Beim größten Gesangsverein Berlins

Zum Weihnachtssingen beim 1. FC Union
Weihnachtssingen FCU 2018

Von den fünf Blog-Rubriken der Hörgräte hat die Rubrik Hör-Freuden inzwischen die mit Abstand wenigsten Beiträge. Höchste Zeit hier mal wieder was Freudvolles zu schreiben. Das Weihnachtssingen bei Union ist freudvoll. Und es passt auch zeitlich perfekt. Also:

Ich wohne in Berlin-Köpenick. Und wer mir auf Facebook oder Instagram folgt, der weiß vielleicht schon, dass mich was mit unserem örtlichen Fußballverein verbindet. Ich bin einer von aktuell ungefähr 21.400 Mitgliedern beim 1. FC Union Berlin. Ich bin Fan, Unioner. Das eigentlich schon immer. Seit ich als Schüler der 4a in der Polytechnischen Oberschule „Walter Husemann“ (Berlin-Mitte) von ein paar Typen, die mindestens 6. waren, vor eine Frage gestellt wurde, von deren Beantwortung eine Menge abzuhängen schien. Sie lautete: „Biste Union oder BFC?“

Weihnachtssingen FCU 2018

Es gab nur diese zwei möglichen Antworten, und dazwischen nichts. Vermutlich hatte ich einfach nur Glück und kam deshalb ungeschoren davon. Oder ich fand das Emblem von Union schon damals cooler als das von Dynamo. Dass der Berliner Fußballclub Dynamo, der Jahr für Jahr DDR-Meister wurde, zum Ministerium für Staatssicherheit gehörte, wusste ich schon deshalb nicht, weil ich erst viel später verstand, was Staatssicherheit ist. Und was es heißt, Fan von Union zu sein, habe ich auch erst etwas später verstanden. Aber dazu gleich noch.

Fußball und Weihnachten

Mit Fußball ist es ein bisschen wie mit Weihnachten. Oberflächlich betrachtet gewinnt man schnell den Eindruck, alle müssten es mögen. Aber das stimmt natürlich nicht. Mein eigenes Verhältnis ist auch zwiespältig – sowohl mein Verhältnis zu Weihnachten als auch das zum Fußball. Ich finde den ganzen Weihnachtsbimbam nur nervig – die Schoko-Weihnachtsmännern im August, die schwülstige Musik, die aus Lautsprechern scheppert, die bunten, in einem fort blinkenden Lämpchen, den ganzen Rummel um irgendwelches Zeug, das jeder kaufen soll und kein Mensch braucht. Das ist hohl und verlogen – genau wie Fußball, bei dem die Fans, die Fußball lieben, nur als Konsumenten betrachtet werden. Geht es nur noch ums Geld, geht Weihnachten genauso vor die Hunde wie Fußball.

Weihnachtssingen FCU 2018

Kann man sich dem entziehen? Vermutlich nicht ganz. Aber man kann es versuchen. Nach Dingen suchen, die für einen selbst stimmen und irgendwie noch besonders sind. Man könnte zum Beispiel ein Weihnachtslied singen. Da geht es überhaupt nicht um Geld. Aber es ist auch nicht sehr populär. Und Weihnachtslieder hört man ja sowieso überall. Dem kann man gar nicht entkommen. Die Zeiten, in denen man selbst singen musste, wenn man ein Lied hören wollte, sind lange vorbei.

Leiden und Leidenschaft

Zusammen gesungen wird fast nirgendwo mehr. Außer vielleicht – und das finde ich wirklich erstaunlich – beim Fußball. Das bringt mich zurück zu Union:

Was es heißt, Union-Fan zu sein, lernte ich damals, Ende der 70er, bei meinem allerersten Union-Spiel. Das war nicht lange nach dem ich zum ersten Mal erklärt hatte, „für Union“ zu sein (also ungefähr, als ich elf war). Zu dem Spiel ging ich mit meinem Vater, der sonst nie Fußballspiele besuchte. Und es war die Ansetzung schlechthin: Union gegen BFC, das Lokal-Derby der DDR-Hauptstadt im „Stadion der Weltjugend“.

Kurz gesagt, war es ein Debakel. Ich habe noch mal gegoogelt. Union hat zu DDR-Zeiten so gut wie immer verloren, wenn es gegen den BFC ging. Aber soweit ich feststellen konnte, tatsächlich niemals mehr so hoch wie an diesem Tag: 8:1. Als das eine Union-Tor fiel, war um uns her keiner, der mit mir jubelte. Die alten Fußball-Männer, die neben uns standen, hatten vorher schon fünf oder sechs Mal gejubelt. Und sie blickten mitleidig bis belustigt auf mich herab.

Weihnachtssingen FCU 2018

Ich war geknickt. Aber als ich nach dem Spiel neben meinem Vater zur U-Bahn lief, befanden wir uns in einem Strom von Leuten; lange Haare, Jeansjacken, selbstgestrickte rot-weiße Schals. Wir waren mitten zwischen die Unioner geraten. Mitten zwischen die, um die man auf dem Schulhof lieber einen Bogen machte. Sie sahen auch geknickt aus. Aber sie begannen zu singen. So ein Arbeiterkampflied, wie ich sie aus der Schule kannte. „Dem Morgenrot entgegen, ihr Kampfgenossen all…“ Nur dass sie das Lied mit einem anderen Text sangen. „Auf einer grünen Wiese zwei Tore aufgestellt, und zwischen diesen Toren das größte Team der Welt.“ Und das größte Team der Welt, das war natürlich Union. Auch nach 8:1.

Gemeinsam singen wirkt

Ich glaube, ich habe damals versucht, so gut wie möglich mitzusingen. Die Melodie kannte ich ja. Und den Text hatte man schnell raus. – Gemeinsam singen mit ganz vielen Leuten, das kann einen aufbauen. – Sogar so sehr, dass man ein 8:1 vergisst. Und dass man sich immer noch sicher ist: Man gehört dazu. Man ist Unioner…

In einem Interview mit dem Musikpädagogen Professor Dr. Werner Rizzi von der Folkwang-Universität der Künste in Essen habe ich mich danach erkundigt, was eigentlich Singen in uns bewirkt. Darauf der Professor: „Das ist inzwischen nachgewiesen. Man weiß, dass sich Bereiche im Hirn auf besondere Art und Weise vernetzen. Das ist auch beim instrumentalen Musizieren so. Aber beim Singen kommt die Verbindung mit dem Text hinzu, häufig auch noch die Bewegung. Musik und Bewegung gehören auch im Gehirn eng zusammen. Sie werden hier sehr früh vernetzt, schaffen einen unmittelbaren Zugang zu unseren Emotionen. Im Alter besteht diese Wirkung fort. Ich erlebe das bei meinen Leuten im Chor. Eine gut geführte und gelungene Probe kann nach einem anstrengenden Tag immer noch Gefühle von Glück und Lebendigkeit hervorrufen. Auch präventive Effekte wurden nachgewiesen. Gesang fördert – vorsichtig formuliert – die Gesundheit. Er stabilisiert die Psyche. All diese Dinge, die heute naturwissenschaftlich bestätigt werden, sind der Menschheit vermutlich schon lange bekannt. Sonst hätte man keine Musik gemacht.“

Die hörbare Gemeinschaft der Eisernen

Singen macht also froh. Zumindest geht es einem besser. Und gemeinsames Singen schafft ein Gefühl der Zugehörigkeit. Es entsteht eine Gemeinschaft, die man hören kann. (Es kann ein sehr starkes Gefühl sein, das sich auch missbrauchen lässt. Auch darüber habe ich mit Professor Rizzi gesprochen. Dazu ein andermal.)

Ritter Keule beim Weihnachtssingen 2018

Bei Union gehört man zur hörbaren Gemeinschaft der Eisernen. Der Schlachtruf „Eisern Union“ ist uralt. Er hat damit zu tun, dass die Mannschaft ursprünglich aus Oberschöneweide kam. Bevor Union in den 60er Jahren Union wurde, hatte der Verein jede Menge anderer Namen, und früher spielte die Mannschaft in Blau. Oberschöneweide war damals das größte Industriegebiet innerhalb einer deutschen Stadt (auch darüber muss ich noch schreiben). Weil die Spieler in ihren blauen Trikots wie Schlosser aussahen und zum Großteil tatsächlich aus Arbeiterfamilien stammten, nannte man sie die Schlosserjungs. Später ergab sich daraus „Eisern Union“. Und heute ist alles eisern. Die Unioner sind auch die Eisernen. Die Frauenmannschaften bei Union heißen Eiserne Ladys. Das Stadion An der alten Försterei ist das eiserne Wohnzimmer. Und zu jedem Auftritt von Union gehört der eiserne Ritter Keule (der ein bisschen an Ritter Runkel von den Digedags erinnert – s. Foto vorher.)

Eine Weihnachtsgeschichte

Ich komme nicht so oft dazu, ins Stadion zu gehen; nur alle paar Monate. Im Moment spielt Union ziemlich gut. Sie haben echte Chancen, nach zehn Jahren in der Zweiten zum ersten Mal in die Bundesliga aufzusteigen. Klar wünschen sich das alle. Andererseits gibt es Sorgen, dass es irgendwann auch bei Union nur noch um Geld geht. Und irgendwie fällt es auch schwer, an so viel Erfolg zu glauben. – Weil es Erfolg bei Union eher nicht so oft gab. Weil kein Geld da war. Weil es Millionen von Schulden gab. Weil man nicht sicher sein konnte, ob der Verein überhaupt überlebt. Weil man endlich aufsteigen konnte – und keine Lizens bekam. Weil man Pech hatte. Weil immer wieder irgendwas schieflief. Und weil man oft einen langen Atem brauchte, ehe doch mal wieder ein Erfolg vorbeikam. Weil es oft erstmal richtig tief runter ging und dann langsam wieder bergauf. Oft blieb einem eben nur: Singen.

Weihnachtssingen FCU 2018

So wie 2003 beim ersten Weihnachtssingen. Ich bin erst viel später das erste Mal beim Weihnachtssingen dabei gewesen. Aber ich vermute, dass es ein bisschen so gewesen sein muss wie damals nach dem 8:1. Mit der Mannschaft lief es mehr als bescheiden, sie stand ziemlich weit am Tabellen-Ende. Aber 89 Fans wollten trotzdem das Beste aus der Situation machen. Sie sind über den Zaun zum Stadion geklettert. Sie versammelten sich an der Mittellinie des Spielfelds und hatten Glühwein und Gebäck dabei, außerdem Zettel mit kopierten Liedtexten. Und sie fingen einfach an, Weihnachtslieder zu singen. Klar haben sie auch damals nicht nur Weihnachtslieder gesungen…

Lichtermeer im Stadion

Aus den 89 von damals wurden dann jedes Jahr mehr. Der Fanclub „Alt-Unioner“, der das erste Singen organisiert hatte, bekam offizielle Unterstützung. Die Leute mussten nicht mehr über den Zaun steigen, um ins Stadion zu kommen…

Inzwischen sind es 28.500. So viele passen ins Stadion, weil auch der Innenraum abgedeckt wird und voll mit Leuten ist. Und mehr passen nicht rein. Alles ist restlos ausverkauft. Vor Jahren war es noch so, dass man ganz ohne Karte kommen konnte. Aber dann waren es einfach zu viele Menschen. In diesem Jahr, zum 16. Weihnachtssingen, waren die Karten innerhalb von Stunden restlos weg. Nur Mitglieder konnten welche kaufen. Jedes Mitglied bekam eine Freikarte und maximal drei Kaufkarten (Kinder 5 Euro, Vollzahler 7). Das Geld geht in die Jugendarbeit des Vereins. Auch im Stadion werden Spenden für die „jungen Unioner“ gesammelt.

Hörgräte beim Weihnachtssingen FCU 2018

Das eigentliche Weihnachtssingen läuft ungefähr so: Man wickelt sich seinen rot-weißen Schal um, setzt sich vielleicht noch eine rot-weiße Mütze auf und zieht ins Stadion. Dort bekommt jeder eine Kerze und ein Heftchen mit Liedtexten. Pünktlich um 19 Uhr geht das Flutlicht aus und alle Kerzen brennen. Ein Lichtermeer und ein wirklich wunderbarer Anblick! Dann erklingt die Union-Hymne: „Eisern Union“.

Alle halten ihre Schals und Kerzen hoch. Die Stimme von Nina Hagen tönt über die Stadion-Lautsprecher. Und alle singen mit: „Wir aus dem Osten gehen immer nach vorn, Schulter an Schulter für Eisern Union usw.“ Diese Ost-Identität ist für viele sehr wichtig, weil es nicht nur zum Club, sondern auch zur eigenen Geschichte und zum eigenen Selbstbewusstsein gehört. Die Liedzeile „Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen? – Eisern Union!“ wird deshalb auch immer besonders laut gesungen; ungefähr so wie abschließend: „Es kann nur einen geben. – Eisern Union! Eisern Union! – Wir werden ewig leben. – Eisern Union! Eisern Union!“ (Im Liedtext ist aber auch noch von „Osten und Westen, unser Berlin“ die Rede, und davon, dass man gemeinsam durch die Nation ziehen will. Es ist also nicht nur „ostig“. Und natürlich ist es auch ordentlich Fußball-Pathos. Muss so eine Hymne ja auch sein.)

Weihnachtliches Kontrastprogramm

Nach dem Einstieg wird es weihnachtlich. Die Lieder, die dann gesungen werden, sind sozusagen die Klassiker: “Ihr Kinderlein kommet”, „O du fröhliche“, „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ oder „Schneeflöckchen, Weißröckchen“. Sogar so schwierige Lieder wie „Vom Himmel hoch, da komm ich her…“ und „Maria unterm Dornbusch saß“ sind dabei. Und für das Kinderlied „In der Weihnachtsbäckerei“ gibt es seit Jahren einen eigenen Text: „In der Alten Försterei“. Wenn jemand einen Text nicht kann, ist das kein Problem, weil man ja das Textbuch hat. Und wenn jemand eine Melodie nicht kann, ist das auch nicht so schlimm, weil der Chor des Köpenicker Emmy-Noether-Gymnasiums mitsingt. Man muss also nur hinterher singen. Der Chor steht auf einer kleinen Bühne in der Mitte des Spielfeldes.

Weihnachtssingen FCU 2018

Zwischen den Liedern werden noch andere Gesänge angestimmt, die dann auch alle mitsingen. Am liebsten was mit „Eisern Union“, aber auch „Siehst du, Hertha, so wird das gemacht!“ oder was mit „Scheiß Dy-na-mo“. (Sagen wir es so: Die lokalen Kontrahenten sind nicht übermäßig beliebt, und das sorgt dann für ein bisschen Kontrast im Programm.)

Außerdem kam viele Jahre Pfarrer Peter Müller auf die Bühne, um die „Geburt Jesu“ vorzulesen. Im letzten Jahr hat er dieses Amt und seinen rot-weißen Schal an einen Nachfolger übergeben; die Jesus-Geschichte wird also weiter vorgelesen. Und es tritt auch noch der Union-Pressesprecher Christian Arbeit mit seinen Eltern Marion und Bernd als Bläsertrio auf.

Wir singen alle…

Die Veranstaltung wird auch heute noch vom Verein und vom Fanclub „Alt-Unioner“ organisiert. Es gibt natürlich auch Sponsoren. Es geht natürlich nicht ohne Geld, wenn so viele Leute zusammenkommen. Und es gibt Leute, die schon am Anfang dabei waren, und die das Weihnachtssingen heute kritisch sehen, weil es so eine große Nummer geworden ist. Aber so ist das vermutlich immer. Und immerhin ist es nach wie vor keine wirklich kommerzielle Veranstaltung. Die vielen Leute sind alle nur da, weil einfach immer mehr mitsingen wollten.

Inzwischen ist es der größte Gesangsverein Berlins, der größte Weihnachtschor Deutschlands oder was auch immer. Und die Idee vom Weihnachtssingen im Stadion wird von zahlreichen Vereinen nachgeahmt. Ich war noch bei keiner dieser Veranstaltungen. Oft soll es dort aber so ablaufen, dass es ein Konzert auf einer Bühne gibt, und die Leute mitsingen können. Das jedoch wäre schon was anderes als bei uns. Wir singen alle!

Liederbuch Weihnachtssingen FCU 2018

PS 1: Die Fotos vom Weihnachtssingen bei Union sind natürlich beim diesjährigen Weihnachtssingen im Stadion „An der alten Försterei“ entstanden (also gerade eben erst).

PS 2: Mein allerbestes Union-Spiel habe ich am 21. August 2005 gesehen – ebenfalls im Stadion „An der Alten Försterei“ und in der damaligen Oberliga, also der vierten Liga. Die andere Mannschaft war natürlich mal wieder der BFC Dynamo. Und das Spiel endete 8:0 für Union. 8:0 ist noch besser als 8:1. Es war sozusagen die persönliche Revanche. (Musste ich hier noch anmerken.)

Hier noch ein bisschen Weihnachtsgesang:

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Und hier noch ein bisschen Union:

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