Schwindelnde Höhen, Multisensorik und Organ-Crosstalk

Über das Zusammenspiel von Gehör und Gleichgewicht
Ausschnitt eines Plakats zum Film „Vertigo“ von Alfred Hitchcock

Schwindelnde Höhen, Multisensorik? Organ-Crosstalk? – Der Film „Vertigo“ (also: Schwindel) von Alfred Hitchcock zählt für viele Kritiker zu den besten Filmen aller Zeiten, und das Gleichgewicht bzw. die innere Balance des Haupthelden spielt darin eine wichtige Rolle: John “Scottie” Ferguson muss wegen seiner Höhenangst aus dem Polizeidienst ausscheiden. Erst rutscht er fast von einem Ziegeldach und erlebt mit, wie ein Kollege hinabstürzt. Dann kann er eine Frau, die er liebt, nicht vom Selbstmord abhalten, sie springt von einem Kirchturm. Schließlich trifft er nach Jahren auf eine Art Doppelgängerin dieser Frau…

Organ-Crosstalk – ungefähr wie „Leber an Großhirn…“

Starke Höhenangst kann eine seelische Störung sein, die einen fest im Griff hat und den Alltag vielfältig reglementiert; man traut sich dann z. B. nicht mal mehr, eine Brücke zu überqueren oder eine Leiter zu besteigen. Früher nahm man an, dass Höhenangst generell die Folge psychischer Probleme bzw. eines traumatischen Erlebnisses sei – also wie in Hitchcocks Film. Doch im Kern ist diese Angst eine Reaktion auf tatsächliche Gefahr. Man gerät in eine Situation, in der die Informationen verschiedener Sinne im Gehirn Alarmglocken auslösen. Um dieses Zusammenspiel der Sinne, also um die Multisensorik und um den Crosstalk der Sinnesorgane soll es hier gehen.

Illustration für den Artikel „Schwindelnde Höhen, Multisensorik und Organ-Crosstalk“ auf die-hörgräte.de

Zum Begriff „Organ-Crosstalk“: Zumindest Leser meines Alters werden bei der Vorstellung, dass sich menschliche Organe miteinender unterhalten, wohl zwangsläufig an Otto Walkes denken: „Leber an Großhirn! Leber an Großhirn! Wo bleibt denn der Alkohol, ich krieg ja überhaupt nichts mehr zu tun hier! …“ In der Forschung ist dieser Crosstalk der Organe tatsächlich ein relevantes Thema, über das man bislang zu wenig weiß. Als ich kürzlich beim HNO-Kongress war, gab es zich Vorträge darüber, wie Gleichgewichts- und Hörorgan „crosstalken“.

Gleichgewicht – die Balance der Sinne

Wie das Gleichgewichtsorgan arbeitet, hatte ich hier schon erklärt. Unser Gleichgewicht ergibt sich aber nicht allein aus diesem einen Organ mit Bogengängen, Vorhofsäckchen und Flüssigkeit. Vielmehr ist Gleichgewicht etwas, was im Gehirn entsteht. Gehirne sind phantastische Gebilde, die alles nutzen, was sie kriegen können. Oft kann ein Gehirn sogar ausgleichen, wenn es etwas nicht (mehr) kriegt.

Damit Gleichgewicht entsteht, sammelt das Gehirn Informationen über den Ort, an dem man sich befindet, und über die Bewegung, in der man sich befindet. Dafür nutzt es Informationen aus mehreren Sinnesorganen (also; Organ Crosstalk). Das sind komplexe Prozesse, die ständig in uns ablaufen, die uns zumeist jedoch gar nicht interessieren. Es sei denn, im Organ Crosstalk kommt es zu Unstimmigkeiten. Wenn das Gleichgewichtsorgan anderer Meinung ist als der Sehsinn, kann uns das ziemlich auf den Magen schlagen, die Welt zum Drehen bringen, weiche Knie machen usw.

Ausschnitt eines Plakats zum Film „Vertigo“ von Alfred Hitchcock

Forscher gehen heute davon aus, dass in diesem Organ Crosstalk über Ort und Bewegung auch der Hörsinn ein Wörtchen mitredet. Dass es einen Zusammenhang zwischen Gleichgewichts- und Hörorgan gibt, liegt schon deshalb nahe, weil beide direkt nebeneinandersitzen. Aber wie dieses Zusammenspiel genau aussieht, darüber wird noch diskutiert. Es gibt Studien, die verschiedene Aspekte liefern – jedoch noch kein komplettes Bild.

Organ Crosstalk: Gleichgewicht und Ohr?

Zuerst einmal geht die Forschung davon aus, dass es drei Sinne sind, die dafür sorgen, dass wir (zumeist) aufrecht und ausbalanciert durchs Leben gehen: natürlich der Gleichgewichtssinn und der Sehsinn. Drittens ist noch ein Sinn beteiligt, den man oft auch als den sechsten Sinn bezeichnet: die sogenannte Propriozeption. Propriozeption ist die körperliche Wahrnehmung unserer Spannung, unserer Stellung im Raum, unserer Körperhaltung und -Bewegung. Im Körper verteilt sitzen Rezeptoren, die die Informationen dieses sechsten Sinns fortlaufend sammeln. Davon merken wir nichts. Diese Körperwahrnehmung kann jedoch ebenso mehr oder weniger gut funktionieren wie der Sehsinn. Und das Gehirn kann mit dem, was es aus dem „sechsten Sinn“ bekommt, fehlende Informationen aus anderen Sinnen ausgleichen. Blinde Menschen z. B. nehmen ihre Welt umso mehr mit anderen Sinnen wahr; auch sie fallen nicht ständig um.

Mit Blick auf den Organ-Crosstalk von Hör- und Gleichgewichtssinn gibt es etwa die Vermutung, dass alte Menschen häufiger stürzen, weil sie schlechter hören. Dass auch das Gehör eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung von Räumen spielt, hatte ich hier schon geschrieben. Hinsichtlich Sturzrisiko könnte man weiterhin vermuten, dass ältere Menschen mit nachlassendem Hörsinn weniger häufig stürzen, wenn sie Hörgeräte tragen, so die Forscher. Und Hörakustiker haben mir dazu erklärt, dass sie das schon vor 20 Jahren wussten – nur wussten sie das aus Erfahrung und nicht aus der Forschung.

Illustration für den Artikel „Schwindelnde Höhen, Multisensorik und Organ-Crosstalk“ auf die-hörgräte.de

Bei den Studien wurde auch mit gut hörenden Probanden gearbeitet. Die mussten sich anhand akustischer Signale in einem Raum zurechtfinden. Man fand heraus, dass den Probanden das umso besser gelang, je mehr Signale im Raum waren. Vermutet wurde, dass das Gehirn aus den Signalen eine Art Landkarte bildet. Ein blinder Ingenieur, ein Spezialist für die Planung barrierefreier Arbeitsplätze für Blinde, hat mir das ganz ähnlich beschrieben…

Wenn der Ohrenspezialist mit dem Nasenspezialisten

Offensichtlich ist Organ-Crosstalk nicht nur eine Herausforderung für die Organe bzw. das Gehirn, sondern auch eine Herausforderung für diejenigen, die sich mit den Organen beschäftigen. Die HNO-Medizin – so hieß es neulich beim Kongress – ist da ganz besonders interessiert, weil zwischen Hals, Nase, Ohr und dem, was zu ihnen gehört, jede Menge Crosstalk läuft und die Spezialisten für Hals, für Nase, für Ohr usw. sich entsprechend austauschen müssen. Wenn der Ohrenspezialist nicht mit dem Nasenspezialisten spricht oder mit dem Neurowissenschaftler oder dem Psychologen, dann erfährt man vieles eben nicht.

Ausschnitt eines Plakats zum Film „Vertigo“ von Alfred Hitchcock

PS: Die Fotos zum Beitrag über Organ-Crosstalk zeigen das Plakat zum Film „Vertigo“ von Alfred Hitchcock.


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