Im ersten Teil der Artikel-Serie über das Gehirn und die Musik ging es vor allem um den Zusammenhang von Musik und Sprache sowie um deren gemeinsamen Ursprung in unseren Empfindungen. Dass zwischen Sprache und Musik Zusammenhänge bestehen, lässt sich vielfältig zeigen. Schlaganfall-Patienten zum Beispiel können oft keine Worte mehr sprechen. Leichter fällt es ihnen hingegen, Lieder, an die sie sich erinnern, mitzusingen. Die Melodie stützt die Sprache wie eine Art Skelett. Über die Melodien können viele Menschen nach einem Schlaganfall das Sprechen neu lernen. Also, was passiert, wenn Gehirnzellen bzw. Neuronen und Musik aufeinandertreffen?
Wissen und Kinderschuhe
Wenn Medien über Gehirne berichten, gewinnt man mitunter den Eindruck, da sei eigentlich alles klar und nur eine Frage der Zeit, bis wir diese Dinger nachbauen – mit künstlicher Intelligenz usw. Fragt man sich jedoch zum Beispiel, was bei Neuronen und Musik passiert, stellt man fest, dass es viel mehr Fragen als Antworten gibt. Die Forschung steckt noch in den Kinderschuhen. (Was ja bedeutet, dass sich die Forschung wie ein Kleinkind bewegt, das gerade seine ersten Schritte macht, und dabei ständig auf seinen windelgepolsterten Hintern plumpst.)
Was wissen die Forscher*innen von Musik und Neuronen? – Sie wissen zum Teil, in welchen Bereichen im Gehirn die Musik verarbeitet wird. Was sie noch gar nicht wissen (bzw. nur vermuten können) ist, wie und warum die Musik im Gehirn wirkt. Wie schafft es eine Musik, unsere Stimmung zu verändern? Zweifelsfrei erklären kann das niemand.
Deutlich besser erforscht als das Zusammenspiel von Hören bzw. Musik und Neuronen ist übrigens die visuelle Wahrnehmung. Man geht heute davon aus, dass viele Abläufe, die beim Hören im Gehirn vonstattengehen, ähnlich organisiert sind wie die Vorgänge beim Sehen.
Musiker, Musik und Neuronen
Mitte der 80er Jahre machten Forscher*innen eine Entdeckung, die lange nachwirkte: Sie stellten fest, dass Musiker Musik anders hören als Nicht-Musiker. Hören Musiker*innen konzentriert Musik, wird vor allem der linke Schläfenlappen (bzw. Temporallappen) aktiviert. Bei Laien hingegen ist der rechte Schläfenlappen aktiv.
Seit dieser Zeit bilden Neuronen und Musik ein neues Forschungsgebiet innerhalb der Neurowissenschaft (also der Wissenschaft, die sich mit Gehirn und Nervensystem beschäftigt). Forscher*innen aus Neuroanatomie, Psychologie, Computerwissenschaften, Musiktheorie… fragten sich: Wie wirkt Musik auf unsere Nervenzellen bzw. Neuronen?
Dabei war eines noch nicht entschieden: Werden immer nur diejenigen Musiker*innen, die mit dem linken Schläfenlappen Musik hören? Oder verändert sich das Gehirn durch die intensive Beschäftigung mit der Musik?
Neuroplastizität
Inzwischen weiß man sicher, dass Letzteres der Fall ist. Musik kann die Struktur von Gehirnen sowie deren Funktionen verändern. Wer etwa ein Musikinstrument lernt, organisiert damit sein Gehirn um. Diese Fähigkeit von Gehirnen nennt man Neuroplastizität. Sie ist eine großartige Sache, funktioniert in der Kindheit besonders gut und hält bis ins hohe Alter an.
Inzwischen ist belegt, dass ein statistischer Zusammenhang zwischen einer aktiven Beschäftigung mit Musik und einer dichteren Vernetzung der Neuronen besteht. Allerdings erreichst du die Verdichtung deines Neuronen-Netzwerkes nur dann, wenn du kompliziertere Musik hörst, bei der deine Neuronen tatsächlich gefordert werden. Das trifft auf ganz viele Arten von Musik zu. Nicht jedoch auf schlicht strukturierte Musik, die man so nebenbei hören kann oder auch nicht.
Musik im Gehirn beobachten
Aus dem Beschriebenen folgt, dass Musikerinnen und Musiker ideale Kandidaten für die Erforschung der Neuroplastizität sind. Das mit dem rechten und dem linken Schläfenlappen kann man – sehr vereinfacht – so erklären: Der Musiker hört die Musik ganz anders als der Laie. Er erlebt sie nicht einfach emotional, sondern er analysiert sie. Dadurch werden dann andere Hirnregionen aktiviert.
Zu beobachten, was da in den Hirnregionen vor sich geht, ist nicht so einfach. Man hat das an Gehirnen von Tieren beobachtet. Es gibt Musikstücke, die speziell für Katzen komponiert wurden usw.
Ein wichtiger Schritt war die Entwicklung bildgebender Verfahren, mit denen man die Gehirne durch Haut und Schädelknochen beobachten kann. So wurde es erstmals möglich, einzelnen Bereichen des menschlichen Gehirns bestimmte Funktionen zuzuweisen. Inzwischen kann man auch die Verläufe einzelner Nervenfasern nachverfolgen.
Messmethoden für Neuronen und Musik
Um Gehirne beim Musikhören zu beobachten, werden inzwischen mehrere Messmethoden genutzt:
Zum einen macht man EEG-Messung (Elektroenzephalografie). Dafür bekommt man eine Kappe mit vielen kleinen Elektroden auf den Kopf. Dann hört man die Musik, und währenddessen werden über die Elektroden die Hirnströme gemessen. Für jede Elektrode wird im Computer eine Kurve aufgezeichnet. Man sieht also genau, an welcher Stelle des Gehirns bei welchem Takt der Musik was passiert. Der Aufwand für diese Messungen ist verhältnismäßig gering. Im Konzerthaus in Berlin sitzen dann z. B. ganze Kita-Gruppen mit EEG-Hauben und hören Mozart.
Eine weitere gebräuchliche Methode, um Hören bzw. Musik und Neuronen zu beobachten, ist die MEG-Messung (Magnetenzephalographie). Das ist deutlich aufwändiger. Man bekommt einen „Helm“ auf den Kopf, an dem noch eine riesige Maschine hängt. Gemessen werden hier die Magnetfelder, die von den Hirnströmen erzeugt werden. Daraus entstehen bunte Bilder, auf denen Bereiche des Gehirns rot, gelb, grün oder blau leuchten, je nachdem, wie stark die Felder sind.
Inzwischen gibt es für Hirnmessungen sogar minimalinvasive Verfahren mit Mikroelektroden. Das heißt, man geht durch eine Mikrobohrung direkt ans Gehirn und muss nicht mehr durch Haut und Knochen hindurch messen. Auch hier erzeugt dann jede Mikroelektrode eine Kurve. (Soweit ich weiß, ist diese Methode bislang aber eher selten.)
PS: Die Fotos zum Artikel über Musik und Neuronen Zeigen die Hörgräte mit den MEG-Bildern von einem Musik-Laien- (li.) und einem Musiker-Gehirn (re.), außerdem Fotos aus dem Berliner Musikinstrumenten-Museum.