Hörapparate aus dem Wernerwerk

Über den Phonophor der Firma Siemens & Halske, Technik-Geschichte Teil 9
Eine Collage aus alter Werbung für den Phonophor von Siemens & Halske

Zuletzt ging es um den ersten Hörgeräte-Hersteller Europas, die Deutsche Akustik Gesellschaft, um ihr Hörgerät, den AKUSTIK, und um die Hörapparate-Konkurrenz. Der größte Konkurrent des AKUSTIK hieß: Phonophor. Er war das erste Produkt eines Hörgeräte-Herstellers, der später weltweit der Größte war.

Wernerwerk und Siemensstadt

Hier und da steht, dass Werner von Siemens ein Hörgerät erfunden hätte. Das stimmt nicht. Aber Werner von Siemens hat 1847 zusammen mit Johann Georg Halske die Firma Siemens & Halske gegründet. Die hat in einer kleinen Werkstatt vor allem Telegrafen gebaut. Es war der Anfang von dem, was man heute als Siemens kennt.

Etwa 30 Jahre nach der Gründung hat Werner von Siemens ein Telefon mit Hufeisenmagnet erfunden. Das Telefon verbesserte die Qualität der Sprachübertragung deutlich. Und das war auch für Schwerhörige toll: Sie konnten dadurch Worte, die elektronisch verstärkt wurden, viel besser verstehen. Aber es war ein Telefon, kein Hörgerät.

Siemens & Halske wurde mit der Zeit immer größer. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entsteht in Spandau – das damals noch nicht Berlin war – ein neuer Ortsteil, die Siemensstadt. Dort gibt es Werksanlagen für Elektromotoren und Dynamos, eine Eisengießerei, eine „Versuchsanstalt für elektrische Bahnen“ und eine Fertigungsstätte für Fernmeldegeräte – das Wernerwerk. Das hat seinen Namen von Werner von Siemens. Außerdem wurden in Siemensstadt auch Wohnungen für die Mitarbeiter gebaut.

Ein Erfinder + ein Schwerhöriger = Phonophor

Ein paar Jahre nach der Markteinführung des AKUSTIK baute Siemens & Halske tatsächlich ein Hörgerät – jenen Phonophor. Das kam so, wie es bei den frühen Hörgeräte-Erfindern eigentlich immer war: Ein Erfinder kennt einen schwerhörigen Menschen, dem ein Hörgerät helfen könnte. Also sagt sich der Erfinder: „Dann erfinde ich so ein Gerät.“

Im Fall von Siemens & Halske und dem Phonophor hieß der Schwerhörige Carl Kloenne. Er war Direktor der Deutschen Bank, war hochgradig schwerhörig, wünschte sich einen elektrischen Hörapparat und war ein Freund von Professor August Raps, der das Wernerwerk leitete, in dem die Fernmeldeapparate gebaut wurden.

Illustration zu einem Artikel über den Phonophor auf die-hörgräte.de

Der Professor hatte selbst keine Zeit, den Phonophor zu erfinden. Aber er hatte einen Assistenten, Louis Weber, der Tag für Tag in einem kleinen Labor im Wernerwerk saß und an Lautsprechern und Mikrofonen für die Fernmelder tüftelte. Der Ausgangspunkt für die Erfindung des Phonophor war also wiederum das Telefon (bzw. der Fernmeldeapparat).

Bankdirektor Kloenne und der Phonophor

Wie gesagt, gab es bereits den AKUSTIK, der nur wenige Kilometer vom Wernerwerk hergestellt wurde. Das wird auch Louis Weber gewusst haben. Aber er wollte eine bessere Tonqualität. Und sein Hörgerät sollte „möglichst klein sein“, damit es „den Hörenden recht wenig belästigte“. Also erfindet er so ein Ding und Bankdirektor Kloenne probierte es aus. Aber was auch immer Louis Weber den Direktor probieren lässt – Herr Kloenne ist damit nicht zufrieden und Louis Weber ist allmählich verzweifelt.

Schließlich wagt der Erfinder einen letzten Versuch: Louis Weber baut ein besonders empfindliches Kohle-Mikrofon. Und statt nur einem Mikrofon nimmt er gleich zwei – für mehr Power. Hinzu kam eine 3-Volt-Battterie. Und er nimmt einen doppelten Hörer – also für jedes Ohr einen.

Eine Collage aus alter Werbung für den Phonophor von Siemens & Halske

Als Bankdirektor Kloenne den doppelten Hörer sieht, winkt er gleich ab: Das mache gar keinen Sinn, weil er auf einem Ohr völlig taub sei. Aber irgendwie schafft es Louis Weber, dass sich Herr Kloenne die Hörer doch aufsetzt. – Und „siehe da, Geheimrat Kloenne konnte jetzt auch auf dem angeblich tauben Ohr mithören und machte ein zufriedenes Gesicht über den Erfolg.“

Der Phonophor, der Krieg und Ohropax

Die Story von Direktor Kloenne zeigt, dass auch taube Ohren fast immer ein bisschen was hören können; taub ist selten gleich taub. Zum anderen war es die Geburtsstunde des Es-Ha-Phonophor. Es-Ha stand für S & H, also Siemens & Halske. Zwei Jahre später, Ende 1913, ging der Phonophor in Serienproduktion. Und noch später notierte Louis Weber: „Ich erinnere mich gern des Tages, als mir Geheimrat Kloenne freudig bewegt erzählte, dass er mit Hilfe des neuen Hörapparats wieder seit langer Zeit an einer Gesellschaft teilnehmen konnte.“

Das klingt nach einer der Hörgeräte-Erfolgsstorys, wie sie bis heute erzählt werden. (Weil es bis heute eine Herausforderung ist, an einer Gesellschaft teilzunehmen, wenn man schlecht hört – auch mit Hörgeräten, die hundert Jahre nach dem Phonophor gebaut wurden…)

Ein Jahr nach Markteinführung des Phonophor begann der Krieg. Im Wernerwerk wurde Technik für den Krieg gebaut. Weil viele Siemens-Mitarbeiter als Soldaten kämpften, gab es im Wernerwerk immer mehr Mitarbeiterinnen. Und der Phonophor musste den Krieg über warten, denn er war nicht kriegswichtig. Anders als Ohropax, dass man gleichfalls in Berlin erfunden hatte, und das durch den gleichen Krieg zum Erfolg wurde…

Phonophor oder Damenhandtasche oder Klappkamera

Als der Krieg vorbei war, war Louis Weber froh, dass er endlich wieder Zeit für seinen „Schwerhörigenapparat“ hatte. Siemens & Halske baut nun die Hörgeräte-Fertigung aus. Der Phonophor bekommt noch bessere Mikrofone und noch bessere Lautsprecher. Er wird noch leistungsfähiger und klingt noch besser. Und das Gehäuse des Schallempfängers baut man nicht mehr aus Metall, sondern aus dem neuen Kunststoff Bakelit. Das macht den Phonophor deutlich leichter.

In einer Werbung aus den 20er Jahren heißt es: „Plagen Sie sich nicht noch länger mit Ihrem Gehörleiden, sondern erproben Sie unseren seit Jahren von vielen Schwerhörigen begutachteten elektrischen Hörapparat ‚Phonophor’ mit Ohrsprecher, der nach eingehenden Versuchen jetzt wesentlich verbessert worden ist.“

Illustration zu einem Artikel über den Phonophor auf die-hörgräte.de

Außerdem gibt es dann mehrere Phonophore: Für die Damen einen, bei dem Batterie und Mikrofon in einer Handtasche eingebaut sind. Und für die Herren einen, der wie eine Klappkamera aussieht. Klappkameras waren damals beliebt und man trug sie am Gürtel. S & H ließ sich was einfallen, damit der Phonophor möglichst nicht als das erkannt wurde, was er war. Er sollte sozusagen gut getarnt bzw. unsichtbar werden.

„Haselnuss“, Conrad Röntgen und Phonophor mit Knochenleitung

Außerdem gab es den Phonophor jetzt nicht nur mit doppeltem, sondern auch mit drei- und vierfachem Schallempfänger – für unterschiedliche Grade an Schwerhörigkeit. (Das gab es beim AKUSTIK auch.) Man wollte individuell passende Hörlösungen bieten. Ein Jahr nach dem Phonophor erfand Louis Weber ein „Ohrtelefon“, das „Haselnuss“ hieß und eine Membran aus tierischer Trommelfellhaut hatte. Der Hörer war erst für Telefonistinnen in Fernsprechämtern bestimmt, wurde dann aber auch als alternativer Ohrhörer für den neuen Phonophor angeboten. So einen bekam auch Wilhelm Conrad Röntgen geschenkt. Mitarbeiter von Siemens & Halske hatten nämlich erfahren, dass der Entdecker der Röntgen-Strahlen immer schlechter hört.

Louis Weber hat außerdem Vielhöreranlagen gebaut, mit denen viele schwerhörige Leute gleichzeitig zuhören konnten – etwa bei einem Vortrag. Für den Phonophor gab es auch einen Knochenleitungshörer. Den setzte man sich hinter dem Ohr an den Schädelknochen, dann wurde der Schall über den Knochen übertragen.

Und der Phonophor verkaufte sich gut – sogar im Ausland. In den USA werden Mitte der 1920er Jahre bereits mehrere tausend Phonophore pro Jahr verkauft. Also baute Siemens & Halske die Hörgeräte-Produktion im Wernerwerk noch weiter aus.

Phonophor-Verkäufer – eine Art Vorläufer der Hörakustiker

Erfolgreich wird der Phonophor nicht nur durch die Technik. Bei Siemens & Halske stellte man fest, dass sich Hörgeräte nicht wie andere elektrische Geräte verkaufen – also nicht wie Lampen oder Ventilatoren. Viele Schwerhörige glaubten nicht gleich, dass ihnen ein elektrisches Gerät helfen kann. Um sie umzustimmen, gab es Werbung. Man arbeitete mit Ohrenärzten zusammen. Und man setzte Verkäufer ein, die besonders geschult wurden. Sie sollten für jeden Kunden den passenden Phonophor aussuchen und erklären, wie man den bedienen muss, und wie man sich an ihn gewöhnt.

Hörakustiker gab es noch nicht. Das Handwerk entstand erst in den 1960er Jahren. Aber die Phonophor-Verkäufer von damals waren eine Art Vorläufer der Hörakustiker. In der „Anleitung für den Vertrieb der Phonophore“ heißt es zum Beispiel, dass man sich als Phonophor-Berater „liebevoll mit der Eigenart der Schwerhörigen vertraut machen“ muss. Außerdem sollte man natürlich „die guten Eigenschaften unserer Phonophore überzeugend“ nachweisen.

Eine Collage aus alter Werbung für den Phonophor von Siemens & Halske

PS 1: Die Abbildungen zum Artikel über den Phonophor zeigen Collagen aus alter Phonophor-Werbung.

PS 2: Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Siemensstadt stark zerstört und alles musste neu aufgebaut werden. Die Medizintechnik wurde in die Siemens-Reiniger-Werke in Erlangen umgesiedelt – mit ihr die Hörgeräte. Die Siemens Audiologische Technik war später der größte Hörgeräte-Hersteller der Welt. Dann hat Siemens alles verkauft.

PS 3: Für den Artikel habe ich u. a. die Präsentation „Die Geschichte der Siemens-Hörsysteme“ von 2014 genutzt.


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