Im vorangegangenen Artikel ging es um die Zeit der Aufklärung, die viele Dinge veränderte – auch für Menschen, die nicht hören konnten. Alle sollten vernünftig werden. Also mussten alle lernen können – auch gehörlose und stark schwerhörige Kinder. In Paris, dem Zentrum der Aufklärung, lebte Abbé de L’Epée, der sich darum kümmerte.
Abbé de l’Epée – Pionier, Schöpfer, Vater
Für das, was der Abbé damals tat, hat er später viele würdigende Beinamen bekommen. Man nennt ihn „Pionier der Gehörlosenpädagogik“, „Schöpfer der französischen Gebärdensprache“ oder „Vater der Gehörlosen“. Solche Titel klingen bedeutungsschwer und man kann sie sich leicht merken. Mitunter sind sie nicht ganz richtig. Abbé de l’Epée hat keine Gebärdensprache erschaffen. Genau genommen war er auch kein katholischer Priester (also ein Abbé). Aber das ist egal. Alle nennen ihn Abbé de l’Epée. Sein ursprünglicher Name war Charles-Michel de l’Épée. Das merkt man sich nicht so leicht.
Abbé de l’Epée, der in einer wohlhabenden Pariser Familie aufwuchs, wollte eigentlich Priester werden. Und er hatte schon früh einen eigenen Kopf; was gut zur Zeit der Aufklärung passte. Er schlug eine Priesterlaufbahn ein, obwohl sein Vater, ein bekannter Architekt, das nicht wollte. Dass der Abbé dann doch nicht Priester wurde, hatte gleichfalls mit seinem eigenen Kopf zu tun: Er machte sich seine Gedanken über Gott und den Glauben, und ihm gefiel, was der Theologe Cornelius Jansen schon 200 Jahre zuvor festgestellt hatte; etwa, dass sich die Kirche um die Armen und Verlassenen kümmern soll und nicht um die Reichen.
Zur Zeit, als Abbé de l’Epée Priester werden wollte, war die Kirche jedoch ganz anderer Meinung – die Aufklärung fing gerade erst an. Abbé de l’Epée sollte die Lehren von Cornelius Jansen verdammen. Er weigerte sich, bekam keine Priesterweihe und studierte was anderes. Sein Glaube blieb ihm weiter wichtig.
Das Lehrstück der gehörlosen Zwillingsschwestern
Dann hat Abbé de l’Epée ein Schlüsselerlebnis: Er trifft zwei gehörlose Mädchen, von denen er einerseits etwas entscheidendes lernt, und die andererseits seine Hilfe brauchen. Die beiden waren Zwillingsschwestern. Sie stammten aus ärmlichen Verhältnissen. Aber sie konnten sich mit Zeichen und Gebärden unterhalten und sie hatten so einiges gelernt. Ein Priester hatte sie unterrichtet. Doch der war gestorben.
Abbé de l’Epée hat die Begegnung später so beschrieben: „Ich bin Lehrer der Taubstummen geworden, ohne dass ich damals wusste, dass es jemals andere vor mir gegeben hatte. Der P. Vanin, der achtbare Priester der Kongregation der christlichen Lehre, hatte vermittelst Bildern (einem an sich sehr schwachen und ungewissen Hilfsmittel) den Unterricht von zwei taubstumm geborenen Zwillingsschwestern begonnen. Als dieser barmherzige Geistliche gestorben war, blieben die beiden armen Mädchen ohne alle Hilfe. Da ich nun fürchtete, dass diese beiden Kinder ohne Kenntnis ihrer Religion leben und sterben würden, wenn ich nicht irgendein Mittel versuchte, sie zu unterrichten, wurde ich von Mitleid für Sie geführt und ließ sie mir bringen, um mein Möglichstes an Ihnen zu tun.“
Er nahm die armen Zwillingsschwestern in seinem Haus auf und begann, sie zu unterrichten. Denn er hatte von den beiden gelernt, dass taube Menschen so wie andere „zu jeder Wissenschaft fähig“ sind – vorausgesetzt, sie können kommunizieren und Wissen sammeln. Dafür mussten sie eine Sprache sowie lesen und schreiben lernen. – Abbé de l’Epée war nicht der erste, der das erkannte. Doch seine Erkenntnis widersprach allem, was damals allgemein über Menschen, die nicht hören können, gedacht wurde. Und sie passte gut in die beginnende neue Zeit.
Gebärden als Muttersprache
Wie gesagt, konnten sich die Mädchen schon gut verständigen. Es war nicht so, dass Abbé de l’Epée die Gebärdensprache erfand, um sie ihnen beizubringen. Es muss vielmehr so gewesen sein, dass erst er selbst lernte, wie sich die beiden unterhielten. Und dann hat er das weiterentwickelt – zu einer „natur- und vernunftsgemäßen Erziehung“.
Dafür wählte Abbé de l’Epée eine Kombination aus Gesten, Gebärden und Lauten, wobei Gebärden klar den Vorrang hatten. Ein Grundsatz des Abbé lautete: Taub geborene Menschen oder Kinder, die vor dem mündlichen Spracherwerb taub geworden sind, können keine mündliche Sprache als Muttersprache haben; die einzige Muttersprache der gehörlosen Kinder ist die Sprache der Gesten. Deshalb müsse man „durch die Augen in ihren Geist hineingehen lassen“, was bei Hörenden „durch die Ohren hineingegangen ist“.
Dass andere Gehörlosenpädagogen völlig anderer Meinung waren als Abbé de l’Epée, wird noch Folgen haben. Doch zuerst einmal machte der sich an sein Bildungskonzept. Er entwickelte viele neue Gesten und Gebärden. Und er brachte sie in eine Ordnung (bzw. Grammatik). Diese Ordnung soll ganz anders gewesen sein als die, mit der sich Gehörlose in den Straßen von Paris verständigten. Er hat sich stark an der Ordnung des Französischen orientiert. Er hat Wortarten festgelegt, die aus einem Wortstamm und einem Zusatz geformt bzw. gebärdet werden sollten. Er hat zum Beispiel auch Artikel festgelegt. Es sollte nicht nur „Mann“ oder „Frau“ gebärdet werden, sondern „der Mann“ und „die Frau“. Für „der“ (l’homme) bewegte man die Hand dorthin, wo Männer damals immer einen Hut hatten. Und für „die“ (la femme) griff man ans Ohr, weil Frauen dort Ohrringe trugen.
Heute unterscheidet sich die Grammatik der Gebärdensprache deutlich von der geschriebenen Sprache (die ja eigentlich von der Lautsprache kommt). Doch Abbé de l’Epée ging es vermutlich darum, den Gehörlosen auf diese Art auch einen Zugang zur Schriftsprache zu ermöglichen. Auch die Buchstaben sollten die Gehörlosen lernen, damit sie zum Beispiel ihre Namen buchstabieren können. Dafür entwickelte er das „alphabet manuel“, also das Fingeralphabet.
Die Idee von einer Weltsprache – in Grenzen
Das, was der Abbé aufgriff und weiterentwickelte, gilt heute als die erste französische Gebärdensprache. Er hat diese Sprache in umfangreichen Werken festgehalten; etwa in einem Lexikon, das erst nach seinem Tod beendet wurde. Und Abbé de l’Epée hat dafür gesorgt, dass die Sprache tatsächlich unterrichtet wurde – darüber dann im nächsten Artikel.
Übrigens hat Abbé de l’Epée selbst die Sprache nicht als französische Gebärdensprache verstanden, sondern als Weltsprache. Das entsprach ganz dem Gedanken vom Weltbürgertum, den die Aufklärung hatte. Heute sind Gebärdensprachen von Land zu Land verschieden, doch Abbé de l’Epée war überzeugt, dass sich gehörlose Menschen aus der ganzen Welt in einer gemeinsamen Sprache verständigen würden.
Grenzen in der Verständigung erwartete er aber dennoch – und zwar mit Blick auf die Bereitschaft der Hörenden, Gebärdensprache zu lernen: „Die Welt wird niemals lernen, ihre Finger und Augen in größter Eile arbeiten zu lassen, nur um das Vergnügen zu haben, sich mit den Taubstummen unterhalten zu können. Das einzige Mittel, diese der menschlichen Gesellschaft völlig widerzugeben, ist, sie zu lehren, mit den Augen zu hören und sich mündlich auszudrücken. Bei vielen unserer Schüler gelingt uns das, obgleich sie nicht bei uns wohnen, sondern nur zweimal wöchentlich in unsere Unterrichtsstunden kommen.“
PS 1: Die Bilder zum Arikel über den Abbé – der übrigens mitunter auch Abbé de L’Epée, also mit großem L, geschrieben wird – zeigen den Abbé de l’Epée.
PS 2: Für den Artikel über den Abbé de l’Epée habe ich insbesondere die „Geschichte der Sonderpädagogik“ von Sieglinde Luise Ellger-Rüttgardt genutzt.