Die Idee zu diesem zweiten Artikel über das Gleichgewicht entstand vor der kanarischen Insel La Palma auf einem Boot. Auf dem Boot saß ich, weil ich Wale beobachten wollte. Ich hatte Tickets fürs „Whale Watching“ gekauft – mit einer „Wal-Garantie“. Würden wir in den drei Stunden Fahrt keinen einzigen Wal erblicken, bekämen wir Freikarten für eine weitere „Whale-Watching-Tour“. Doch dann lief alles anders als geplant: Ich hatte zuvor nie Probleme mit Wellen und Schwindel, einer meiner Begleiter schon. Die Sonne schien, das Boot schaukelte übers Wasser und nach einer halben Stunde war es so weit: Der Begleiter hatte genug von Walen, obwohl die noch gar nicht erschienen waren. Er wollte raus aus der Sonne und abtauchen. Er machte sich lang in einer kleinen Kajüte, denn es ging ihm schlecht.
Ich ging mit, um ihm in der Not beizustehen, gab ihm irgendwelche Tipps gegen Seekrankheit, die ich irgendwo aufgeschnappt hatte, und blieb unter Deck. Wale hin oder her; im schattigen Raum schien es erträglicher. Nur das Geräusch der Schiffsmotoren und das stete Auf und Ab zeigten an, dass es weiter Richtung offenes Meer ging. Und da ertappte ich mich bei dem Gedanken, Seekrankheit könnte ansteckend sein. Und dann begriff ich, dass Ansteckung gar nicht nötig war: Ein flaues Gefühl, das beiläufig aufgezogen war, hatte sich längst mit diesem Auf und Ab verbündet; ebenso ein Drehen im Kopf. So also war das: seekrank sein. Und so blieb es volle zwei Stunden, bis wir zurück ans Land durften. „Wal-Garantie“ hin oder her… Während der zwei Stunden war ich mir sicher, dass mich niemand ein zweites Mal auf dieses Boot bekommt.
Sinne, die sich widersprechen, und Schwindel
Schwindel ist individuell. Wann unser Gleichgewicht verrücktspielt, ist nicht gleich. Auch Schwindel ist verschieden, das heißt es gibt verschiedene Schwindelarten: Mal schwankt der Untergrund, auf dem man steht oder liegt. Mal scheint sich alles zu drehen – für einen Augenblick oder für Stunden. Oder man fällt. Oder es treten gleichzeitig mehrere dieser Schwindelarten auf. Oder der Schwindel bleibt über Monate.
Auch die Ursachen für Schwindel sind verschieden. Zum Gleichgewicht tragen mehrere Sinne bei. In bestimmten Situationen – etwa in der auf dem Boot – senden verschiedene Sinne – etwa Auge und Gleichgewichtsorgan – widersprüchliche Informationen ans Gehirn. Das Gehirn scheitert daran, diese Widersprüche aufzulösen. Folge sind Schwindel und Übelkeit. (Zum Wechselspiel der Sinne später noch mehr.) Ebenso kann es sein, dass das Gleichgewichtsorgan selbst ein Problem hat. Weil eine Infektion bzw. eine Krankheit seine Funktionstüchtigkeit einschränkt, oder weil es beschädigt wurde oder bei einer Operation ganz entfernt werden musste.
Auch das Alter hat einen Einfluss. Bei Kindern reagiert das Gleichgewichtsorgan oft besonders sensibel; bei langen Reisen mit Auto, Bus oder Flugzeug kann das zum Problem werden. Mit zunehmendem Alter wird das Organ weniger empfindlich. Im hohen Alter wiederum kann es zum Problem werden, dass Sinne weniger zuverlässig Informationen liefern. Folge ist ein höheres Risiko zu stürzen.
Wenn das Gleichgewichtsorgan überlastet ist
Ein Arzt, der mit einem Cochlea-Implantat lebt, berichtete mir im Interview von Schwindelattacken nach der CI-OP, also einer Operation am Innenohr. Schwindel ist nach einer CI-Versorgung nicht die Regel. Doch bei einigen Patienten kommt es vor, dass das Gleichgewichtsorgan nachhaltiger irritiert wird. Bei diesem Arzt war es so heftig, dass er mehrere Tage keinen Schritt allein gehen und nur mit aufrechtem Oberkörper schlafen konnte. Keine schöne Erfahrung. Doch der Arzt, der ansonsten sehr zufrieden mit der Unterstützung durch die Hörprothese war, konnte das für sich einordnen:
„Ich weiß, dass solche Nebenwirkungen nur bei wenigen CI-Patienten auftreten“, erzählte er mir Wochen nach der Behandlung. „Auch viel ältere Patienten haben keinerlei Schwierigkeiten. Ich hatte davor nie Probleme mit Schwindel. Karussellfahren mochte ich allerdings schon als Kind nicht. Zum Glück wurde es in den darauffolgenden Wochen immer besser. Inzwischen kann ich wieder Auto fahren. Nur auf ein Fahrrad würde ich noch nicht steigen.“
Auch nach drei Monate kehrte der Schwindel gelegentlich noch zurück, wie er mir bei einem späteren Termin erzählte: „Meist ist das nur für 30 Sekunden, aber einmal blieb es auch drei, vier Tage. Und es muss noch von der OP stammen; meine HNO-Ärztin hat nämlich nichts weiter gefunden. Aber in letzter Zeit kam es nicht mehr. Toitoitoi!“
Wenn das Gleichgewichtsorgan weg ist
Eine Frau um die 70 erzählte mir davon, wie es ist, wenn man auf einem Ohr plötzlich gar kein Gleichgewichtsorgan mehr hat: Während einer Ohrenoperation hatte man bei ihr einen großflächigen, bösartigen Tumor entdeckt, der zwischen der Hörschnecke und dem Gleichgewichtsorgan saß. Er war dort so versteckt, dass man ihn bei der Voruntersuchung mit einem CT nicht bemerkt hatte. Der Chirurg musste den Tumor entfernen – und mit ihm das winzige Organ. Als die Frau aus der Narkose erwachte, merkte sie davon noch nichts. Der Arzt informierte sie natürlich. Und er verschwieg ihr nicht, dass es ihr schon bald nicht mehr so gut gehen würde.
„Bevor ich einschlafen konnte“, so meine Interview-Partnerin, „gingen mir tausend Gedanken durch den Kopf, sonst schien alles normal. Fünf Stunden später wachte ich auf und nichts war mehr normal. Um mich herum drehte sich alles. Die Wände schwankten. Alles schwankte. Ich klammerte mich am Bett fest, weil ich dachte, ich fliege jeden Moment heraus. Dann musste ich auch noch aufs Klo und wusste nicht wie. Ich klingelte und die Schwester kam. Doch auch mit ihrer Hilfe war ich nicht in der Lage aufzustehen. Mir wurde übel. Alles kam raus. Es war Horror.“
Ein halbes Jahr lang hätte alles nur geschwankt, berichtete sie: „Ich lief wie ein Seemann, der wieder an Land ist, musste mich überall festhalten und brauchte ständig eine Toilette in meiner Nähe, weil mir ständig übel war. Eine Zeit lang wurde ich intravenös ernährt, weil ich das Essen nicht behalten konnte. Es wurde sehr langsam besser. Weil das andere Ohr das Gleichgewicht mit übernommen hat.
Ich habe heute noch Schwindel. Lange, schmale Gänge sind schwierig. Dunkelheit geht überhaupt nicht. Aber ich habe gelernt, damit zu leben. Sogar Fahrradfahren habe ich wieder gelernt. Die erste Zeit bin ich dabei oft auf die Schnauze gefallen.“
Besser ging es ihr, weil es ihrem Gehirn mit der Zeit besser gelang, sich anhand der Informationen von nur einem Gleichgewichtsorgan zu orientieren. In der Klinik, in der man sie operiert hatte, war man sogar überrascht, wie gut der Frau das gelang: „Dafür, dass wir ihr komplettes Gleichgewichtsorgan herausgenommen haben, laufen Sie aber ziemlich gut.“ – „Erst war ich empört“, meinte sie. Den Ärzten hatte sie entgegnet: „Das nennen Sie gut?!“ Aber die versicherten ihr, dass andere Patienten noch viel stärker beeinträchtigt wären. – „Und sie wollten wissen, ob ich früher Sport gemacht habe. Als ich erzählte, dass ich früher Kunstturnerin war, meinten sie: ‚Das sagt alles. Deshalb können Sie vom Körper her so eine Balance halten. Das hilft Ihnen jetzt.‘“
PS1: Die Bilder für den Beitrag zum Schwindeln zeigen schwindelerregende Wellen von einer Bootstour.
PS2: Die beiden erwähnten Interviews findest du in meinem Buch „Hör-Pioniere. Wie das Cochlea-Implantat (CI) nach Deutschland kam“, eine Sammlung von Zeitzeugeninterviews zu den Anfängen der CI-Versorgung in der Bundesrepublik.