Irgendwie schräg oder der elektrische Funke

Wie ich das erste Mal von einer Hörgeräte-Trägerin beeindruckt war
Illustration zum Beitrag „Irgendwie schräg oder der elektrische Funke“ auf die-hörgräte.de

Wie ich das erste Mal von einer Hörgeräte-Trägerin beeindruckt war… Seit zwei Jahrzehnten habe ich ständig mit Menschen zu tun, die was am Ohr haben – Hörgeräte, Hörimplantate, Technik. Wenn ich mich an die Zeit davor erinnere, dann fällt mir kaum jemand ein, der ein Hörgerät hatte. Nicht mal mein Großvater hatte eins, obwohl er es zweifellos gebraucht hätte. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die Begegnung mit der Hörgeräte-Trägerin, um die es hier geht, hatte ich Anfang der 90er. Ich war so Mitte 20 und die Frau, der ich damals begegnete, vermutlich so um die 40. Ich studierte an der Humboldt-Uni deutsche Literatur, brauchte für meinen Abschluss noch ein zweites Nebenfach und war auf die Idee gekommen, dieses mit Kunstgeschichte zu füllen. (Im Nachhinein finde ich diese Wahl sehr konsequent; weil man mit Kunst im Leben ähnlich weit kommt wie mit Literatur – womit ich keinesfalls gesagt haben möchte, wie weit.) Und sie – also die Frau, von der ich schreiben will – war (bzw. ist) Kunsthistorikerin und bot ein Seminar an. So begegneten wir uns.

Heute ist es oft schwierig zu sagen, ob jemand aus dem Osten oder aus dem Westen Deutschlands stammt. Damals – als Student der Ostberliner Humboldt-Uni – wusste ich das sofort, erst recht, wenn es um Lehrkräfte ging. Die Dozenten aus dem Westen sahen schicker aus, redeten anders, gingen anders an die Literatur oder eben an die Kunst heran… Ich fand sie häufig spannend, erhellend und beeindruckend, manchmal auch etwas unsympathisch. (Das eine schließt das andere ja nicht aus.)

Die sympathische Frau Dr. Begas

Als ich in einer der knarzenden Klappstuhlreihen Platz nahm, um zum ersten Mal an einem Seminar von Frau Dr. X teilzunehmen, wusste ich: Die ist ganz klar aus dem Westen. (Frau Dr. X. passt hier irgendwie nicht. Ich könnte ihren Namen suchen und würde ihn vermutlich auch finden; aber für diesen Beitrag ist mir ihr richtiger Namen nicht so wichtig. Ich nenne sie hier einfach Frau Dr. Begas, auch wenn Begas nicht ihr Name war, sondern nur der Name, der in ihrem Seminar am häufigsten vorkam.)

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Frau Dr. Begas kam also ganz klar aus dem Westen. Sie sah viel schicker aus als unsere Ost-Dozentinnen, trug schicke Hosenanzüge und Blusen, schminkte ihre Lippen auffallend rot, trug dicke Perlenketten und ihre hellgrauen Haare mit Pagenschnitt. Kurz gesagt, sah sie ziemlich ladylike aus. (Das ist der Begriff, der mir nach längerem Nachdenken am passendsten erscheint.) Sie gehörte fraglos zur Gruppe der beeindruckenden West-Menschen und – wie mir schon bald klar war – keinesfalls zur Gruppe der unsympathischen.

Ich weiß nicht mehr, was mich in ihr Seminar gebracht hatte. Ich finde Kunst interessant. Ich fand auch damals eine Menge Kunst interessant. Aber die Kunst, um die es in ihrem Seminar ging, gehörte eher nicht dazu. Diese Kunst fand ich anfangs vor allem ziemlich schräg, protzig, albern, lächerlich, langweilig. Es ging um deutsche Bildhauerei im späten 19. Jahrhundert, insbesondere um solche in Berlin.

Deutsche Bildhauerei des 19. Jahrhundert

Eventuell hast du dich bislang noch nicht mit deutscher Bildhauerei aus dem späten 19. Jahrhundert beschäftigt. (Es gibt vermutlich nicht viele, die das tun.) Aber wenn du dir jetzt ein möglichst großes und mehr oder weniger hässliches Denkmal vorstellst, das du mal irgendwo in Deutschland gesehen bzw. übersehen hast, dann stammt es ziemlich wahrscheinlich aus dem späten 19. Jahrhundert.

Die Bildhauer, um die es im Seminar ging, hießen zum Beispiel Friedrich Drake, August Kiß, Emil Hundrieser, Ludwig Schwanthaler, August Gaul und eben Reinhold Begas. Die meisten Namen kennt vermutlich kaum jemand. Aber ihre Werke kennt man schon deshalb, weil sie oft nicht zu übersehen sind. Emil Hundrieser etwa – bei dem ich schon den Namen nicht mehr vergessen werde – hat u. a. den Kaiser Wilhelm am Deutschen Eck in Koblenz gemacht. Vor längerer Zeit war ich dort – eigentlich um Kathy Kelly (das ist die große Schwester aus der Kelly Family) zu interviewen, die in der Rhein-Mosel-Halle ein Konzert speziell für Zuhörer mit Hörgeräten und Hörimplantaten gab. (Das war nett, ist aber auch eine andere Geschichte. Kathy Kelly ist – soweit ich weiß – noch keine Hörgeräte-Trägerin.)

Nach dem Interview bin ich am finsteren Rheinufer entlang gelaufen bis vor zum Deutschen Eck. (Es war kein angenehmer Spaziergang, denn es gab einen eiskalten Wind.) Das Eck heißt so, weil dort die Mosel in den Rhein fließt, und auf der Ecke vom Eck steht auf einem riesigen Steinklotz ein riesiger Kaiser Wilhelm mit Pferd – von Emil Hundrieser. Obwohl es schon sehr dunkel war, habe ich den Kaiser fotografiert. Und obwohl man auf dem Bild nicht viel erkennen kann, finde ich, dass das Foto einen ganz guten Eindruck von diesem Denkmal gibt…

Abbildung zu einem Beitrag, der erzählt, wie ich das erste Mal von einer Hörgeräte-Trägerin beeindruckt war

Außer mehr oder weniger großen Denkmälern von mehr oder weniger mächtigen Männern gibt es am Ende des 19. Jahrhunderts jede Menge anderer weißer oder grünspangrüner Figuren, die oft pathetisch in den Himmel blicken, so als hätten sie was genommen. Meist sind es ziemlich nackte Frauen oder auch Männer, die aber eigentlich ganz was anderes darstellen – entweder Wesen aus antiken Geschichten oder Allegorien, also sozusagen Körper für Ideen. D. h. man sieht dann zum Beispiel die Figur einer Frau, aber es ist gar keine, sondern die Kriegswissenschaft, die Jugend, die Reinheit, die Kunst oder eine Göttin. Außerdem gibt es auch noch Tiere, Pferde, auf denen die mächtigsten der Denkmalmänner sitzen, Hunde, Löwen, Drachen usw.

Der elektrische Funke

Das vermutlich skurrilste Werk von Reinhold Begas ist ebenfalls eine Allegorie. Sie trägt den Titel „Der elektrische Funke“. Und weil man sie besser ansehen als beschreiben kann, habe ich nachfolgende Kunstpostkarte gekauft, um sie angemessen zu drapieren. Die Karte fand ich bei eBay in der Rubrik für Erotik-Postkarten. Und das, was sie darstellt, hat etwas mit dem zu tun, worum es in diesem Blog geht – nämlich um das Verhältnis von Mensch und Technik bzw. um das, was man sich vor mehr als hundert Jahren darunter vorstellte.

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Damals begannen die Menschen gerade, mit Elektrizität zu leben. Der Stiel, an dem sich die weibliche Figur auf dem Bild hier festhält, ist eigentlich eine Laterne. Das heißt, die beiden küssen sich, beim Kuss springt der elektrische Funke und die Lampe geht an. Elektrizität kommt also sozusagen nicht aus der Steckdose. Elektrizität ist eigentlich das Ergebnis von Liebe oder Sex oder beidem: Man zeugt sozusagen kein Kind, sondern was „ungleich Größeres, Bedeutenderes, Zukunftsweisenderes“: Strom.

Was für eine skurrile, naive, idealisierende Sicht auf etwas derart alltägliches wie Strom! (Könnte man zumindest meinen… Ich frage mich, wie man unser Verhältnis zum Internet in 100 Jahren erlebt…)

Kunst und Friedhof

Jedenfalls war es sehr kurzweilig im Seminar von Frau Dr. Begas, die uns die Bildhauerei des 19. Jahrhunderts auf erfrischende Art vermittelte – und sie im Übrigen auch selbst nicht immer ganz ernst zu nehmen schien. Es war amüsant. Sie erzählte uns von ihren Nachforschungen in den entlegensten Winkeln irgendwelcher Berliner Friedhöfe. Sie trieb sich scheinbar ständig auf Friedhöfen rum und stieß auf irgendwelche Skulpturen, die ohne ihre Nachforschungen vermutlich niemand für irgendwas gehalten hätte, und die durch ihre Forschung sozusagen ins Reich der Kunstgeschichte gelangten.

Abbildung zu einem Beitrag, der erzählt, wie ich das erste Mal von einer Hörgeräte-Trägerin beeindruckt war

Ich stellte mir Frau Dr. Begas immer in ihrem schicken Outfit und mit Gummistiefeln vor, auf den schlammschmatzenden Wegen aufgeweichter Gottesäcker auf der Suche nach irgendeinem längst vergessenen Drake, Gaul oder Hundrieser. Eventuell trug sie auch so einen Friesennerz. Irgendwie ergab sich in meinem Kopf dieses Bild. Und auf jeden Fall stellte ich sie mir bei dieser Suche genauso gestylt und geschminkt vor, wie sie zum Seminar erschien.

Der Pfiff der Hörgeräte-Trägerin

Und dann die Hörgeräte. – Anfang der 90er gab es noch keine digitalen Geräte. Die kamen erst ab Mitte der 90er und von da an hat sich die Technik grundlegend verändert. Hörgeräte von heute piepen eigentlich nicht mehr. Es gibt kaum Rückkopplungspfeifen, höchstens in ganz bestimmten, unglücklichen Konstellationen. Aber damals gab es das noch. Und die Hörgeräte von Frau Dr. Begas pfiffen sehr laut. Als sie das erste Mal pfiffen, waren alle, die vor ihr in den knarzenden Stuhlreihen saßen, irgendwie irritiert, weil da plötzlich dieser Technik-Pfiff war. (Handys gab es ja auch noch nicht.) Es hätte irgendwas sein können, von irgendwoher. Aber Frau Dr. Begas schien nicht irritiert, sondern sah uns freundlich an und erklärte: „Das waren nur meine Hörgeräte.“ Und dann fuhr sie fort.

Für sie war das nichts. Aber für mich war es noch beeindruckender als alles, womit sie uns sonst schon beeindruckt hatte. Ich hatte eine Dozentin mit Hörgeräten. Eine Hörgeräte-Trägerin, die noch gar nicht so alt aussah. Und die mit diesen fiependen Teilen so cool umging, als wäre es nichts…

Illustration zum Beitrag „Irgendwie schräg oder der elektrische Funke“ auf die-hörgräte.de

Ihre Geräte fiepten dann noch öfter. Gefühlt in jedem ihrer Seminare. Aber sie hat das immer weggelächelt. Die Hörgeräte gehörten zu ihr wie die Bildhauerei des späten 19. Jahrhunderts, der ausbalancierte Humor, mit dem sie uns diese Werke vorstellte, und die Gummistiefel, die ich mir vorstellte. Irgendwie ladylike und irgendwie schräg. Und vor allem: beeindruckend…

Mächtige Männer und Denkmäler

Soweit die Hörgeräte-Trägerin. Und dann noch ein Nachtrag zu den deutschen Bildhauern des späten 19. Jahrhunderts usw.: Mit Denkmälern von mächtigen Männern dieser Welt läuft es ja oft so: Erst werden sie mit großem Tamtam enthüllt. Dann stehen sie rum, damit jeder diese Männer in seinem Kopf behält. Und wenn die Macht vorbei ist, vergisst man die Denkmäler oder man schupst sie um, räumt sie weg oder verkauft sie auf eBay, damit sie sich irgendwelche Leute in den Vorgarten stellen können…

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Das große Finale der Bildhauerei im Berlin des späten 19. Jahrhunderts war die Siegesallee im Tiergarten – eine Allee mit 32 mächtigen Männern, einer neben dem anderen. Die Männer wurden im Krieg beschädigt, die übrig gebliebenen Denkmal-Männer sind heute auf der Zitadelle in Spandau, einige auch irgendwo anders. Und der Kaiser Wilhelm auf dem Platz, der Marx-Engels-Platz hieß und jetzt wieder Schlossplatz heißt, ist in der DDR spurlos verschwunden. Genauso der Lenin vom Leninplatz, der jetzt Platz der Vereinten Nationen heißt. Lenin soll irgendwo im Wald verbuddelt worden sein. Und von Kaiser Wilhelm hat mir mal jemand erzählt, er hätte in einer alten DDR-Zeitung ein Interview mit einem Stahlarbeiter gelesen, der stolz berichtete, wie er mit eigenen Händen den Kaiser eingeschmolzen hat – zu volkseigenem Rohstoff. Nur die vier großen Kaiser-Löwen haben überlebt. Die stehen im Tierpark Friedrichsfelde, wo auch der große Hirsch von Hermann Göring untergekommen ist. Der Tierpark ist sozusagen auch ein Heim für herrenlose Tiere.

Abbildung zu einem Beitrag, der erzählt, wie ich das erste Mal von einer Hörgeräte-Trägerin beeindruckt war

Wenn ich als Kind im Tierpark war, haben mich die Löwen immer sehr beeindruckt. Dass die vom Kaiser waren, habe ich aber erst im Seminar von Frau Dr. Begas erfahren. Lenin auf dem Leninplatz, der natürlich nicht aus dem späten 19. Jahrhundert stammt, hat mich als Kind auch sehr beeindruckt, wenn ich unter ihm vorbei in Richtung Volkspark Friedrichshain geführt wurde. Er war ja auch sehr groß. Und Georg der Drachentöter, der aus dem späten 19. Jahrhundert ist, damals halb versteckt im Friedrichshain stand, und heute im Nicolaiviertel steht, hat mich damals ebenfalls beeindruckt. Eigentlich gingen wir immer zum Friedrichshain, um Papierdrachen steigen zu lassen. Aber ich musste auch immer zu Georg, der mit dem Drachen kämpft. Er gehört zu meiner kleinen Berliner Kindheitswelt wie die Tiere vom Neptunbrunnen vor dem Roten Rathaus. Der stand ebenso wie der Brunnen im Stadtschloss, bevor man es wegsprengte, um einen Palast zu bauen, dessen Baugrube mich als Kind ebenfalls sehr beeindruckte, denn die Baugrube war ebenfalls sehr groß.

Ehrlich gesagt überrascht es mich gerade selbst etwas, dass ich in einem Blog-Beitrag über eine Hörgeräte-Trägerin bei hässlichen Denkmälern anfange und dann mitten in meiner Kindheit herauskomme. Ungefähr so ging es mir damals im Seminar von Frau Dr. Begas. Ich bin kein Fan der Bildhauerei des späten 19. Jahrhunderts geworden. Aber ich habe immerhin herausgefunden, dass sie in meinem früheren Leben doch eine Bedeutung hatte. Und ich bin das erste Mal von einer Hörgeräte-Trägerin beeindruckt worden. Möglicher Weise ist dabei sogar ein Funke übergesprungen – vermutlich war es ein elektrischer Funke.

Abbildung zu einem Beitrag, der erzählt, wie ich das erste Mal von einer Hörgeräte-Trägerin beeindruckt war

PS 1: Die Fotos zum Beitrag über die schrägen Denkmäler und die beeindruckende Hörgeräte-Trägerin zeigen: die Köpfe von Elbe und Rhein sowie einen Fuß vom Rhein am Berliner Neptunbrunnen von Rheinhold Begas, Merkur und Psyche von Reihnold Begas, den „elektrischen Funken“ von Reihnold Begas (in meinem Sicherungskasten), Alexander Calandrellis Reiterstandbild von Friedrich Wilhelm IV. (von hinten) und Emil Hundriesers Reiterstandbild von Kaiser Wilhelm I. (von unten), August Kiß‘ St. Georg mit dem Drachen und zum Schluss Adolf Brütt mit „Der Fischer (Gerettet!)“. Alle waren auch Thema im Seminar der Hörgeräte-Trägerin Frau Dr. Begas.


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