Wölfe und Sterne – eine magische Suche in Bildern

Über den Film „Wonderstruck“ des Regisseurs Todd Haynes nach dem gleichnamigen Buch von Brian Selznick
Filmszene mit Rose, gemixt mit einer Filmszene mit Ben aus dem Film „Wonderstruck“

„Wonderstruck“ bedeutet in etwa: höchst erstaunt, wundervoll, beeindruckt, von Staunen ergriffen, überwältigt. „Wonderstruck“ ist ein Film des US-amerikanischen Regisseurs Todd Haynes nach einem gleichnamigen Buch des sehr erfolgreichen US-amerikanischen Illustrators und Autors Brian Selznick. Das Buch heißt in deutscher Übersetzung „Wunderlicht“. Das Original erschien 2011, der Film 2017. Auch wenn es hier um den Film gehen soll – einen „Jugendfilm“; das Buch gehört dazu. Verfilmte Bücher sind eine heikle Sache: Oft ist das Buch besser, der Film nur ein dünner Aufguss, der möglichst vielen gefallen soll. Oder der Film folgt zu sehr dem Buch, ist deshalb kein guter Film usw. Bei „Wonderstruck“ ist es ganz anders. Und das nicht nur, weil Brian Selznick auch Autor des Drehbuchs war.

Gehörlosigkeit und Stummfilm

“Wonderstruck” ist ein eher altes, nicht sehr gebräuchliches Adjektiv. Es soll eines von Brian Selznicks Lieblingswörtern sein, das er beim Schreiben eines anderen Buches gesucht und gefunden hat. Die Bücher, die Selznick zeichnet und schreibt, sind vor allem für Kinder und Jugendliche. Vom Thema Hören und Nicht-Hören bzw. von Gehörlosigkeit hatte er vor seiner Arbeit an „Wonderstruck“ keine Ahnung. Dann stieß er eines Abends zufällig auf eine Dokumentation, in der es um 200 Jahre Geschichte der Gehörlosenkultur und der Gehörlosenpädagogik in Amerika ging („Through Deaf Eyes“). In dieser Geschichte gab es einen Moment, der Selznick faszinierte: Es ging um das Ende der Stummfilmzeit und um die Einführung des Tonfilms. Der Stummfilm war vor allem ein Medium des Auges. Der fehlende Ton wurde durch das Spiel, durch Gestik und Mimik der Akteure, durch pantomimische Elemente wettgemacht. Die knappen, eingeblendeten Texte blieben auf das Wichtigste beschränkt.

Illustration zu einer Filmrezension zum Film „Wonderstruck“ des Regisseurs Todd Haynes

Der Stummfilm war damit nicht nur ein Medium, dem auch Gehörlose folgen konnten. Er war vielmehr zuallererst ihr Medium: Wer die Welt und seine Mitmenschen über jeden Augenblick wahrnimmt, wer so die nicht vorhandenen akustischen Informationen auszugleichen lernt, wird ein Meister im Beobachten und im visuellen Verstehen.

Doch die Einführung des Tonfilms änderte das. Sein Ton schloss taube Menschen aus der Welt des Films aus. (Um eine zuverlässige Verwendung von Untertiteln kämpfen sie heute noch.) Selznick, der die Einführung des Tonfilms bis dahin immer nur für einen technischen Fortschritt gehalten hatte, fand diesen Zusammenhang erstaunlich. Der passte außerdem zu seiner eigenen Arbeit als Zeichner und Autor – also mit Bildern und Schriftsprache.

Wonderstruck – die Idee vom Buch als Film

Gehörlose sind „Augenmenschen“. Tatsächlich ist für viele von ihnen der Zugang zur Schriftsprache schwierig. Schriftsprache ist ein Abbild der gehörten Lautsprache, also eine Art Lautsprache auf Umwegen. Und Gebärdensprache ist eine Sprache des Auges. Sie ist sozusagen wie ein Film (ohne Ton).

Filmszene mit Rose, gemixt mit einer Filmszene mit Ben aus dem Film „Wonderstruck“

Brian Selznick nahm sich nicht nur vor, ein Buch mit gehörlosen Helden zu schaffen, für das er dann sehr gründlich über Themen wie Gehörlosenkultur und Gebärdensprache recherchierte. Mit „Wonderstruck“ schuf er auch ein Buch, das durch seine Zeichnungen zugleich eine Art Film ist. Zwei Helden, zwei Geschichten, eine aufgeschrieben und eine gezeichnet. Bild- und Schriftsprache wechseln sich ab, stehen gleichberechtigt nebeneinander, ergänzen sich. Der Film „Wonderstruck“ ist also sozusagen die Verfilmung eines Buches, das an sich schon (halb) wie ein Film ist.

Die magische Suche von Ben und Rose

Worum geht’s in „Wondertruck“? Zum einen um Ben und zum anderen um Rose, und beiden geht es ziemlich gleich: Beide sind zwölf Jahre alt. Sie sind neugierig und fasziniert von wundervollen Dingen und Geheimnissen, die die Welt für sie bereithält. Sie sind nicht glücklich dort, wo sie sind. Und es zieht sie nach New York. In New York ist, was ihnen fehlt und was alles ändern wird: zweifellos! Also laufen beide weg. Ben (Oakes Fegley) fährt im Bus von seinem Heimatort Gunflint, Minnesota (das dauert etwa 22 Stunden). Rose (Millicent Simmonds) muss von Hoboken, New Jersey nur ein Stück mit dem Dampfschiff stromaufwärts. Beide erreichen die große Stadt und beginnen ihre Suche mit kindlichem Wagemut. Der führt sie auf die Insel Manhattan und bis ins American Museum Of Natural History.

Illustration zu einer Filmrezension zum Film „Wonderstruck“ des Regisseurs Todd Haynes

Man könnte noch mehr über die beiden sagen, warum sie ausreißen, was sie suchen… – aber das ist hier gar nicht nötig. Beide Kinder sind gehörlos. Und es gibt einen wichtigen Unterschied: Rose unternimmt ihre Reise 1927, Ben 50 Jahre danach. Trotz dieses zeitlichen Abstands sind beide Wege und beide Geschichten auf magische Weise miteinander verbunden – und das nicht durch irgendeinen Fantacy-Hokuspokus, sondern real. Es ist, als bewegten sich die beiden aufeinander zu. Es ist rätselhaft, und am Ende, beim großen Finale, passt alles exakt zusammen. Bens Wolfstraum, Roses Sammelalbum mit den ausgeschnittenen Stummfilmstars, die mysteriöse Notiz im Buch über das „Kabinett der Wunder“, das geheimnisvolle Oscar-Wilde-Zitat, die sonderbaren Papiertürmchen – alles hat eine Bedeutung und führt zum springenden Punkt.

Zwei Geschichten, die sich aufeinander zubewegen

„Wondertruck“ ist ein außergewöhnlicher Film, auch weil hier außergewöhnlich erzählt wird – also nicht so, wie man es von anderen Filmen für ein junges Publikum kennt. Die Geschichten von Ben und Rose werden im Wechsel erzählt. Anfangs scheint es fast, als würde man zwischen zwei verschiedenen Filmen hin und her zappen. – Die Geschichte von Rose erinnert an Stummfilme. Die Bilder sind schwarz-weiß, es gibt weder Stimmen noch Geräusche. Es gibt Schrift, die man lesen kann: Zeitungsausschnitte, Reklamen. Wird geredet, sieht man nur die Bewegung der Lippen. Wer hören kann, hört nur Musik.

Bens Geschichte ist bunt. In ihr wird die Welt der 70er Jahre detailversessen in Bild und Ton wiederbelebt. Man hört nicht nur „Space Oddity“, „Fox on the Run“ und (vor dem großen Showdown) Strauss‘ „Also sprach Zarathustra“ in der knalligen Jazz-Funk-Version von Eumir Deodato, sondern auch den Straßenlärm der pulsierenden Metropole und die Stimmen derjenigen, denen der Junge begegnet. Nur hin und wieder gibt es geräuschlose Szenen, die den Zuschauer in Bens Welt eintauchen lassen. Und Ben verständigt sich (ähnlich wie die Erwachsenen mit Rose) mittels Notizzetteln. Das macht er insbesondere mit seinem hörenden Freud Jamie (Jaden Michael), der – anders als Ben und die meisten Zuschauer – in der Schule Gebärdensprache gelernt hat. – Wer nichts verpassen und das Rätsel um Ben und Rose lösen will, muss also auch die Notizen lesen und deuten, was er nicht versteht.

Das heißt jetzt nicht, dass dem Zuschauer viel abverlangt wird, ehe er dem Film folgen kann. Wer sich auf die Suche in „Wonderstruck“ einlässt, der will verstehen. Zudem wird er weitergezogen von einer wundervollen Bildsprache, die er – ebenso wie Rose mit ihren großen, eindringlichen Augen – bestaunen kann. Das Nicht-hören-können ist durch die beiden Helden zwar allgegenwärtig. Doch Thema des Films ist es nicht. Sowohl Rose als auch Ben suchen ihr Glück. Aber sie sind nicht deshalb unglücklich, weil sie nicht hören können. Es geht um andere Dinge. Du solltest dir „Wonderstruck“ anschauen!

Filmszene mit Rose, gemixt mit einer Filmszene mit Ben aus dem Film „Wonderstruck“

PS 1: Die Fotos zum Beitrag über „Wonderstruck“ zeigen einen Mix aus Filmszenen mit Ben und mit Rose.

PS 2: Den offiziellen Trailer zu „Wonderstruck“ findest du hier.

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PS 3: Das erwähnte Oscar-Wilde-Zitat lautet: „We are all in the gutter, but some of us are looking at the stars“. (Wir liegen alle in der Gosse, aber einige von uns betrachten die Sterne.) Das Buch „Wunderlicht“ von Brian Selznick kann ich gleichfalls empfehlen.


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