Smarte Hörgeräte

Wie Vernetzung die Hörtechnik verändert, Teil 1
Illustrationen zu einem Artikel über smarte Hörgeräte auf die-hörgräte.de

Smarte Hörgeräte? Seit zehn Jahren bin ich jedes Jahr auf der IFA. Die IFA ist – nach Publikum und Fläche – die größte Technik-Messe der Welt, außerdem eine Art Technik-Volksfest, das immer Anfang September auf dem Berliner Messe-Gelände unterm Funkturm stattfindet. Es kommen nicht nur Leute, die Geschäfte machen wollen, sondern mindestens ebenso viele, die sich einfach für Technik interessieren – für Smartphones, Waschmaschinen, Rasenmähroboter, vernetzte Fahrradhelme. Also für nahezu jede Art Technik. Früher hieß die IFA Internationale Funkausstellung, heute stehen die drei Buchstaben für „Innovation for All“. Zur IFA kommen auch jede Menge Technik-Journalisten.

Hörgeräte auf der Technikmesse: „11.3 Sonstiges“

Meine Aufgabe dort IFA war von Anfang an, Technik-Journalisten etwas über Hörgeräte zu erzählen. Ich sollte ihr Interesse für Hörgeräte wecken, sie mit Infos zu neuesten Geräten versorgen, und dann würden sie ihren Lesern, Zuhörern, Zuschauern berichten – über neueste Hörgeräte von der weltgrößten Technik-Messe IFA. Dieser Plan klingt einleuchtend, seine Umsetzung war anfangs jedoch schwer.

Zwar gab es auf der IFA schon vor zehn Jahren viele Technik-Journalisten. Doch wen von ihnen ich auch ansprach, für Hörgeräte interessierte sich niemand. Auch sonst schien niemand auf der IFA Hörgeräte erwartet zu haben. Der Hersteller, der mich zur IFA geschickt hatte, war überhaupt der einzige Hörgeräte-Hersteller dort. Deshalb bekam er im Ausstellerverzeichnis eine eigene Kategorie: unter „11. Sonstiges“ gab es den Unterpunkt „11.3 Hörgeräte“. Wem beim Stöbern im Ausstellerverzeichnis nichts Besseres einfiel, als unter „Sonstiges“ nachzuschlagen, der fand dort: uns…

Eingefärbte IFA-Werbemotive für smarte Hörtechnik

Hörgeräte schienen auf der Messe wie eine Art Fremdkörper – gerade in den Augen der Medienleute. Schon das Wort „Hörgerät“ schien zu genügen, um bei ihnen etwas zwischen Heiterkeit und Fluchtimpuls auszulösen. Als hätte man versucht, sie zwischen all der schicken neuen Technik auf (scheinbar) völlig Abseitiges anzusprechen; vielleicht auf etwas zwischen Stützstrümpfen und dritten Zähnen. Also auf Dinge, von denen niemand sagt: „So was will ich unbedingt haben.“ Niemand wünscht sich Hörgeräte. Man will wieder besser hören; Hörgeräte an sich will kein Mensch. Darin unterschieden sie sich von all den anderen Produkten, die auf der Messe ausgestellt waren. Hörgeräte waren wie ein Zeichen für jemanden, der man nicht sein möchte. Man nennt das auch Stigmatisierung.

Die ersten smarten Hörgeräte: App-Steuerung und Sound streamen

Uns blieb damals nur, die Segel zu streichen oder die Medienleute für ein Ding zu interessieren, von dem sie überzeugt waren, es würde sie niemals interessiert. Mein Glück war, dass wir nicht einfach Hörgeräte hatten. Wir hatten smarte Hörgeräte. Damals begann gerade alles smart zu werden. Seit ein paar Jahren gab es Smartphones. Es gab Smart-TVs, Smart-Cars usw. Der Hersteller, der mich zur IFA schickte, hatte erste smarten Hörgeräte entwickelt.

Eingefärbte IFA-Werbemotive für smarte Hörtechnik

Das war immerhin was. Wenn mir Medienleute erklärten, dass sie sich nicht für Hörgeräte interessieren, entgegnete ich ihnen, dass es sich hier aber um smarte Hörgeräte handelt. Das wirkte. Denn was smart war, konnte relevant sein, auch wenn Hörgeräte ganz bestimmt völlig irrelevant und erstmal gar nicht smart waren. Die Worte „smart“ und „Hörgerät“ schienen wie diametral entgegengesetzt und ein smartes Hörgerät wie ein Widerspruch in sich. Wie konnte ein Hörgerät smart sein?

Das englische „smart“ bedeutet „intelligent, pfiffig, gewandt, elegant, schick“. Mit „schicken Hörgeräten“ hätte ich niemanden überzeugt. „Smart“ bedeutete vielmehr. Dass es um was mit Smartphones, Apps, Vernetzung und all dem geht. Kurz gesagt, konnten die smarten Hörgeräte das, was heute so ziemlich jedes Hörgerät kann: Sie tauschten die Informationen von rechtem und linkem Ohr aus und konnten über Zubehör drahtlos mit dem TV gekoppelt werden. Sie ließen sich über eine Smartphone-App steuern. Und vom Mobilgerät konnte man jeden Sound – also Musik, Anrufe, Nachrichten usw. – direkt in die Hörgeräte streamen. (Genauer gesagt, ging das Streaming damals nur mit Apple; bis es mit Android ging, brauchte es noch ein paar Jahre.)

Smarte Hörgeräte; vor allem gute Hörgeräte – und obendrein smart

Natürlich waren diese smarten Hörgeräte zuerst einmal sehr gute Hörgeräte. Die großen Hersteller (es gibt vier bis fünf) investieren viel in die Entwicklung neuer Produkte. Es geht immer um Hörgeräte, mit denen man noch besser hört – also noch natürlicher. Weil das natürliche Hören so perfekt ist, lässt es sich mit Technik vermutlich niemals perfekt nachbauen. Doch alle ein bis zwei Jahre haben die Hersteller komplett neue Geräte, mit denen man dem natürlichen Hören wieder ein Stück näherkommt.

Illustrationen zu einem Artikel über smarte Hörgeräte auf die-hörgräte.de

Dass es nun smarte Hörgeräte waren, kam noch extra obendrauf. Wobei zur Vernetzung wie gesagt auch gehört, dass sich linkes und rechtes Gerät miteinander abstimmen, um zum Beispiel den Raum noch besser wahrnehmen, Schall lokalisieren und störende Geräusche filtern zu können. Dann gehört zu smarten Hörgeräten auch, dass man an der Handy-App regeln kann, wie man gerade hört. Natürlich kann man die Hörgeräte nicht komplett neu einstellen, sonst könnte man die eigenen Ohren sogar zusätzlich schädigen. Die eigentliche Programmierung darf nur der Hörakustiker vornehmen, der dafür eine Software hat. Die bietet viel mehr Möglichkeiten als eine Handy-App. Aber die App bietet schon einiges.

Man kann mit ihr zum Beispiel Lautstärke, Höhen und Tiefen regeln. Man kann Programme wechseln – etwa für ein lautes Restaurant oder für freie Natur. Man kann ganze Profile von Einstellungen speichern – zum Beispiel für das Lieblingscafé. Kommt man erneut dorthin, wählt das Hörgerät automatisch die bevorzugte Einstellung vom letzten Mal aus. Man konnte mit der App sogar schon ein verlorenes Hörgerät orten bzw. wiederfinden, wenn man es verlegt oder verloren hatte.

Smarte Hörgeräte – was können, worum einen andere beneiden

Vor zehn Jahren waren all das Dinge, mit denen man IFA-Journalisten interessieren konnte. Wer kann schon sein eigenes Gehör mit einer App steuern? Hinzu kam das Streaming. Mit dem ließen sich die Hörgeräte zugleich in Kopfhörer und Telefon-Headsets verwandeln. Man konnte Musik oder Hörbücher streamen – und dabei immer noch die Umgebung hören. Man konnte Telefonate führen – auch in lauten Räumen, mit beiden Ohren und somit besser als viele, die keine Hörgeräte brauchen. Man konnte sich mit Sprache navigieren lassen, auch in einer lärmenden Straße. Kurz, man konnte Dinge, die andere auch dann nicht konnten, wenn sie noch gut hörten. Man konnte mit Hörgeräten etwas, worum einen andere beneideten. Das war erstaunlich.

Illustrationen zu einem Artikel über smarte Hörgeräte auf die-hörgräte.de

PS 1: In der Hörakustik-Branche wird heute oft nicht mehr von Hörgeräten gesprochen, sondern von Hörsystemen. Ich glaube nicht, dass sich Dinge verändern, nur weil man beschließt, sie anders zu nennen. Zudem versteht niemand außerhalb der Branche, was ein Hörsystem ist. Wer ein Hörgerät braucht, fragt nicht nach einem Hörsystem. Und ein Technik-Journalist auf der IFA weiß schon gar nicht, was ein Hörsystem sein soll. Statt Dinge anders zu nennen, sollte man sie lieber auf neue Art erlebbar machen. Zu erleben, dass Hörgeräte smart sind, ist ja was!

PS 2: Die Fotos zum Beitrag über smarte Hörgeräte zeigen Fotos mit Werbung für schicke Kopfhörer und Earbuds, die ich auf der IFA fotografiert und dann eingefärbt habe.

Eingefärbte IFA-Werbemotive für smarte Hörtechnik

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Zum Beispiel Anna…

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