Vom „Still-Werden“

Über den Roman „Quallen haben keine Ohren“ von Adèle Rosenfeld
Illustration zu einem Artikel über den Roman "Quallen haben keine Ohren“ von Adèle Rosenfeld

Auf die Welt zu kommen und nicht hören zu können ist das eine. Auf die Welt zu kommen und das Gehör zu verlieren, vielleicht über Jahre und nach und nach nicht mehr hören zu können, ist etwas anderes. Bei meiner Arbeit begegne ich Menschen, die das selbst erlebt haben. Louise, die Roman-Heldin und Ich-Erzählerin in „Quallen haben keine Ohren“ erlebt es auch. Und Adèle Rosenfeld, die Autorin des Romans, beschreibt diese Erlebnisse auf ganz besondere Weise.

„Quallen haben keine Ohren“ – zwischen Wirklichkeit und Nicht-Verstehen

Die äußere Handlung von „Quallen haben keine Ohren“, also das, was in der wirklichen, alltäglichen Welt des Romans geschieht, ist schnell erzählt: Louise, eine junge Frau, die seit ihrem fünften Lebensjahr mit Hörgeräten hört, wird in der Klinik ein Cochlea-Implantat empfohlen. Die Menschen, denen sie im Alltag regelmäßig begegnet, sind ihre Mutter, der Psychologe und der Logopäde, ein „Nachbar-Freund“, die Freundin Anna. Louise sucht Arbeit, hat ein Vorstellungsgespräch im Rathaus und bekommt eine befristete Anstellung. Sie hat Kollegen, die vordergründig nett und eigentlich furchtbar sind. Deshalb wird sie von der Abteilung für die Geburtsurkunden in den Keller versetzt, wo sie allein das Sterberegister digitalisiert. Dann begegnet sie Thomas…

Doch das alles verrät über „Quallen haben keine Ohren“ nicht viel. Denn dieser wirklichen, der hörenden Welt gehört Louise gar nicht wirklich an.

Quallenbild - Lichtinstallation „Light Matters“ von ACT Lighting Design beim Amsterdam Light Festival 2017

Warum das so ist, macht der Roman auf wundersame Weise erlebbar: „Die Außenwelt war zu einer Quelle der Angst geworden, doch irgendwie musste ich die Wohnung, in der ich mich eingemauert hatte, mit Lebensmitteln versorgen. Im Supermarkt verschmolzen die Stimmen zu einem einzigen Echo. Eine Fieberepidemie hatte alle Geräusche befallen: Die Konservendosen, die der Lagerist in die Regale einräumte, klapperten mit den Zähnen; die an der Kasse piepsenden Strichcodes mischten sich wie halluzinierte Splitter unter die Wortakzente der Frauen; das Werkzeug des Metzgers gab ein heiseres Husten von sich. An der Kasse verstand ich »Bulgur« oder »Burur«. »Sie (Rauschen), oder?«, 1 × sagte ich »ja«, ohne zu verstehen, 2 × sagte ich »nein«, ohne zu verstehen, 3 × sagte ich »ich weiß nicht«, ohne zu verstehen. Die Stimmung wurde angespannter, ich zahlte und wir gingen verärgert auseinander, der Kassierer und ich.“

Ein Soldat, die Botanikerin und ein einäugiger Hund

Louise ist in einem ständigen Kampf mit ihrem Nicht-Verstehen. Sie selbst spricht vom „Krieg“ zwischen ihren „beiden Parteien, der tauben und der hörenden“. Sie vermeidet Situationen, in denen sie hören muss. In denen sie gezwungen ist, ihren Blick an die Lippen der anderen zu heften, um doch kaum etwas zu verstehen: „Waren die Lippen verschlossen, hatte ich panische Angst, sie könnten sich öffnen. Ich wollte alle diese Münder zukleben. Vor den Schwierigkeiten, die sie mir stellten, davonlaufen.“

Louise versteckt sich. Einer ihrer „allgemeinen Grundsätze“ heißt: „um zu überleben, immer so tun, als ob man jemand anders sei.“ Der Roman bewegt sich zwischen zwei Welten – und zwar nicht nur zwischen der Welt der Hörenden und der der Stille. Louises Welt ist vielmehr der Raum zwischen hören und nicht hören können, eine Distanz zwischen hörender Wirklichkeit und ihrer (nicht hörenden) Abwesenheit. In diesem Raum begegnet sie phantastischen Figuren – einem Soldaten, der Botanikerin und einem einäugigen Hund. Die drei geistern durch Louises Alltag, erscheinen in allen möglichen und unmöglichen Situationen, mischen sich mit den Bruchstücken der von Louise verstandenen Wirklichkeit, greifen ins Geschehen ein, ohne dass jemand außer ihr sie je zu Gesicht bekommt.

Das Klangherbarium und das Besserwissen der Experten

„Quallen haben keine Ohren“ beschreibt sehr genau und in vielen poetischen Bildern, wie es ist, wenn man nicht mehr versteht. Doch die phantastischen Drei, die Louise begleiten, sind keine poetische Spielerei. Das Nicht-Verstehen ist kein befreiender Freiraum der Phantasie. Louise hat sich den Raum nicht ausgesucht. Sie sitzt in ihm fest und sieht die Gefahr: Ihre Geister werden sie schon bald ganz aus der Wirklichkeit verdrängen.

Illustration zu einem Artikel über den Roman "Quallen haben keine Ohren“ von Adèle Rosenfeld

Ihr „Still-Werden“ schreitet voran. Im Phantasieraum bastelt Louise an einem Klangherbarium, um die Klänge festzuhalten, solange sie sie noch erinnern kann: „Es konnte passieren, dass alles, was ich nicht täglich in meinem Klangherbarium verzeichnete, aus meinen Ohren gelöscht wurde.“

Alle Experten, der Logopäde, der Psychologe, die Ärzte, wissen natürlich, was Louise tun muss. Auch ihre Mutter weiß das natürlich. Nur ist keiner von ihnen Louise, die die Entscheidung treffen muss, ob sie sich mit dem CI implantieren lässt oder nicht, und die die Einwürfe der anderen langsam satt hat: „Sie wussten offenbar besser als ich, wie ich mit meinem Fall umgehen oder nicht umgehen sollte.“

Ein Cochlea-Implantat oder eine Dose Thunfisch

Wenn Louise Thomas beobachtet, ahnt sie, dass sie mit dem Implantat besser hören könnte: „Ich hatte das Gefühl, zu erahnen, was ich hätte sein sollen, wenn ich nicht die gewesen wäre, die ich war; oder die, die ich sein könnte, wenn mir das Implantat ermöglichen würde, normal zu werden. Wenn ich ihm zusah, schien mir das Lebenkönnen angeboren zu sein.“

In „Quallen haben keine Ohren“ geht es eigentlich nicht um eine Entscheidung zwischen Implantat und Gebärdensprache – auch wenn das in einigen Buchkritiken so steht. Das Thema Gebärdensprache wird im Buch sehr schnell abgehandelt; es ist eben nicht die Sprache der Erzählerin.

Auch deshalb scheint die Entscheidung für das CI vernünftig und drängend, doch Louise möchte nur fliehen: „Ich sei eine ausgezeichnete Kandidatin: Meine Gehörneuronen seien aktiv und ich selbst noch jung. Dementsprechend forderte er mich auf, ernsthaft über eine Lösung mit Cochlea-Implantat nachzudenken. Die Entscheidung verlange keinen Aufschub. Natürlich könne ich ihm Fragen stellen. Aber ich hatte nichts zu sagen. Ich hatte nur einen Wunsch: Ich sehnte mich auf den Gipfel des Himalayas, allein, mit einer Dose Thunfisch.“

Quallenbild - Lichtinstallation „Light Matters“ von ACT Lighting Design beim Amsterdam Light Festival 2017

Letzten Endes kann sich nur Louise entscheiden – für das Implantat und ohne zu wissen, was ihre Entscheidung bedeutet: „Ich war allein auf offener See, der Körper fröstelte, weil er sich von einer Klanginsel entfernte. Wie eine Schiffbrüchige wartete ich auf das Boot, das mich zum Kontinent zurückbringen würde, hatte Angst, ihn nicht wiederzuerkennen.“

Die Autorin von „Quallen haben keine Ohren“

„Es ist diese Spannung zwischen Realität und Imagination, die ich darstellen wollte, bis zur finalen Entscheidung“, sagt Adèle Rosenfeld, die „Quallen haben keine Ohren“ geschrieben hat. Es ist ihr erster Roman. Die Autorin ist 1986 geboren und lebt in Paris.

Als ich „Quallen haben keine Ohren“ las, wusste ich nicht, wie gut Adèle Rosenfeld hören kann. Doch eigentlich war klar, dass so ein Buch nur jemand schreiben kann, der es selbst erlebt hat. – Wobei Adèle Rosenfeld natürlich nicht die Louise ist, die sie für den Roman erschaffen hat.

„Wie sie bin ich von Geburt an schwerhörig und auch ich habe einen Gehörverlust erlitten, der die Frage nach einem Implantat aufwarf“, erklärt sie in einem Interview. „Ich habe hingegen Louise das durchleben lassen, was ich mich immer noch frage: das Einsetzen eines Implantats. Das Fiktive ist dennoch besonders präsent im Text, da ich eine vollwertige Figur erschaffen habe mit ihrem eigenen emotionalen Räderwerk und einem Leben, das ganz ihr gehört.“

Adèle Rosenfeld hat also kein Implantat. Und sie sagt: „Die Fantasie und das Schreiben sind heute eine Art Wiedergutmachung für die lückenhafte Sprache, für die Zeit, in der ich nicht verstehe, was ich höre.“ Und über Louise sagt sie: „Ich lasse sie eines meiner möglichen Leben leben.“ – Konsequenterweise beschreibt der Roman nicht, wie Louise mit dem CI hört, das ihre Schöpferin selbst (noch) nicht kennt.

Illustration zu einem Artikel über den Roman "Quallen haben keine Ohren“ von Adèle Rosenfeld

PS 1: Adèle Rosenfelds Roman “Quallen haben keine Ohren“ wurde von Nicola Denis übersetzt und ist 2023 im Suhrkamp-Verlag erschienen.

PS 2: Die Zitate von Adèle Rosenfeld stammen aus dem Interview „Wenn ich schreibe, ist es, als würde ich die Welt wieder geradebiegen“, das Dagmar Kaindl 2023 für das Online-Magazin Buchkultur geschrieben hat.

PS 3: Die Fotos zum Beitrag über den Roman „Quallen haben keine Ohren“ zeigen die Lichtinstallation „Light Matters“ von ACT Lighting Design beim Amsterdam Light Festival 2017.


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