Binaural? Die meisten Menschen sind äußerlich gedoppelt: zwei Arme, zwei Beine, zwei Schultern, zwei Augen, zwei Nasenlöcher… Natürlich hat sich die Natur dabei etwas gedacht. Man könnte meinen, sie hätte sich zum Beispiel gedacht: „So ein Mensch hat in seinem Leben einiges vor, da kann schon mal was passieren. Also machen wir das lieber alles doppelt; wenn das eine mal ausfallen sollte, gibt es immer noch ein Zweites davon.“ – Also so eine Art Ersatzteillager. Diese Theorie hinkt natürlich, weil man auf einem Bein nicht stehen kann – zumindest nicht lange. Mit den zwei Ohren ist es ähnlich. Das scheint jedoch längst nicht so klar wie bei anderen Körperteilen. Selbst Ärzte (und Ärztinnen) sagten vor einiger Zeit noch, dass man mit einem Ohr schon gut genug hört und Ohr Nummer 2 nicht so wichtig ist. Das führt direkt zum Thema binaurales Hören – oder zur Frage: Was bringt es, dass wir zwei Ohren haben?
Binaural Hören – klare Vorteile
Wie der Schall auf das Ohr trifft, dann weitergeleitet und verarbeitet wird, hatte ich schon beschrieben. Dass der Schall gleich an zwei Ohren auftrifft, bringt eine Menge: Zunächst einmal deutlich mehr Power, weil ja alles doppelt ankommt. Für die Wahrnehmung hoher Töne und vor allem fürs Verstehen von Sprache ist diese Verdopplung wichtig.
Ein weiterer Punkt ist das Richtungshören. Dank Ohr plus Ohr kann man Schallquellen viel besser orten und hören, woher eine Stimme kommt oder wie weit eine Geräuschquelle entfernt ist. (Darüber demnächst noch mehr.)
Ein weiterer Punkt: Gut hörende Menschen können sich dank ihrer beiden Ohren in einem Raum voller Stimmengewirr, Musik, Geräusche… auf das konzentrieren, was sie interessiert. Das muss keinesfalls das lauteste Geräusch – also etwa der lauteste Sprecher – sein. Dieses Filtern ist vielleicht das Erstaunlichste, was ein intaktes Gehör leisten kann. Wenn ich Menschen interviewe, die ihr eingeschränktes Gehör mit Technik unterstützen, frage ich sie jedes Mal, in welchen Situationen sie trotz ihrer Technik an Grenzen stoßen – obwohl ich mir fast schon denken kann, was sie antworten: Räume mit vielen Sprechern und Geräuschen sind sozusagen der Klassiker; sie werden fast immer genannt.
Binaural Besserhören mit Technik
Bleiben wir beim Hören mit Technik: Binaurales Hören ist auch dann wichtig, wenn das Gehör nachlässt. Wer schwerhörig ist bzw. wird, verliert das räumliche Hören – und damit alle beschriebenen Fähigkeiten. Je nach Stärke des Hörverlusts kann man den Raum mehr oder weniger schlecht mit den Ohren erkunden.
Es kommt vor, dass nur ein Ohr schlechter hört. Dann hilft meist ein Hörgerät. In aller Regel lässt das Gehör jedoch auf beiden Ohren nach. Dann braucht man auf beiden Seiten ein Gerät.
Zudem werden moderne Hörgeräte für binaurales Hören entwickelt. Man hat nicht einfach zwei Hörgeräte. Die beiden arbeiten als System zusammen. Sie tauschen sich über Funk aus und stimmen sich Sekunde für Sekunde miteinander ab. Dadurch wird der Klang noch schöner, Sprache noch verständlicher und störende Geräusche weniger. Wie dieses Filtern ermöglicht wird, ist bei jedem Hersteller etwas anders. Grundsätzlich geht das inzwischen sehr gut, und es wird immer noch besser. – Auch wenn es vielleicht nie gelingen wird, das natürliche Gehör zu 100 Prozent mit Technik nachzubauen, weil das natürliche Hören so perfekt ist.
Binaurales Hörn – nur ein Marketing-Ding?
Die Hörakustiker und die Hörgeräte-Hersteller werben schon lange für binaurales Hören mit zwei Hörgeräten. Da heißt es dann zum Beispiel: „Nimm zwei!“. Oder: „Mit dem Zweiten hört man besser.“ Manchmal hört man aber auch heute noch: „Das erzählen die nur, weil sie dann doppelt so viele Geräte verkaufen!“ Klar freut sich die Hörakustik-Branche, wenn sie mehr Geräte verkauft. Doch daraus zu schlussfolgern, binaurales Hören wäre nur so ein Marketing-Ding, ist komplett falsch. Beim binauralen Hören geht‘s darum, Menschen bestmögliches Hören zu ermöglichen. Und es ist ein Glück, dass das inzwischen nicht nur in Medizin und Forschung Konsens ist, sondern dass es hierzulande auch von Politik und Krankenkassen unterstützt wird.
Mir fällt eine schwerhörige Frau ein, die mir beim Interview stolz erzählt hat, wie sie sich als Jugendliche zwei Hörgeräte beschaffte – in den 80ern in der DDR. Dort gab es keine Hörakustik-Fachgeschäfte. Man bekam einen Termin beim Ohrenarzt. Zum Termin kam ein Mann mit einem Koffer, in dem waren die Hörgeräte. Die Geräte waren oft aus dem Westen, und sie wurden noch etwas eingestellt. Aber abgesehen davon, dass die Technik von damals gar nicht mit dem heutigen Stand vergleichbar war – egal, wie schlecht man hörte; man bekam nur ein Hörgerät.
Meine Interviewpartnerin hatte dem Hörgeräte-Mann jedoch mit solcher Vehemenz erklärt, dass sie zwei Ohren hat und deshalb zwei Geräte haben muss… Es war ihm vermutlich als kleineres Übel erschienen, seinen Koffer ausnahmsweise noch einmal zu öffnen…
Wobei das nicht nur in der DDR ein Thema war. Auch im Westen hieß es oft: Hauptsache man hört was, also reicht ein Gerät. In alten Lehrbüchern kann man das immer noch finden. Diskutiert wurde der Stellenwert des binauralen Hörens auch für das binaurale Hören mit dem Cochlea-Implantat (CI). Wenn Hörgeräte nicht mehr helfen, kann das CI Kindern und ertaubten Erwachsenen ein Leben in der Welt des Hörens eröffnen. Die ersten CI-Implantationen gab es in Deutschland Mitte der 80er Jahre – und anfangs gab es maximal ein CI.
Nach der Jahrtausendwende änderte sich das. Nach und nach wurde binaurales Hören auch mit zwei Cochlea-Implantaten möglich. Welche Vorteile das bringt, davon erzählt die CI-Pionierin Hanna Hermann. Und inzwischen ist das in Deutschland ein medizinischer Standard; einer, um den uns viele Länder beneiden. Wenn es erforderlich ist, wird heute mitunter sogar gleich in einer OP auf beiden Seiten ein CI implantiert.
PS: Die Bilder zum Artikel über binaurales Hören zeigen die zweiten Ohren von Bertolt Brecht, Richard Wagner, Max Liebermann, Voltaire, Lord Byron und Gottfried Keller; fotografiert in Augsburg, Graupa, Berlin, London, Kopenhagen und Zürich.