Im Dunkeln tappen?

Hören oder sehen - noch mehr über Hör- und Sehsinn (Teil 3)
Mann im Dunkeln, Motiv zu einem Beitrag auf die-hörgräte.de

In den ersten beiden Beiträgen über „hören oder sehen“ ging es zum einen um das grundsätzliche Verhältnis von Hör- und Sehsinn – und zum anderen darum, wie Menschen, die mehr oder weniger nicht hören können, mit den Augen hören. Im dritten Teil geht es nochmal um Leute, für die Hören oder Sehen keine theoretische Frage ist, weil sie nur eines von beiden können – nämlich um Leute, die nur hören.

Im Dunkel-Restaurant

Warst du schon mal in so einem Dunkel-Restaurant? Man wird durch einen völlig finsteren Raum an einen Tisch begleitet, muss sich einen freien Stuhl ertasten, setzt sich. Dann gibt es zu essen und zu trinken. Du musst irgendwie versuchen, mit diesem Essen klarzukommen, obwohl du nichts siehst. Als ich in so einem Restaurant war, war ich froh, dass es nur Kaffee und Schokoladenkuchen gab. Das war für den Anfang kompliziert genug. Ich fand die Kaffeekanne, die Tasse, den Kuchen. Wie das Kuchenstück aussah, dass ich mir aus dem Kuchen heraussägte, sah zum Glück niemand. Der Versuch, mit der rechten Hand Kaffee in die Tasse in meiner Linken zu gießen, war recht schmerzhaft…

Andererseits fiel mir auf, wie ich und die anderen – die ich nicht kannte – begannen, uns auf die Situation an diesem Tisch einzustellen. Wir taten Dinge, die wir sehend nicht getan hätten. Wir berührten uns zum Beispiel ständig an den Händen, führten die Hand eines anderen dorthin, wo wir die Zuckerdose vermuteten, griffen nach der fremden Hand, um ihr den Kuchenteller zu geben usw. Tasten war unvermeidlich. Reden und Hören auch. Wenn man wissen wollte, welche Leute noch so am Tisch sitzen, blieb nur reden und hören.

Die Welt ertasten und erhören

Wenn man gewohnt ist, zu sehen, ist diese Dunkelheit wie eine andere, fremde Welt. Sie kann Angst machen – wie jede fremde Welt. Ich vermute aber, wenn man sich in dieser Welt auskennt, wenn man nicht mehr so unbeholfen in ihr herumstochert wie ich mit dem Messer in Kuchen, dann ist sie nicht fremd. Dann ist sie zwar anders, aber dennoch dieselbe Welt, die man als Sehender kennt. Und dunkel ist sie dann vermutlich auch nicht. Denn dunkel ist das Gegenteil von hell. Und wenn man das eine nicht hat, ist das andere auch nichts – jedenfalls nicht dunkel.

Max Beckmann, Plastik „Mann im Dunkeln“

Der Maler und Bildhauer Max Beckmann war fasziniert davon, wie sich Menschen in dieser anderen, dunklen Welt bewegen. Seinen „Mann im Dunkeln“, von dem in diesem Beitrag die Bilder sind, habe ich in einer Ausstellung fotografiert (weil ich da schon die Idee für den Artikel hatte). Der Mann hält die Hände vor sich – wie so einen Taster, mit dem er die Welt fühlend erkundet. Und dieser Mann hat ziemlich große Ohren.

Über den Zusammenhang von Tast- und Hörsinn habe ich etwas gelesen (wieder in R. Murray Schaffers Kulturgeschichte des Hörens), was ich erhellend fand: Unser Tastsinn ist nicht nur „der persönlichste Sinn“, den wir haben. Hörsinn und Tastsinn treffen sich auch – und zwar in dem Bereich, in dem niedrige hörbare Frequenzen in Schwingungen übergehen, die man ertasten kann. Dieser Bereich liegt bei ungefähr 20 Hertz. Und Hören sei deshalb „eine Art von Berührung aus der Ferne“.

Hören oder sehen? – Night On Earth

Berührt hat mich auch die Geschichte in einem Film, den ich mag. (Der Film besteht aus mehreren Geschichten. Es geht um „Night On Earth“ von Jim Jarmusch.) – Aber bevor ich dazu komme: Würdest du sagen, dass es blinden Menschen schlechter geht als anderen – nur weil sie blind sind?

Um es gleich zu sagen: Ich halte das für absoluten Quatsch. Natürlich ist es immer schlimm, wenn man etwas verliert, was einem lieb und teuer ist – zum Beispiel einen Sinn. Aber ich glaube nicht, dass es jemandem schlechter gehen muss, nur weil er nicht sehen oder hören oder laufen oder was auch immer kann. Ich glaube auch nicht, dass jemand in ewiger Finsternis lebt oder an den Rollstuhl gefesselt ist oder sonst noch was. Ich glaube, dass jeder Mensch ganz vieles kann, auch ganz vieles aus seinem Leben machen kann – wenn man ihn nur lässt.

Max Beckmann, Plastik „Mann im Dunkeln“

Wenn du verstehen willst, wie ich das meine, schau dir „Night On Earth“ an. Der ganze Film spielt in einer einzigen Nacht – in fünf unterschiedlichen Städten: in Los Angeles, New York, Paris, Rom und Helsinki. Und es geht um fünf Taxifahrten – alle zur gleichen Zeit, also der gleichen Weltzeit. D. h. während es bei der Taxifahrt in Los Angeles abends dämmert, ist bei der Tour durch Helsinki schon Morgengrauen. Es gibt fünf Begegnungen – immer zwischen dem Taxifahrer (in der ersten Story ist es eine junge und extrem coole Taxifahrerin) und dem oder den Fahrgästen. Zwischen den Storys sieht man, wie die Weltzeit tickt. Mir geht es um die dritte Tour – also die durch Paris.

Taxi-Fahrer und blinde Frau

In Paris sieht man dunkle, regenfeuchte Straßen, einen Kanal, trostlose Häuserfassaden, Leuchtreklame. Es ist vier Uhr früh. Durch eine menschenleere Straße kommt das Taxi im Affenzahn geschossen. Im Taxi sitzt vorne der Fahrer; dunkle Haut, kahler Schädel, ein Heftpflaster über der rechten Augenbraue. Und auf der Rückbank sitzen zwei ziemlich unsympathische Geschäftsleute aus Kamerun, die einen tollen Deal mit dem Botschafter abgeschlossen und das dann mit Champagner gefeiert haben. Als die beiden Kameruner erfahren, dass ihr junger Taxifahrer von der Elfenbeinküste stammt, machen sie Witze auf seine Kosten und beleidigen ihn. Bis er anhält und sie einfach rausschmeißt. (Den Fahrer spielt übrigens der ivorische Schauspieler Isaac de Bankolé. Ivorier ist man, wenn man aus der Republik Côte d’Ivoire bzw. von der Elfenbeinküste kommt.)

Max Beckmann, Plastik „Mann im Dunkeln“

Der Fahrer ist genervt. Der Tag war mies und von den beiden hat er sich vor lauter Wut nicht mal die Fahrt bezahlen lassen. Er fährt schon wieder viel zu schnell. Dann sieht er die Frau an der Straße (Béatrice Dalle). Sie ist ca. 30, sieht ein bisschen wild aus. Und sie ist offensichtlich blind, denn sie hat diesen großen, weißen Stock. – „Die da wird mich nicht bescheißen“, sagt sich der Fahrer und stoppt.

Am Ende der Fahrt, die jetzt folgt, wird die blinde Frau ihn zwar tatsächlich nicht „bescheißen“. Es wird ihm dennoch „beschissen“ gehen. Aber erstmal hat er noch alles im Griff. – Sie will zum Quai de l’Oise bei der Porte de la Vilette (also zu einem Kanalufer) und weiß sofort, an welcher Straße er abbiegen muss. Als er doch eine andere Strecke nimmt, beschwert sie sich. Er aber erklärt ihr, dass er sich in seinem Job auskennt. Dann beobachtet er sie im Rückspiegel. Wie sie sich die Frisur zurechtzupft. Wie sie lächelt und sich mit beiden Händen die Lippen nachzieht. Er nimmt den Tunnel. Sie merkt es wieder sofort und beschwert sich. Er gibt ihr Feuer, als sie rauchen will.

Hören oder sehen? – „Hör zu, du Idiot…“

„Tragen Blinde nicht immer solche Binden?“ – „Ach wirklich? Ich hab noch nie einen Blinden gesehen.“ – „Es muss ziemlich hart sein, wenn man blind ist.“ – „Hör zu, du Idiot, ich kann alles, was du kannst, und noch ein bisschen mehr. Ich bin blind, das ist alles.“

So geht es in einem fort. Er erklärt ihr, dass sie nicht Auto fahren kann. Sie fragt ihn, ob er das vielleicht könne. – „Ich bin wie du. Ich esse, trinke. Ich höre Musik, fühle Musik, mach was ich will, geh ins Kino.“ – Was er auch einwirft, sie hält dagegen. Schließlich meint er: „Wenn Sie schon so schlau sind, dann sagen Sie mir doch, welche Hautfarbe ich habe.“ – Darauf sie: „Was kümmert mich deine Hautfarbe. Ob du grün oder blau bist, es bedeutet mir nichts. Ich spüre Farben, aber das kannst du nicht verstehen.“

Dass er von der Elfenbeinküste kommt, hört sie aus seinem Akzent. Und als er wissen will, wie es mit einem Mann im Bett ist, den man ihn nicht sieht, erklärt sie ihm, dass sie einen Mann, den sie liebt, hundert Meter weit riechen kann. Am Kanal angekommen, will er ihr weniger berechnen. Sie weiß genau, was sie ihm schuldig ist, und gibt ihm noch etwas Trinkgeld: „Ich brauche dein Mitleid nicht.“ – „Passen Sie auf sich auf!“ – „Pass selber auf dich auf!“

Max Beckmann, Plastik „Mann im Dunkeln“

Sie läuft mit ihrem Stock kurz nach vier am finsteren Kanalufer davon, tippt mit dem Stock immer wieder an das Eisenrohr zu ihren Füßen, das ihr den Weg weist. Dann hält sie noch einmal kurz inne und lächelt, weil es weit hinter ihr gekracht hat. – Der Taxifahrer und noch ein Typ, der schimpft, weil er ihm die Vorfahrt genommen hat…

(nicht)behinderte Schauspieler*innen

Ich habe gegoogelt, ob die französischen Schauspielerin Béatrice Dalle tatsächlich blind ist. Sie ist es nicht.

Ich weiß, dass das vor allem von Menschen mit Behinderung viel diskutiert wird. Rollen von behinderten Menschen sollten auch von behinderten Schauspieler*innen gespielt werden. Ich kann diese Forderung verstehen, ich finde sie richtig. Andererseits hätte ich mich im Fall von Béatrice Dalle nicht gewundert, wenn sie wirklich blind ist. (Was auch an einem Mangel an Erfahrung liegen kann.) Und ich finde auch, es ist der Job von Schauspieler*innen, Menschen zu spielen, die sie nicht selbst sind. Und wie die blinde Frau im Film sagt: „Ich habe noch nie einen Blinden gesehen.“ – Das man noch nie eine Blinde gesehen hat, könnte es ja vielleicht auch schwierig machen, eine Blinde zu spielen, oder?

Max Beckmann, Plastik „Mann im Dunkeln“

PS: Die Bilder zum Beitrag über das im Dunkeln tappen bzw. hören oder sehen zeigen den „Mann im Dunkeln“ von Max Beckmann in der Ausstellung „Max Beckmann. Welttheater“ im Museum Barberini in Potsdam.


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