Hören in drei Ebenen

Über räumliches Hören, Schall und Richtung
Meißner Dom

Die Welt ist keine Scheibe. Jeder von uns ist ein Körper im Raum und alles (der Körper, der Raum usw.) hat drei Ebenen: hoch, tief, breit. Kann sein, dass es noch mehr Ebenen gibt. Die jedoch in unserer Vorstellung unterzubringen, scheint schwierig. (Vielleicht nur, weil die nötige Vorstellungskraft fehlt.) Eine Welt aus zwei Ebenen hingegen kann man sich vorstellen: also die Scheibe. Oder ein Blatt Papier, auf dem wir uns als Strichmännchen (bzw. Strichweibchen) begegnen. Die Menschheit brauchte Jahrtausende, bis jemand herausfand, wie man die dritte Ebene ebenfalls auf einem Blatt Papier unterbringt. Wir leben im Raum, begehen, ertasten, sehen Räume. Und wir hören Räume. Räumliches Hören war für uns überlebenswichtig. (Mitunter ist es das heute noch). Und unsere Fähigkeit zum räumlichen Hören ist so selbstverständlich, dass sie uns oft erst bewusstwird, wenn wir sie vermissen.

Räumliches Hören: das Schallfeld beackern

Tatsächlich kann sich ein geübter Hörer allein mit der Hilfe von Schall erstaunlich gut orientieren. Ich hatte hier schon über den „Fledermaus-Mann“ und die Klick-Technik geschrieben, mit der viele blinde Menschen Räume erkunden. Das Gehör kann vorn und hinten, links und rechts, fern und nah, oben und unten unterscheiden. Ein intaktes, gut trainiertes Gehör kann zum Beispiel mit Klick-Technik die (Schall-)Richtung bis auf 3 Grad genau ermitteln.

Illustration zu einem Beitrag über räumliches Hören auf die-hörgräte.de

Wenn man hört, dann sind da in aller Regel: ein Raum, zwei Ohren und Schall. Man sitzt in einem Schallfeld (auf dem Klangkraut und Klangrüben wuchern), und die beiden Ohren beackern das Feld bzw. hören sie dieses Feld ab – und das an unterschiedlichen Orten: Denn immerhin sind Ohren fast 20 Zentimeter voneinander entfernt. Dazwischen sitzt das Gehirn, mit dem wir eigentlich hören, und das erstaunliche Dinge kann, die „die Wissenschaft“ bisher nur ansatzweise erforscht hat. Es ist nicht abschließend geklärt, wie räumliches Hören funktioniert. Aber es gibt Erklärungen. Die sind so komplex, dass ich sie nur sehr vereinfacht aufschreiben will (und kann).

Cafeteria in der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden

Aus welcher Richtung kommt ein Geräusch? Wie weit ist es von mir entfernt? Wie groß könnte der Raum sein, in dem ich mich befinde? Stehe ich vielleicht vor einer Wand? All das können Ohren beantworten. (Zumindest dann, wenn der Raum nicht besonders präpariert ist, so dass die Wände die Schallwellen aufsaugen bzw. absorbieren.)

Ohrenvergleich: das Richtungshören

Vermutlich gibt es mehrere Dinge, die es dem Gehör ermöglichen, die Richtung eines Geräuschs zu bestimmen: Zum einen trifft der Schall am einen Ohr meist früher auf als am anderen. Diesen Unterschied bemerkt das Gehirn. Selbst wenn der Unterschied nur den Bruchteil einer Sekunde ausmacht; ein intaktes Gehör kann ihn wahrnehmen. Vermutlich merkt es auch, an welchem Punkt die Welle auf das Ohr trifft (bzw. ob die Wellenkurve dann gerade oben oder unten ist.) Doch das soll für Richtungshören eher keine Rolle spielen.

Illustration zu einem Beitrag über räumliches Hören auf die-hörgräte.de

Das Gehör nimmt weiterhin wahr, an welchem Ohr der Schall lauter oder leiser ist. Liegt zwischen Ohr und Schallquelle noch der Kopf, ist der Schall leiser. Also – sagt sich das Gehirn – muss der Schall wohl von der anderen Seite des Kopfes stammen.

Weiterer Punkt ist die Klangfarbe.  -Die Klangfarbe ist immer eine Mischung aus hohen und tiefen Tönen und „Einfärbungen“ durch die räumlichen Gegebenheiten. – Die Klangfarbe lässt zwar keine direkten Rückschlüsse auf die Richtung eines Geräusches zu. Das Gehirn gleicht dessen Klang jedoch mit den Klängen ab, die es schon kennt bzw. erinnert. Und es zieht daraus seine Schlüsse; etwa, dass ein Geräusch wahrscheinlich von hinten bzw. von vorne kommt. Die Klangfarbe soll deshalb nur dann eine Rolle spielen, wenn man einen Raum bereits kennt.

Raum und Trichter – die Ohrmuschel

Es stimmt übrigens nicht ganz, dass man für räumliches Hören zwei Ohren braucht. Auch mit einem Ohr kann man Schall räumlich wahrnehmen. Das hat mit der Ohrmuschel zu tun, die den Schall wie ein Trichter ins Ohr leitet. Die Muschel ist bei jedem anders geformt; das Trichtern geht also sehr individuell. Aber Schall von vorne gelangt anders in den Trichter als Schall von hinten, auch das kann man wahrnehmen.

Besucherbergwerk „Marie Louise Stolln“

Das „Eintrichtern“ bringt bereits einen räumlichen Eindruck. Der ist jedoch längst nicht so gut wie räumliches Hören mit zwei Ohren; in lauten Räumen schon gar nicht. (Und bei sehr tiefem Schall geht es sowieso nicht. Da hat man auch beim Hören mit zwei Ohren die gleiche Intensität, weil die Schallwellen länger und flacher sind und es deshalb auch keine Rolle spielt, ob zwischen Welle und Ohr noch ein Kopf sitzt.)

Und wie schon das Beispiel vom „Fledermaus-Mann“ zeigt: Man kann Richtungshören trainieren. Wenn man das Hören mit Technik neu lernt, kann man räumliches Hören in einem Hörtraining üben. Wer hören kann, übt das aber auch – schon als Kind. Denn an sich ist diese Fähigkeit zwar angeboren. Sie verbessert sich jedoch in der frühen Kindheit immer weiter. Man geht davon aus, dass diese Entwicklung auch bei einem voll intakten Gehör erst im Alter von acht Jahren abgeschlossen ist.

Illustration zu einem Beitrag über räumliches Hören auf die-hörgräte.de

PS: Die Bilder zum Artikel über räumliches Hören zeigen Räume, die ich auf einer sommerlichen Radtour von Berlin bis nach Sachsen fotografiert habe: die alte Brikett-Fabrik „Louise“ in Uebigau-Wahrenbrück, die Klosterkirche St. Marien Doberlug, den Meißner Dom, das Besucherbergwerk „Marie Louise Stolln“ Bad Gottleuba-Berggießhübel, die Cafeteria in der Gemäldegalerie Alte Meister und das Militärhistorisches Museum der Bundeswehr in Dresden und einen Raum mit Katze, der irgendwo als Foto in einem Schaufenster hing.

Raum mit Katze, der irgendwo als Foto in einem Schaufenster hing

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