Marie begreift das Leben, die Liebe und den Tod

Über Marie Heurtin und den Film „Die Sprache des Herzens“ des Regisseurs Jean-Pierre Améris
Historische Aufnahme von Marie Heurtin und Schwester Marguerite, gemischt mit einer Filmszene aus „Die Sprache des Herzens“

Kinofilme, in denen es ums Hören oder vielmehr ums Nicht-hören-können geht, spielen oft mit großen Gefühlen. Schauspielen ist spielen – also ist „Spiel mit großen Gefühlen“ hier nicht zwangsläufig negativ gemeint. Doch was erwartet man von einem Film mit dem Titel „Die Sprache des Herzens“? Herz und Schmerz? Rosamunde Pilcher? Nichts gegen gut gemachten Kitsch; auch den muss man erstmal schreiben… Aber zum Film des französischen Regisseurs Jean-Pierre Améris, der im Original „Marie Heurtin“ heißt, ist der schwülstige Titel nicht passend oder besser gesagt: nicht fair.

Keine Frage, wer gefühlvolle Filme mag, kommt bei „Die Sprache des Herzens“ auf seine Kosten. Aber es geht nicht um Rührseligkeit oder schales Mitleid, vielmehr um eine stille und feinsinnig erzählte Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht und gut zu dem passt, was ich hier über das Nicht-hören-können und die Zeit der Aufklärung oder auch über den Film „Der Wolfsjunge“ von François Truffaut geschrieben hatte.

Die wirkliche Marie Heurtin

Marie Heurtin, eine der beiden Filmheldinnen, lebte von 1885 bis 1921. In Deutschland kennt man sie kaum, in Frankreich soll sie so bekannt sein wie bei uns Kasper Hauser. Marie Heurtin wurde taubblind geboren. Und sie gilt neben Laura Bridgman und Helen Keller als einer der ersten taubblinden Menschen, denen der Zugang zu einer komplexen Sprache gelang bzw. dem dieser Zugang ermöglicht wurde – das eine geht nicht ohne das andere.

Illustration zu einem Beitrag über Marie Heurtin und den Film „Die Sprache des Herzens“ des Regisseurs Jean-Pierre Améris

Marie Heurtins Vater war Küfer, also ein Handwerker, der Fässer fertigt. Als sie 10 Jahre alt ist, bringt er sie in das Larnay Institut bei Poitiers. Das Institut gab es schon seit 1847. Es ist in etwa mit dem Institut von Abbe de L’Epee vergleichbar. – Eine Einrichtung, in der sich Ordensschwestern um die Erziehung tauber und blinder Mädchen kümmerten.

Wie man taube Menschen in Gebärdensprache unterrichtet, wusste man längst. Doch Marie Heurtin ist auch noch blind. Auf ein taubblindes Kind ist das Institut nicht vorbereitet. Es gibt kein Konzept, um ihm Sprache zu vermitteln. Das heißt, es gibt keinen Weg zur Verständigung, zum Lernen, zur Gemeinschaft. Es lässt sich nicht einmal sagen, ob das Kind in der Lage ist, einen solchen Weg zu gehen. Was 100 Jahre zuvor für Taube galt, gilt für Taubblinde immer noch: sie erscheinen als geistig behindert (bzw. kognitiv eingeschränkt, wie man es heute oft nennt.)

Historische Aufnahme von Marie Heurtin und Schwester Marguerite, gemischt mit einer Filmszene aus „Die Sprache des Herzens“

Für die historische Marie Heurtin sollen die ersten Wochen in der völlig fremden Welt des Instituts der absolute Ausnahmezustand gewesen sein. Erst als Marguerite, eine Schwester der Anstalt (und die zweite Heldin im Film) sich des Mädchens annimmt, wird es besser. Mit ihr erlernt Marie Heurtin die Gebärdensprache, das Fingeralphabet und schließlich das Lesen in Braille-Schrift. Später konnte sie auch Schreibmaschine schreiben, nähen und stricken. Und sie blieb das ganze Leben im Institut.

Die Film-Marie und die Schwester

Und der Film? – Ich empfehle dir, ihn anzusehen, und werde daher nicht alles verraten. Der Anfang erinnert tatsächlich sehr an den „Wolfsjungen“. Marie Heurtin (gespielt von Ariana Rivoire und eher 15 als 10 Jahre alt) erscheint wie ein wildes, gefangenes Tier. Man führt sie an Stricken. Sie wäscht und kämmt sich nicht, kratzt und beißt, flieht auf Bäume, und ihr Vater weiß nicht mehr, wohin mit ihr. (Nur die Irrenanstalt würde sie nehmen, klagt er den Schwestern.)

Illustration zu einem Beitrag über Marie Heurtin und den Film „Die Sprache des Herzens“ des Regisseurs Jean-Pierre Améris

Doch das stumme, wilde Kind passt nicht in das geordnete Leben des Instituts mit seinen gebärdenden Zöglingen und dem hübschen Gemüsegarten. Niemand glaubt an Marie – bis auf Schwester Marguerite (Isabelle Carré), die sich des Mädchens annimmt, ihm einen Zugang zur Sprache ermöglicht und sein Schicksal zu ihrer Mission macht. – Einer Mission, der die Zeit davonläuft, denn Marguerite ist sterbenskrank.

Doch sie schafft es: Das Wort „Messer“ wird der Schlüssel zur Entdeckung der Sprache und zum Zugang zur Welt. Dass sich der Film die Zeit nimmt, diesen mühsamen, frustrierenden und auch körperlich-kreatürlichen Prozess einer Suche nach Sprache zu zeigen, ist eine seiner Stärken: Es wird – im wahrsten Sinne des Wortes – viel berührt und begriffen. Marie Heurtin begreift Brot und Tomaten, das Leben und die Liebe und schließlich den Tod. Eine weitere Stärke von „Die Sprache des Herzens“ ist die Atmosphäre, die der Film erzeugt: der geordnete Alltag der Anstalt, der sonnige Garten und die schattigen Bäume, Sinnlichkeit und Streichermusik…

Sprache des Herzens und offene Fragen

Von den Kritikern wurde der Film als „ein berührendes Drama“ hoch gelobt und mehrfach ausgezeichnet. Er hat das große Publikum gefunden, für das er gemacht wurde. Ich denke dennoch, dass er deutliche Schwächen hat. Ich frage mich, wo er die historische Marie Heurtin zeigt und wo er sie dramatisierend verfälscht. Waren die Eltern von Marie Heurtin nicht in der Lage, ihrer kleinen Tochter das Waschen und das Kämmen beizubringen? Muss die Film-Marie älter sein als zehn, damit man ihr das „wilde Wesen“ auch glaubt? Und ist man im Alter der Film-Marie wirklich noch in der Lage, einen Zugang zu Sprache und Denken zu finden, wenn es ihn vorher kaum gab?

Illustration zu einem Beitrag über Marie Heurtin und den Film „Die Sprache des Herzens“ des Regisseurs Jean-Pierre Améris

Einiges erinnert sehr an die „wilden, stummen Kinder“. Nur lebten die im Wald bzw. nicht in einer fürsorglichen Familie, wie sie der Film zeigt. Auch wie Schwester Marguerite die Fortschritte ihres Zöglings dokumentiert, erinnert an die Filmszenen mit Jean Itard und dem „Wolfsjungen“ Victor.

Es gibt zahlreiche Ungereimtheiten in „Die Sprache des Herzens“. Und eines, was zum Erfolg des Films ganz maßgeblich beigetragen hat, ist zugleich seine größte Schwäche: Über weite Teile der Handlung ist weniger Marie Heurtin die Heldin, vielmehr die starke und sympathische, selbstlose und opferbereite Marguerite. Damit liefert der Film seinem Publikum das, was es kennt und was es erwartet. Damit verwehrt er aber auch einen tieferen Zugang zu dem, was das Publikum nicht kennt: die Wirklichkeit der Marie Heurtin, einer taubblinden jungen Frau. Die Film-Marie und die Schwester tauschen am Ende die Rollen. Marie pflegt sie. Sie weiß, dass die andere sterben wird, sie kniet gebärdend an deren Gab. Im Abspann heißt es, dass Marie Heurtin eine begeisterte Leserin war. Dass sie unschlagbar Domino spielte und dass in Lamay nach ihrem Vorbild auch weitere taubblinde Mädchen unterrichtet wurden. So aktiv, wie sie als „wildes, stummes Kind“ sein durfte, lässt der Film die sprechende und gebildete Marie kaum noch sein. Wir erfahren zwar einiges über sie, doch nicht allzu viel von ihr. Der Film nimmt sein Publikum gefühlvoll mit und bleibt auf halbem Weg stecken. Er verpasst eine Chance.

Trotz allem eine Empfehlung

Das der Film diese Chance verpasst, finde ich schade. Dennoch empfehle ich „Die Sprache des Herzens“. Auch vor dem Hintergrund heutigen Ringens um Teilhabe und Inklusion macht der Film eines deutlich: Letztlich wird dieses Ringen nicht von großen, schwer zu fassenden Dingen (Politik, Gesellschaft, Religion…) getragen, sondern immer und zu jeder Zeit von einzelnen Menschen, die sich begegnen, die Beziehungen eingehen, die dem anderen etwas zutrauen, so Grenzen im Denken über und in der Wahrnehmung von Behinderung verschieben.

Historische Aufnahme von Marie Heurtin und Schwester Marguerite, gemischt mit einer Filmszene aus „Die Sprache des Herzens“

PS 1: Die Fotos zum Artikel zeigen historische Aufnahmen von Marie Heurtin und Schwester Marguerite, gemischt mit Filmszenen aus „Die Sprache des Herzens“.

PS 2: Hier noch ein Film-Trailer.

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