In den letzten Artikeln hatte ich über die Aufklärung, über die Anfänge der Hörgeschädigten-Pädagogik und über „wilde Kinder“ geschrieben. Als ich mich an das Thema machte, hatte ich zugleich die Idee, auf diesem Blog hin und wieder mal einen Film vorzustellen, in dem es um gehörlose bzw. schwerhörige Menschen geht. So stieß ich auch auf „L’enfant sauvage“ („Der Wolfsjunge“) des französischen Regisseurs François Truffaut, der 1970 ins Kino kam. Genau genommen ist das gar kein Film über Schwerhörigkeit. Aber er passt hier trotzdem. Vor allem ist es ein großartiger Film – auch nach 50 Jahren noch.
Die Geschichte des „Wolfsjungen“
Der Film basiert auf tatsächlichen Begebenheiten: 1798 fangen Bauern in einem Wald bei Aveyron (Südfrankreich) einen völlig verwilderten Jungen, der weder sprechen noch aufrecht gehen kann. Der „Wolfsjunge“ wird eingesperrt und schließlich nach Paris überführt – in das Institut für Taubstumme in der Rue Saint-Jacques, also in jene Einrichtung, die auf die 1771 von Abbé de l’Épée gegründete, weltweit erste Schule für taube Kinder zurückgeht. (Allerdings hatte sich deren Ausrichtung um 1800 schon sehr verändert.)
Der Film zeigt den Weg des Jungen. Er wird an einer Leine geführt – wie ein verängstigtes Tier, das nur fliehen will. Er wird von Schaulustigen umringt und vom Anstaltsleiter penibel untersucht. Er wird der feinen Pariser Gesellschaft präsentiert, die dafür in Scharen in das Institut pilgert.
Einige Szenen zeigen das Leben im damaligen Institut. Die anderen Kinder gebärden miteinander. Sie versuchen, sich mit dem „Wolfsjungen“ in Gebärdensprache zu verständigen. Doch das misslingt. Der „Wolfsjunge“ bleibt auch für sie ein wildes Wesen, das nicht spricht, an allem riecht und keiner Norm genügt. Die Pariser Gesellschaft zeigt sich enttäuscht; der Junge ist nicht das, was man sich erwartet hatte. Der Anstaltsleiter will ihn aus seinem Institut entfernen und in die „Irrenanstalt“ abschieben.
Dokumentation einer „Menschen-Erziehung“
Doch noch ist nicht alles verloren: Jean Itard, der junge Arzt des Instituts, gespielt vom Regisseur selbst, will sich des Jungen annehmen. Er erhält die Erlaubnis, ihn in seinem Haus aufzunehmen, ihn gemeinsam mit seiner Haushälterin zu versorgen und vor allem: den Versuch zu unternehmen, aus dem „Wolfsjungen“ einen „zivilisierten Menschen“ zu formen.
Dieser Langzeitversuch, den der Arzt mit Unterstützung seiner Haushälterin unternimmt, wird nun Schritt für Schritt dokumentiert, fast wie in einer Reportage. Dem Jungen werden Haare und Nägel geschnitten. Er wird heißen Bädern unterzogen, um sein Temperaturempfinden zu wecken. Er soll aufrecht gehen lernen, mit dem Löffel essen, in Schuhen laufen… Der Junge erhält den Namen Victor, weil O der erste Laut ist, den er artikulieren kann. Er soll lernen, dass er Ö (eau / Wasser) und lä (lait / Milch) sagen muss, wenn er Wasser oder Milch haben möchte. Er soll Gegenstände Bildern zuordnen. Er soll seinen Namen schreiben.
All diese Übungen – unterlegt von Zitaten aus den Aufzeichnungen, die der historische Jean Itard über seinen Zögling machte – reihen sich Szene an Szene. – Das klingt vielleicht etwas langatmig. Die eigentliche Spannung des Films ergibt sich jedoch aus der Beziehung zwischen dem „Wolfsjungen“ Victor (toll gespielt von Jean-Pierre Cargol) und seinem „Menschen-Erzieher“ Itard. Ein ständiger Konflikt. Das Aufeinanderprallen zweier Welten.
„Wolfsjunge“ – alles offen und nach wie vor aktuell
Es gibt „kleine Fortschritte“ und immer wieder Rückschläge, die Arzt und Jungen an ihre Grenzen führen. Der Film endet damit, dass Victor in den Wald flieht, nach Tagen jedoch von sich aus zu seinem Erzieher zurückkehrt. Ein großer Erfolg für Itard. Der Junge soll sich ausruhen, dann wird man den Unterricht fortsetzen. Doch was das genau bedeutet, ob sich der Konflikt überhaupt lösen lässt, wessen Erfolg das dann wäre…
Es gibt kein Happy End und keine Lösung. Jedenfalls legt der Film keine Lösung nahe. Und er stellt sich auf keine der beiden Seiten. Deshalb ist es auch kein Problem, dass hier schon steht, wie alles endet. Man muss „Der Wolfsjunge“ erleben, auch oder gerade weil er so gar nicht den Filmen entspricht, die man heute überall gezeigt bekommt. Im Übrigen war der Film auch vor 50 Jahren ganz anders als das, was die Leute gewohnt waren. Kinofilme waren längst bunt. „Der Wolfsjunge“ hingegen ist schwarz-weiß, gedreht in kurzen, ruhigen Szenen und Überblendungen, die an Stummfilme oder an alte 8-Milimeter-Filme erinnern. Musik gibt es über lange Phasen gar nicht; später ausschließlich Motive aus zwei Konzerten von Antonio Vivaldi, die immer wiederkehren.
Einen 50 Jahre alten Film kann man auch in der Zeit sehen, in der er entstanden ist. Zum einen war es für Truffaut ein sehr persönlicher Film. Truffaut gilt heute als einer der großen Regisseure des 20. Jahrhunderts, doch als Kind galt er als schwer erziehbar, wurde zeitweise in Heime gesteckt, und das Filmemachen hat er sich selbst beigebracht. – Außerdem war damals die Zeit der 68-er und der großen Studentenunruhen. Eine ganze Generation begehrte auf gegen die Werte einer etablierten und starren bürgerlichen Welt. Gerade die Erziehung junger Menschen sollte revolutioniert werden. Wie erfolgreich die 68-er dabei waren, kann man sich heute fragen. „Wolfsjunge“ ist jedenfalls immer noch aktuell. Man könnte ihn auch als einen Film zum großen Thema Inklusion verstehen.
PS 1: Die Bilder zum Artikel zeigen zwei Wölfe im „Wolfenbos“ des ARTIS Zoo in Amsterdam.
PS 2: Einen (englischen) Kino-Trailer zum Film „Der Wolfsjunge“ (The wild child) gibt es hier. Und was es über den tatsächlichen Victor von Aveyron und über den tatsächlichen Arzt Jean Itard im Zusammenhang mit dem Thema Hören sonst noch zu berichten gibt, schreibe ich später noch auf.