Jenseits der Stille“: Der Film zeigt nicht nur, dass es zwei Welten gibt, sondern auch, dass es Kinder gibt, die zwischen diesen Welten aufwachsen, die beiden Welten zu einem Teil und keiner ganz angehören, die somit hin- und hergerissen sind.

Illustration zu einem Beitrag über den Film „Jenseits der Stille“ der Regisseurin Caroline Link auf die-hörgräte.de

Filmheldin Lara ist ein CODA, also ein Child of Deaf Adults. Der Begriff wurde 1983 in den USA geprägt und 1996 kannte ihn in Deutschland vermutlich kaum jemand. Was es bedeutet, ein CODA zu sein, zeigt der erste Teil des Films immer wieder: In der Schule ist Lara eine Außenseiterin, die von den anderen geschnitten und wegen ihrer gehörlosen Eltern verspottet wird. Die Möglichkeiten der Eltern, Lara in der Schule zu unterstützen, sind begrenzt; Schule scheint ihnen auch nicht so wichtig. Ihre – trotz allem erstaunlich selbstbewusste – Tochter hat für sie eine wichtige Funktion: Sie ist ihre Dolmetscherin, ihre Vermittlerin zwischen den Welten. Die Drittklässlerin übersetzt nicht nur das Fernsehprogramm, sie regelt (und manipuliert) die Telefonate mit den Großeltern, die Gespräche zwischen Eltern und Lehrern, zwischen Eltern und Kreditinstitut… Diese Szenen sind unterhaltsam, denn das Mädchen macht sich in ihnen „die Welt, wie sie ihm gefällt“. Und sie würden (außerhalb des Ponyhofs) nicht glücklich enden. Mit solchen Aufgaben sind CODAs im wirklichen Leben oft von früh an überfordert. Im wirklichen Leben würde das, was Lara hier tut, zuverlässig in Katastrophen führen – in immer neue, kleine und große.

Doch so weit lässt es „Jenseits der Stille“ nicht kommen; sonst wäre es ein anderer (und wohl weniger erfolgreicher) Film. Und das muss ja auch gar nicht sein.

Der Film ging Mitte der 90er dennoch sehr weit. Zum Thema Hören und Gehörlosigkeit wurde mit Sicherheit gründlich recherchiert. Das Thema wurde einem großen Publikum vorgestellt – verpackt in eine Geschichte, die vielen gefiel: Zwischen gehörloser und hörender Welt, zwischen Fingeralphabet und Klarinette findet Lara sich selbst und die Liebe zu Tom, der wie sie ein CODA ist. Auch über diese Beziehung erfahren wir wenig. Dass CODAs auf der Suche nach sich selbst anderen CODAs begegnen, ist naheliegend.

Eine Filmszene aus „Jenseits der Stille“ gemischt mit einer Klarinette

PS 1: Die Fotos zum Beitrag über den Film „Jenseits der Stille“ zeigen Filmszenen, gemischt mit Klarinetten und mit einem Fingeralphabet, das an einer Mauer klebt. Hier noch ein Trailer zu „Jenseits der Stille“.

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PS 2: Wenn du mehr über CODAs (bzw. Children of Deaf Adults) erfahren möchtest, empfehle ich dir hier eine sehr schöne Dokumentation.


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