Lautlos, aber kein Stummfilm

Über den Spielfilm „The Tribe“ des ukrainischen Regisseurs Myroslaw Slaboschpyzkyj
Ein Baumstamm mit Filmszenen aus „The Tribe“ des ukrainischen Regisseurs Myroslaw Slaboschpyzkyj

Eine stark befahrene, graue Straße. Auf der Straßenseite gegenüber eine Bushaltestelle, trostlos. Ein junger Mann mit einem Koffer ist dort. Er spricht eine wartende Frau an, fragt sie wohl nach dem Weg. Ein Bus stoppt und verdeckt die Sicht. Als der Bus wieder weg ist, stehen sie immer noch da, der junge Mann mit seinem Koffer und die Frau. Sie gestikulieren immer noch. Man hört nur die fahrenden Autos… – Schon die Eingangsszene von „The Tribe“ (der Stamm) macht den Zuschauer zum Beobachter. Als sähe man den Film einer Überwachungskamera. Irgendeine Straße in irgendeinem Land, wie zufällig aufgezeichnet; vielleicht im Ostblock, Russland, ehemalige Sowjetunion…

Russland ist es nicht. Aber als ich den Film von 2014 das erste Mal sah, schienen Russland und die Ukraine kaum voneinander unterscheidbar. Schon gar nicht, wenn man nur eine um eine trostlose Straße geht. Oder um das trostlose Schulgebäude, zu dem der junge Mann in der nächsten Szene seinen Koffer trägt, und das er nicht betritt, weil ihm die Putzfrau hinter der verschmierten Scheibe zu verstehen gibt, dass er nach einem anderen Eingang suchen muss. Mit dem Auge der Kamera bleibt man da, wo er eben noch stand. Man blickt durch die leere Halle auf einen Innenhof, erkennt Lehrer und Schüler, die dort in Formation stehen: ein Appell.

Allmählich wird klar, dass das nicht zufällig geschieht: wie sich die Frau an der Haltestelle und die Putzfrau gestikulierend dem Jungen zuwenden. Auch die dicke Schuldirektorin, die vor den angetretenen Schülern steht, gestikuliert so. Sie gebärdet. Und als der Appell beendet ist, noch bevor die großen und kleinen Schülergeordnet und in ordentlichen Uniformen in das Schulhaus einrücken, halten sie alle die Hände offen über ihren Köpfen und drehen sie zügig im Handgelenk nach links und nach rechts. Das ist Beifall.

„The Tribe“ – Leben in Hackordnung

„The Tribe“ spielt an einer ukrainischen Gehörlosenschule. Doch die Schule selbst spielt eigentlich keine Rolle. Die Heldinnen und Helden von „The Tribe“ gehören alle zu einer Klasse, Gang, Clique. Darum geht es. Es gibt nur zwei kurze Szenen, in denen Lehrer Schüler unterrichten. In der ersten betritt der junge Mann seine neue Klasse, und dann gebärdet die Lehrerin etwas über Europa (denn eine Landkarte und eine EU-Fahne sind angepinnt). In der zweiten Szene, kurz vor dem Ende des Films, fertigt derselbe junge Mann unter den Augen seines Lehrers einen Hammer aus Holz. Der Lehrer scheint mit dem Werk des Jungen zufrieden. In der nächsten Szene wird ihn der Junge mit eben diesem Hammer erschlagen.

Illustrationen zu einem Beitrag über den Film „The Tribe“

Damit ist noch nicht viel verraten. Brutalität bzw. Grausamkeit gibt es in nahezu jeder Szene von „The Tribe“. Man bekommt nicht viel Blut oder Verletzungen zu sehen. Dafür den kahlen Flur und die Zimmer des Internats, die auch zu einer Kaserne oder einem Gefängnis gehören könnten. Der verrottete Spielplatz, an dem sich die Jugendlichen versammeln. Der nächtliche LKW-Parkplatz, auf dem die beiden Mädchen der Klasse Fernfahrern für schnellen Sex überlassen werden, nachdem die Jungen den Preis ausgehandelt und abkassiert haben.

Bilder wie aus einer Dokumentation. Die Kamera fängt die Grausamkeit wie beiläufig ein. So, als ließe sich gar nichts vermeiden. Weil Grausamkeit allgegenwärtig ist und das Leben Szene für Szene vorantreibt. Die war vermutlich schon da, als die Protagonisten noch zu den „netten Kleinen“ der unteren Jahrgänge auf dem Appellplatz gehörten. Die Grausamkeit läuft scheinbar neben der Welt der Erwachsenen, und sie kommt doch direkt aus ihr. Bei den kriminellen Machenschaften der Gang ziehen immer die Erwachsenen die Fäden.

„The Tribe“ – ein Film in Gebärdensprache

Es gibt kein Mitleid. In der Hackordnung wird nichts geschenkt. Man unterdrückt oder wird unterdrückt. Man unterwirft sich oder wird zu Fall gebracht und getreten. Und man gehört zueinander, zu einem Stamm, wenn man loszieht, um andere zu bestehlen, sie abzuziehen, sie zu verprügeln und sich erbeutete Bierdosen zu teilen.

Ein Baumstamm mit Filmszenen aus „The Tribe“ des ukrainischen Regisseurs Myroslaw Slaboschpyzkyj

Der Film wurde mit Preisen überschüttet. In den Kritiken ging es immer auch darum, dass „The Tribe“ ausschließlich Gebärdensprache verwendet und auf Untertitel oder eine Synchronisation in Lautsprache verzichtet wird. Man hört – abgesehen von einer Szene, in der Hörende in einer Warteschlange miteinander sprechen – nichts als Geräusche und gelegentliche Laute der Protagonisten. Auch Musik gibt es nicht. In Kritiken heißt es, dass man beim Sehen von „The Tribe“ die Perspektive der Gehörlosen einnehmen muss bzw. kann. Und es wird gesagt, dass das kein Problem ist, weil man die Handlung auch ohne Gebärdensprachkenntnis versteht.

Da ich keine Gebärdensprache kann, weiß ich nicht, was ich andernfalls verstanden hätte. Längere Dialoge hat „The Tribe“ nicht. Mein Eindruck war, dass ich in diesem Film viel mehr über die eigene Wahrnehmung erfahren kann, als über Gehörlose. Man erfährt auch etwas über Gehörlose: Sie können von einem LKW überfahren werden, auch wenn der nur Schritttempo fährt. Sie haben einen so festen Schlaf, dass ein Paar neben ihnen liegen und sich lieben oder jemand einen Mord begehen kann, ohne dass sie dadurch geweckt werden.

„The Tribe“ – die eigene Sprache entdecken

„The Tribe“ zwingt zum Beobachten. Man muss sehen, was man nicht „erhören“ kann. Für mich als Hörenden war das ungewohnt, anfangs vielleicht etwas anstrengend. Ich ertappte mich beim Wunsch, den Film lauter stellen zu wollen. Doch von Geräuschen abgesehen gab es da nichts zu hören.

Ich habe „The Tribe“ eher nicht als Film über gehörlose Jugendliche gesehen; auch nicht als Film über gehörlose Jugendliche in der Ukraine. Es ist ein Film über Jugendliche. Dass sie in der Ukraine leben und gehörlos sind, tritt in den Hintergrund. Es könnten auch ein anderes Land und eine andere Sprache sein. Die Story könnte überall spielen.

Illustrationen zu einem Beitrag über den Film „The Tribe“

Interessant ist, wie sie erzählt wird. Mich hat weniger erstaunt, dass man einen Film auch dann versteht, wenn er ausschließlich Gebärdensprache nutzt. Faszinierend finde ich, gezeigt zu bekommen, wie differenziert und vielsagend die eigene „Nicht-Lautsprache“ ist, wieviel sie Szene für Szene über die handelnden Personen und deren Beziehungen verrät.

Das hat weniger mit Gebärdensprachkenntnis und Gehörlosigkeit zu tun, vielmehr mit einer Sprache, die älter ist als jede andere Sprache, und die deshalb jeder versteht. Wenn man sich auf diese Sprache einlässt, kann es zu einem Erlebnis werden, mit anzusehen, wie jemand die Stufen in einem verwahrlosten Treppenhaus hinauf steigt – nicht nur eine Treppe, sondern viele Treppen, Stufe für Stufe über mehrere Stockwerke, und wie er dann einen kahlen Flur läuft; und später läuft er diesen Flur zurück.

„The Tribe“ ist ein großartiger und ein sehr harter Film. Er wurde in Kiew gedreht, mit gehörlosen Laien-Darstellern und vermutlich in einer Gehörlosenschule. Vielleicht gibt es das Gebäude nicht mehr, weil es im Krieg zerstört wurde. In „The Tribe“ ist diese Schule auch ohne Krieg ein Ort der Gewalt und des Hasses. Man kann versuchen, zu überleben oder zu fliehen; auch darum geht es im Film. Dass sich Menschen an so einem Ort auch lieben können, ist der Hoffnungsschimmer, den „The Tribe“ dem Zuschauer lässt. Es ist jedoch kein guter Ort, um zu lieben.

Ein Baumstamm mit Filmszenen aus „The Tribe“ des ukrainischen Regisseurs Myroslaw Slaboschpyzkyj

PS 1: Auf den Fotos zum Artikel über „The Tribe“ (der Stamm) ist die Rinde eines Baumstammes zu sehen, darauf Filmbilder.

PS 2: Der Film „The Tribe“ des ukrainischen Filmregisseurs und Drehbuchautors Myroslaw Slaboschpyzkyj erschien 2014 und wird für Zuschauer ab 16 Jahre empfohlen. Du kannst den Film auf diversen Streaming-Diensten finden. Hier noch ein Trailer.


Vorheriger Beitrag
Besser plauschen
Nächster Beitrag
Klingendes Pflaster

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Fill out this field
Fill out this field
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.
You need to agree with the terms to proceed

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.

Mit unserem News­letter erhalten Sie regelmäßig Artikel, Geschichten und Neuigkeiten rund um das Hören mit und ohne Technik. Informationen zu den Inhalten, der Proto­kollierung Ihrer Anmeldung, dem Versand über den US-Anbieter MailChimp, der statistischen Aus­wertung sowie Ihren Ab­bestell­­möglichkeiten, erhalten Sie in unserer » Datenschutzerklärung

Neueste Beiträge

Kategorien