Den Schallplattenladen „Mr Dead & Mrs Free“, der in der Bülowstraße 5 in Berlin-Schöneberg war, gibt es schon lange nicht mehr. Online findet man noch einen Artikel aus einer großen Tageszeitung: einen Nachruf auf „Mr Dead & Mrs Free“, einen Plattenladen und eine „Legende“, die „den Musikgeschmack der Stadt seit den Achtzigern“ geprägt hat. Eröffnet hatte Inhaber Volker Quante seinen Plattenladen 1983. Anfang 2018 klebte er einen Zettel in die Tür, dass „Mr Dead & Mrs Free“ ab 3. Februar für immer schließt. Ein paar Jahre davor war ich bei ihm in der Bülowstraße und hab ihn für eine Zeitschrift und ein Buchprojekt interviewt.
Ein Schallplattenladen als Paradies
1983 lebte ich noch in der DDR. Die meisten Leute dort hielten den Westen für eine Art Paradies. Vor allem, weil sie sich vorstellten, dass sie dort alles kaufen könnten, was es im Osten nicht gab. Für mich gabs vor allem nicht genug Musik; nicht die, die ich hören wollte. Hätte ich mir 1983 mein persönliches „West-Paradies“ vorgestellt, wäre vor meinem inneren Auge ein Plattenladen wie „Mr Dead & Mrs Free“ erschienen. Ich kannte nur Schallplattenläden in Ost-Berlin – den hinterm Centrum-Warenhaus, den polnischen und den ungarischen in der Karl-Liebknecht-Straße oder den kleinen, tristen Laden Hermann-Duncker- Ecke Ehrlichstraße in Karlshorst. Es gab Platten von DDR-Bands, von denen ich manche heute noch mag; aber die bekam man in der DDR überall.
Hatte man viel Glück, erwischte man einen Moment, an dem aus irgendeinem unvorhersehbaren Grund in einem solchen Laden Stapel nagelneuer Amiga-Lizenz-Schallplatten ausgepackt und ausgelegt wurden. Dann bildete sich eine Warteschlange. Stand die Schlange schon, stellte man sich hinten an und versuchte den Gesprächen der Wartenden zu entnehmen, was einen eventuell noch erwarten würde, wenn man den Kopf der Schlange erreicht hätte. Vielleicht Rolling Stones, ZZ-Top, Pink Floyd. Vielleicht nur Nana Mouskouri; aber die ließ sich eventuell noch tauschen…
In einem Plattenladen, der (sehr entfernt) so war wie „Mr Dead & Mrs Free“ stand ich erstmals Mitte der 1980er in Budapest. Plötzlich fand ich in den Regalen so ziemlich jede Platte, die ich mir vorstellen konnte, und noch viel mehr. Ich blätterte mit nervösen Fingern durch die Scheiben. Zumindest ansehen musste ich sie alle. Es war ein Rausch, eine Art Kulturschock. Und ein Traum, der viel zu groß war, um ihn mir leisten zu können. Das komplette Urlaubsgeld ging drauf für „Floodland“ von den Sisters of Mercy, Made in Yogoslavia. Die Lizenz-Platten von Amiga kosteten immer nur 16 DDR-Mark plus zehn Pfennige. (Die zehn Pfennig waren der Kulturgroschen.) Dass man für 16,10 mitten in Karlshorst (DDR) einen Schatz wie „Wish you were here“ erobern konnte, glaubte man erst, wenn man es tatsächlich erlebt hatte.
Ostplatten, Westplatten, keine Platten
Nach der Wende kaufte ich mir einen neuen Plattenspieler, der sogar CD-Player hatte, außerdem Schallplatten. Die Platten von Amiga gab‘s jetzt für eine D-Mark im Ausverkauf. Dann gab es auch Westplatten im Ausverkauf. Und irgendwann machte es keinen Sinn mehr, Schallplatten wie in der DDR zu kaufen, wenn man ja doch alle kaufen konnte, und wenn sich die DDR, in der man die Platten nicht bekam, erledigt hatte. Außerdem gab es jetzt CDs und man fragte sich, worauf das hinausläuft. Ob man nur noch CDs kaufen soll. Ob ich die Schallplatten-Schätze, die ich im Osten erobert hatte, jetzt noch mal auf CD brauche, weil das die Zukunft ist. Dann gab es keine Schallplatten mehr. In großen Plattenläden wie WOM standen nur noch CDs.
Nie hätte ich meine Schallplatten-Schätze aus der DDR-Zeit entsorgt. Der Plattenspieler mit dem CD-Player drin, den ich nach der Wende gekauft hatte, war längst Schrott. Einen neuen gab es nicht und die Platten waren zum Schweigen verdammt. Ich schleppte die Plattenkisten von einer Wohnung in die nächste; wie eine Art Altlast, die an einem hängt und die man nicht loswird. Schließlich standen die Kisten im Keller.
Convenience Food und Schallplatten-Schätze
Als ich mich Anfang der 2010er Jahre zu einem Interview mit Volker Quante von „Mr Dead & Mrs Free“ verabredete, sollte es um das Thema „Vinyl“ gehen. So hießen Schallplatten jetzt. Sogar auf der Musik-Etage im „Kulturkaufhaus Dussmann“ entdeckte ich zu meinem Erstaunen ein Vinyl-Regal: nagelneue, eingeschweißte Pressungen der Platten, von denen einige seit Jahren im Keller lagen. Die Vorstellung, für richtig viel Geld und nach so langer Zeit wieder Platten zu kaufen, schien das komplette Gegenteil von dem, wie Musik jetzt sonst so erworben wurde: MP3 war der Trend. Musik hatte man nicht mehr auf Platten, die man unbedingt haben musste, sondern auf Datenträgern. Songs waren nur noch Dateien, die sich beliebig oft kopieren, teilen, sortieren, anwählen und abwählen ließen. Und Platten waren mehr was für DJs, die sie für eigene Sachen benutzten – als Material, für irgendwelche Sounds oder Beats. Die fügten das zusammen wie Reste ausgeweideter Autos.
Wer kauft heute noch CDs? Damals brach der CD-Markt gerade ein. – „Beim ‚Convenience-Food‘ wird die CD mehr und mehr von MP3 aus dem Markt gedrängt“, erklärte mir Volker Quante. „Vinyl hingegen wird bleiben – als das Format, das man kauft, um es nach Hause zu tragen. Auch in den letzten Jahrzehnten war die Schallplatte nie wirklich verschwunden. Als wir unseren Laden eröffneten, kamen gerade die ersten CDs auf den Markt. Am Anfang hatten wir keine einzige CD. Die waren uns damals einfach zu teuer; und es gab auch keinen, der so richtig den Sinn von CDs sah.“
Während ich meine Schallplatten-Schätze all die Jahre ins Zwischenlager abgeschoben hatte, hatten „Mr Dead & Mrs Free“ unbeirrt weiter Platten verkauft. Das war irgendwie großartig, weil in Volker Quantes Plattenladen etwas von dem überlebt hatte, was mir einst lieb und teuer war – und es vielleicht wieder werden konnte. Andererseits schien es mir nun höchste Zeit, meinen Platten-Schatz aus der Versenkung zu heben. Den Platz im Keller hatte er nicht verdient. Was, wenn sie Platten dort Schaden genommen hatten?! Wo man einen brauchbaren Plattenspieler bekommt, erfuhr ich ebenfalls von Volker Quante.
PS 1: Die Fotos zum Artikel über Schallplatten und das Interview mit Volker Quante von „Mr Dead & Mrs Free“ zeigen ein paar Schallplatten-Schätze von damals – Scheiben von Amiga (DDR), Balkanton (Bulgarien), Melodia (Sowjetunion) sowie aus der Tschechoslowakei.
PS 2: Der zweite Teil meines Artikels über Schallplatten und das Interview mit Volker Quante von „Mr Dead & Mrs Free“ folgt demnächst.