Bäng! Bäng!

Über Silvesterböllern, Macht und Knalltrauma
Reste von Böllern

Bäng! Bäng! – Denn eine Woche nach dem Weihnachtsmann steht der Knallfrosch vor der Tür (oder der Hobby-Sprengmeister, der verhinderte Flak-Schütze, der kleine Pyromane tief in uns…). Für die Hörgräte ein Anlass, sich dem Thema Knalltrauma zu widmen. Gleich vorab: Feuerwerk ist toll. Und Feuerwerk ist schrecklich. Das ist kein Widerspruch!

Macht durch Knall

Bevor wir dazu kommen, was ein Knalltrauma ist bzw. macht, erst einmal etwas darüber, was ein Knall macht – mehr unter psychologischem Gesichtspunkt. – Da macht ein Knall nämlich: Macht. Bzw. er verleiht ein Gefühl von Macht – und zwar demjenigen, der das Ding zündet, der den Kracher raushaut, der dann von allen gehört wird. – Also nicht nur von bösen Geistern (die vermutlich ohnehin schlecht hören); sondern von wirklich absolut allen.

abgebrannte Feuerwerkskörper

Über den Zusammenhang von Lärm und Macht hatte ich hier schon geschrieben. Kurz: Wer Krach machen kann, hat Macht. Bis zum Beginn des Industriezeitalters waren Glocken und Kriege (= „Kirchen- und Staatsgeräusche“ sozusagen) die lautesten, menschengemachten Geräusche überhaupt. Auch laute Maschinen waren die Sache mächtiger Leute. Akustisch ist die Welt da heute wesentlich weniger reglementiert bzw. demokratischer – und so laut, wie nie zuvor. Laubbläserblasen, Trennschleifen, Partylärm… darf jeder fast überall und fast immer machen. Und zumindest einmal im Jahr geht auch Krieg – nur rein akustisch natürlich.

Was zählt ist: Bäng!

Übertrieben? Spielverderber? – Nö! Nimmt man nur ihren Schall, sind Böller Schusswaffen ebenbürtig. Und psychoakustisch betrachtet geht es nicht allein darum, dass an Silvester Böller und Raketen lärmempfindliche Menschen (und Tiere!) belästigen. Es geht um Machtausübung. Um: Macht durch Knall. Lass es richtig krachen, Kumpel, wenigsten einmal im Jahr! Wer das nicht versteht, versteht keinen Spaß! Wer vor so was Angst hat, ist ein Weichei!

abgebrannte Feuerwerkskörper

Mal ehrlich: Die wunderschönen bunten Funken, Kringel, Kreise, Blüten, Muster, die da den Himmel durchpflügen, die reichen doch alle sowieso nie an ein echtes Profi-Feuerwerk ran, egal, was man für sie bezahlt. Aber dann gibt’s da ja noch das andere; also das, an das für den einen (meinen!) Moment absolut nichts heranreicht, nämlich: Bäng!

Ich behaupte mal: Dieses Bäng!, das ist der eigentliche Kick. Für die Funkenspielchen da oben könnte man sich noch einigen. Wenn man die zentral machen würde, dann könnten viel mehr Leute einfach nur dastehen, entspannt ihr Sektglas halten, in den Himmel starren und „Ah“ oder „Oh“ rufen. – Aber Silvester ohne mein Bäng?! No Way! (Jene Vollpfosten, für die abgesehen vom Bäng! eines Feuerwerkskörpers noch dessen potentielle Verwendbarkeit als Sprengladung, Geschoss o. ä. zählt, betrachten wir hier nicht separat. – Hier geht’s nicht um Sprengkraft, sondern um Hören!)

Silvester in Berlin

In Berlin gibt es jetzt böllerfreie Zonen. Egal (fast)! Menschen, die empfindlich auf Böller reagieren, sind eher nicht diejenigen, die sich ins böllerfreie Gewimmel am Brandenburger Tor retten. Die zwei anderen böllerfreien Zonen der Stadt werden vor allem gemacht, weil es dort im letzten Jahr zu massiven Raketen-Angriffen auf Feuerwehr und Polizei kam. (Ich sag‘s ja: Spielverderber!)

Böllerreste

Aber wer nur ein bisschen Krieg spielen will, kann das fast in der ganzen Stadt. Silvesterfeuerwerk wird diesmal sogar einen Tag früher verkauft, weil der Sonntag dazwischen liegt – an dem man die Böller aber sicherlich auch irgendwo kriegen wird. Und wem das noch nicht reicht bzw. wem das zertifizierte Zeug aus der hiesigen Böller-Produktion ein bisschen zu „Mädchen“ ist: Berlin ist nicht so weit von Polen weg. Auf den Märkten an der Grenze lässt sich prima aufrüsten. (Wir bleiben ironisch.)

In Köpenick und überall in der Stadt werden zu Silvester Briefkästen, Mülleimer, Hauseingangsleuchten, Klingelbretter und sonst was immer wieder gerne: gesprengt. Im Viertel nebenan ist ungefähr Krieg. Unterm Strich: Verbrennungen und Brände, Einsatzkräfte im Dauereinsatz, überfüllte Notaufnahmen, Sachbeschädigungen. Und nebenher: Komplett vermüllte Straßen, Feinstaubbelastung. – Laut einer Studie der Deutschen Umwelthilfe (DHU) erreichen 98 deutsche Städte Feinstaubwerte oberhalb dessen, was die WHO empfiehlt. Das schaffen die ganz ohne Feuerwerk. (Und sollen es deshalb einschränken.)

Bitte mit einplanen: Knalltrauma

Gehörst du eventuell zu denen, die davon ausgehen, dass Sachen, die hierzulande legal erhältlich sind, die super geprüft und sachgemäß verwendet werden, demzufolge ohne Risiko sind? Dann möchten wir dich hier ent-täuschen: Du gehst Risiken ein, wenn du Silvester vor die Tür gehst. Das ist nicht so dahingeschrieben, sondern real. Und ein Risiko ist auf jeden Fall: Knalltrauma, Hörschaden.

Reste von Feuerwerkskörpern

Der Impulsschall eines Feuerwerkskörpers ist eine Sache von Millisekunden. Danach breitet sich der Schall nur noch aus. Der dabei freigesetzte Schalldruck beginnt bei ca. 140 Dezibel (dB); es geht bis 170, 180. Wenn das Ding zwei Meter neben dir losgeht, kriegst du die volle Packung. – Total witzig! (Wieder Ironie.)

Zum Vergleich: Gehörschutz an lauten Arbeitsplätzen ist ab einer Dauerbelastung von 80 dB oder ab Spitzen von 85 dB vorgeschrieben; schon der Sekt-Korken knallt mit 90. Ein Knalltrauma kannst du dir schon bei 135 dB zuziehen. Ganz besonders gefährdet sind übrigens Kinderohren.

Was ist ein Knalltrauma?

Ein Knalltrauma ist kein Schnupfen, sondern eine Verletzung im Ohr – übrigens die gleiche, die auch durch einen geplatzten Airbag oder eine Ohrfeige entstehen kann (neben Knalltrauma sagt man auch Explosionstrauma). Die Schallwelle des Bäng! (bzw. Impulsschalls) fährt mit entsprechendem Druck (dB) in dein Ohr und macht dort was kaputt. Die kleinen Härchen in deinem Innenohr knicken ab. Außerdem kann es zu Schäden am Mittelohr kommen: Das Trommelfell kann reißen, die Übertragungskette aus den drei winzigen Gehörknöchelchen kann was abbekommen.

abgebrannte Feuerwerkskörper

Typische Symptome: Dein Gehör verschlechtert sich schlagartig. Es hört sich an, als wäre dein Ohr verstopft. Es könnte auch sein, dass es zusätzlich pfeift oder klingelt (der sogenannte Tinnitus), und dass dieses Ohrgeräusch auch nach Tagen nicht weggeht. Außerdem könnte dein Ohr schmerzen und hohe Töne nicht mehr wahrnehmen. Es könnte Schwindel auftreten oder (ganz extrem) blutiges Zeug aus dem Ohren kommen. Es gibt nur ungefähre Angaben, wie viele Bundesbürger*innen das neue Jahr im Schnitt mit einem Knalltrauma beginnen. Es sollen ca. 8.000 bis 30.000 sein.

Knalltrauma – was tun?

Wenn du ein Knalltrauma hast (also: weniger hören und gegebenenfalls noch ein Pfeifen), dann solltest du zuerst einmal raus aus der „Knallzone“. Noch mehr Bäng! Macht die Sache auf keinen Fall besser. Und wenn es nicht besser wird, solltest du zum Ohrenarzt.

Dort wird ein Hörtest gemacht. Gegebenenfalls werden Kortison oder durchblutungsfördernde Medikamente verschrieben. Bei starkem Trauma kann eine Infusion mit Kortison im Krankenhaus nötig sein. Sind Trommelfell oder Gehörknöchelchen beschädigt, muss ggf. operiert werden. Und bei Knalltrauma (wie übrigens auch bei Hörsturz) gilt: Je eher eine Behandlung beginnt, desto besser sind die Aussichten auf Heilung. Also: Nicht bis zur nächsten Woche warten!

Neujahrsmorgen auf einer Berliner Straße

Die Folgen eines solchen Traumas können langfristig sein. Extrem laute Explosionen können bis zur dauerhaften Ertaubung führen. Die meisten Knalltraumata durch Silvesterfeuerwerk gehen zwar wieder weg. Doch auch das schließt nicht aus, dass ein Stück deiner Hörfähigkeit dahin ist. Es gibt unzählige Menschen, die über Jahre mit einem eingeschränkten Gehör leben, ohne etwas zu merken (– bis sie es irgendwann doch merken). Hört man nach überstandenem Trauma wieder deutlich besser, muss man deshalb noch längst nicht so gut hören, wie vor dem Trauma…

Knalltrauma-Vorsorge

Vorsorge ist angebracht: Also, Abstand zu Leuten halten, die ballern (vor allem zu solchen, die damit offensichtlich überfordert sind)! Zudem ist Gehörschutz ein großes Thema. Stöpsel aus dem Baumarkt helfen schon. Richtig gut ist ein Gehörschutz, der Impulsschall filtert. (So was nehmen auch Schütz*innen und Jäger*innen).

Für Kinder – vor allem für kleine – würde ich dir Kapselgehörschutz (auch „Mickymäuse“ genannt, also die, die wie große Kopfhörer aussehen) empfehlen. Gibt’s alles beim Hörakustiker. Mit kleinen Kindern ohne Gehörschutz wo hinzugehen, wo heftig geballert wird, nennt man übrigens auch noch: Körperverletzung. (Also zumindest bei hörenden Kindern.)

Abgesehen von diesen privaten Vorsichtsmaßnahmen muss aber noch mehr passieren. Und es scheint so, als würde auch langsam aber sicher was passieren: Einstellungen ändern sich. Leute (auch ich!) denken um. Es entsteht ein Bewusstsein dafür, was die Böllerei akustisch und auch in anderer Hinsicht anrichtet. Man beginnt, sich völlig zu Recht zu fragen, in welchem Verhältnis Schäden + Kosten zur allgemeinen „Freiheit des Bäng!-Machens“ stehen.

Ja: Verbieten! (und Feuerwerk, bitte.)

Ich habe früher auch geböllert. Ich weiß, wie sich das anfühlt; es war nicht so schlecht. So Macht kann ja schon auch Spaß machen. Ich finde dennoch, so ein Gefühl ist es nicht wert. Nicht die Verletzungen und Schäden, die dadurch jedes Jahr entstehen! Warum soll das Freiheit sein, dass der eine zu Silvester die Sau raus lässt, und der andere Angst haben, es ertragen oder sogar noch dafür bezahlen muss?!

Silvestermüll

Vorschlag: Macht ein großes, tolles und von allen bezahltes Feuerwerk über der Stadt; oder besser eins für jeden Stadtbezirk, damit alle was sehen! Das kann nicht mehr Steuergeld kosten als das, was durch Feuerwerk an Schäden entsteht. Und wo so ein Feuerwerk gar nicht geht; vielleicht eine Laser- oder Lichtshow (das soll es in Landshut als Ersatz für das Feuerwerk geben). Ist bestimmt auch toll.

Kulturgeschichtlicher Nachschlag

Übrigens: Rein feuerwerkskulturgeschichtlich würde man mit so einem großen, zentralen Feuerwerk wieder zu den europäischen Feuerwerkswurzeln zurückkehren. Dass jeder wild um sich ballert, das gibt es hier nämlich noch gar nicht so lang.

Die ersten Feuerwerke gab es wahrscheinlich in China vor ca. 1.000 Jahren. Nach Europa kamen sie mit der Neuzeit, im Barock – als ein Teil von höfischen Festen, den auch das Volk miterleben konnte. Und diese großen Feuerwerke wurden durchkomponiert bis ins kleinste Detail, als richtige Kunstwerke.

Bild zum Beitrag über Silvesterböller, Macht und Knalltrauma

Die populärste Form damals war das Musikfeuerwerk, bei dem die Raketen passend zur Musik arrangiert wurden. Die berühmte „Feuerwerksmusik“ von Georg Friedrich Händel, eine wirklich gigantische Musik, ist aus dieser Zeit. – Gut, so ein Musikfeuerwerk war damals auch nicht ganz ohne Risiko. Schon bei der Probe für die Uraufführung 1749 in London schauten 12.000 Menschen zu. Doch die Aufführung selbst soll – pyrotechnisch betrachtet – ein Desaster gewesen sein. Erst wurden 101 Kanonenschüsse viel zu spät abgefeuert, dann regnete es, so dass die Raketen lausig zündeten, und schließlich brannte noch ein Teil der Kulisse ab. Aber akustisch… – die Vorstellung von einem durchkomponierten Feuerwerk über der Stadt, das alle sehen können, und bei dem alle gemeinsam Händel hören können… Das wäre doch was!

PS: Die Bilder zum Beitrag über Silvesterböller, Macht und Knalltrauma zeigen die Reste vom Feste des letzten Jahres – Berlin-Köpenick (wie vermutlich fast überall) am 1. Januar 2019.


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