Deutsche Akustik

Über den ersten Hörgeräte-Hersteller Europas, Technik-Geschichte Teil 7
Der „Deutsche Akustik“ – ein Hörgerät mit Kohlemikrofon der Deutschen Akustik Gesellschaft, Berlin

Akustik ist die Lehre vom Schall und seiner Ausbreitung. Aber was ist deutsche Akustik? Gibt es – im Unterschied zur deutschen – auch englische, griechische oder brasilianische Akustik? Ich konnte nicht herausfinden, warum der Unternehmer Alfred Hahn (1849 bis 1918) seine Firma Deutsche Akustik Ges.m.b.H. (oder auch Deutsche Akustik Gesellschaft) genannt hat. Über Alfred Hahn und sein Unternehmen gibt es online fast nichts. Nur dass sich das Unternehmen in Berlin befand – in der Nachodstraße 19 (Charlottenburg), dann auch in der Motzstraße 43 (Wilmersdorf) und in der Brienzer Straße 4 (Reinickendorf). In der Sperlgasse in Wien hatte die Deutsche Akustik „eine Niederlage für Österreich-Ungarn“. Auf einem alten Briefkopf, den ich für Rainer Hüls Buch „Die Hand am Ohr“ gefunden hatte, sieht man ein stattliches Fabrikgelände mit mehreren Gebäuden und einem hohen Schornstein. Doch unter den Adressen fand ich nichts, was an Gebäude oder Schornstein erinnert. Sicher ist, die Deutsche Akustik wurde 1905 (oder 1906?) gegründet. Und sie war der erste Hörgeräte-Hersteller Europas.

Deutsche Akustik: „Elektrizität im Dienste der Schwerhörigen“

Was man immer mal findet, ist alte Werbung der Deutschen Akustik: „Was dem ‚Auge‘ die ‚Brille‘ ist dem ‚Ohr‘ der ‚Akustik‘!“ Es heißt „der Akustik“, weil es um „den Apparat“ geht, der als wegweisende Neuerung beworben wurde – so wegweisend, als würde es sich hier tatsächlich um eine neue (deutsche?) Lehre vom Schall handeln.

Elektrizität war damals ungefähr das, was heute Digitalisierung oder KI ist: eine Sache, die nach und nach alle Lebensbereiche erfasst und verändert. Das Leben wurde elektrisch, also grundlegend anders. In einer PR-Anzeige bzw. einem Advertorial (damals sagte man „Reklame“ oder „Propaganda“) informiert die Deutsche Akustik über „Elektrizität im Dienste der Schwerhörigen“:

Illustration zu einem Artikel auf die-hörgräte.de über den ersten Hörgeräte-Hersteller Europas

„Die Neuerung bricht mit allen bisherigen Methoden, vor allem mit der Einführung von Hörrohren in das Ohr, und wendet dagegen eine Methode an, deren Ersatz so einleuchtend für Besseres Hören ist wie der Ersatz einer guten Brille für Besseres Sehen.“

Deutsche Akustik: besser hören mit „Telephon“?

Den entscheidenden Unterschied macht die Elektrizität, die die Schwerhörigkeit – so die Deutsche Akustik – beseitigt: „Der zu vielem berufenen Elektrizität ist tatsächlich der Fortschritt vorbehalten, auch die Schwerhörigkeit zu beheben. Der Apparat besteht aus einem sehr empfindlichen Mikrophon von Handtellergröße, das der Schwerhörige an einen Knopf seines Rockes hängt oder sonst wo angemessen an sich befestigt, in einem ebenso großen Telephon, das durch Doppeldraht in üblicher Weise mit dem Mikrophon verbunden ist und vom Schwerhörigen entweder ans Ohr gehalten oder durch einen Bügel in eine feste Lage zum Ohr gebracht wird, und endlich in einer kleinen Trockenbatterie, welche in die Leitung eingeschaltet ist, und die man bequem in der Tasche trägt.“

Illustration zu einem Artikel auf die-hörgräte.de über den ersten Hörgeräte-Hersteller Europas

Man hatte also ein (Kohle-)Mikrofon, ein Telephon (Hörer) und eine Batterie, die z. B. eine Jackettasche gut ausfüllte. – Interessant ist hier, dass vom Telefon die Rede ist. Über die gemeinsame Entstehungsgeschichte von Telefon und Hörgerät hatten wir hier schon geschrieben. Prinzessin Alexandra sieht mit dem Hörer des Acousticon tatsächlich so aus, als würde sie telefonieren. Nur dass das Mikrofon nicht auf ihren Mund, sondern auf das Um-sie-herum ausgerichtet ist.

Die PR-Anzeige erklärt, wie der Apparat funktioniert: „Die vom Mikrofon, das erheblich grösser als die Ohrmuschel ist, zum Telephon weiter gegebenen Schallwellen erfahren durch den von der Trockenbatterie gebrachten Sukkurs (das Wort musste ich suchen; das sagte man damals für „Hilfe“, „Unterstützung“ oder „Beistand“) bei Erregung der Telephonmagneten eine Verstärkung und gelangen demnach so in verstärkter Form in das Ohr des Schwerhörenden.“

Deutsche Akustik: „älteste und führende Spezialfabrik“

Aus Schallschwingungen wurden Spannungsschwankungen, und aus denen wurden verstärkte bzw. lautere Schallschwingungen. Dann verweist die Deutsche Akustik noch darauf, dass ihre Erfindung von „einigen Berliner Spezialärzten und Elektrotechnikern gemeinsam gemacht wurde“, und zwar in der „älteste(n) und führende(n) Spezialfabrik“.

Illustration zu einem Artikel auf die-hörgräte.de über den ersten Hörgeräte-Hersteller Europas

Klar klingt das alles viel großartiger, als die ersten Hörgeräte es waren. Es ist Werbung (bzw. Propaganda). Bis sich Hörgeräte allgemein etablierten, dauerte es noch 50 Jahre. Die allermeisten schwerhörigen Menschen nutzten erstmal weiter Hörrohre – wenn sie überhaupt eine Hilfe nutzten.

Dennoch kann so ein „Akustik“ viel Freude machen – zumindest heute, und wenn man damit nicht hören muss… Ich habe vor einiger Zeit so einen Hörapparat geschenkt bekommen – noch in der Originalschachtel. Mein „Akustik“ hat sogar einen „Mignon-Hörer“ bzw. eine Olive. (Olive sagt man heute noch für ein kleines Standard-Ohrstück.) Und er hat eine Batteriehülse, also ein hübsches, schwarzes Metallkästchen, in das man die Batterie schieben kann.

Mein „Akustik“: Fortschritt aus der Schachtel

Alternativ gab es meinen „Akustik“ auch mit einer nackten Batterie, auf deren Kontakte was aufgesteckt wurde. Die Gebrauchsanweisung erklärt, dass gerade Herren die Version mit dem Kästchen unbedingt vorziehen sollten. (Das wird nur für die Herren gesagt; die Reklame für den „Akustik“ zeigt hingegen meist junge Damen.)

Der „Deutsche Akustik“ – ein Hörgerät mit Kohlemikrofon der Deutschen Akustik Gesellschaft, Berlin

„Herren stecken die Batteriehülse, auf welcher das Mikrophon (Schallaufnehmer) sitzt, einfach in die Rock- oder Westentasche, und zwar so, daß das Mikrophon mit der Hülse eine gerade Linie bildet (senkrecht). Die Siebseite des Mikrophons muss nach vorne zeigen, damit der Schall besser aufgenommen wird.“

Die Schachtel mit dem „Akustik“ zu öffnen und auszuräumen und diese ganze alte Technik in die Hand zu nehmen, das hat schon was. Man denkt sich zum Beispiel: „So also haben Menschen angefangen, ihrem Hörsinn mit elektrischem Strom auf die Sprünge zu helfen…“ Man sieht den hundert Jahre alten Fortschritt und kann sich fragen, wie man den heutigen Fortschritt in hundert Jahren betrachtet: „So also war es damals mit der KI…“ (Wobei mir KI noch nie in einer so hübschen Schachtel begegnet ist, die jemand in hundert Jahren andächtig öffnen könnte.)

Illustration zu einem Artikel auf die-hörgräte.de über den ersten Hörgeräte-Hersteller Europas

PS 1: Die Fotos zum Beitrag über die Deutsche Akustik Ges.m.b.H. zeigen meinen „Akustik“.

PS 2: Die Deutsche Akustik hat ihren Gründer Alfred Hahn um mehrere Jahrzehnte überlebt und in dieser Zeit immer neue Hörgeräte auf den Markt gebracht. Um 1928 gab es zum Beispiel ein Hörgerät, das “Ich Höre Alles” hieß und eine Regelung für die Lautstärke hatte. Bald darauf gab es das Modell „Akustik Silber“, das so hieß, weil es „den Akustik“ 25 Jahre gab. (Also wie bei der Silbernen Hochzeit, für die man 25 Jahre verheiratet sein muss.)

Der „Deutsche Akustik“ – ein Hörgerät mit Kohlemikrofon der Deutschen Akustik Gesellschaft, Berlin

PS 3: Das Ende der Deutschen Akustik war 1960, denn da wurde sie vom amerikanischen Unternehmen Otarion aufgekauft. Otarion hat auch Hörbrillen gebaut – also Brillen mit Hörgerät drin. Die nannten sich „The LISTERNER“. Sie sehen ziemlich schräg aus und hatten auch tolle Reklame. Ein Werbegesicht war Mrs. Eleanor Roosevelt, die Frau des damaligen US-Präsidenten. Sie war schwerhörig, und sie sagt in der Otarion-Werbung: “Ich wusste nicht, dass ein Hörgerät so gut sein kann wie dieses. Der LISTENER läutet einen neuen Tag für Schwerhörige ein!”


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