Wie angekündigt, hier noch mehr zum Thema Selbsthilfe für Menschen, die mit Technik hören: Wer zur Hör-Selbsthilfe geht, macht das erstmal nicht, um anderen zu helfen, sondern weil er selbst Hilfe sucht. Das Tolle ist, dass man so auch anderen helfen kann: Alle haben mehr oder weniger die gleichen Herausforderungen. Jeder macht ähnliche Erfahrungen oder hat sie schon hinter sich. Wo der eine Lösungen sucht, kann der andere sie aus dem Ärmel schütteln… Außerdem sagen viele, dass sie in der Hör-Selbsthilfe erleben, nicht die einzigen zu sein. Sie fühlen sich anders als unter Leuten, die die Herausforderungen und Erfahrungen nicht kennen.
Hör-Selbsthilfe: Rentner, Berufstätige, Studenten, Eltern und Kinder…
Es gibt viele Herausforderungen, die in der Hör-Selbsthilfe Thema sind. Weil Hören fast überall hineinspielt, gibt es fast überall Herausforderungen: bei der Benutzung der Hörtechnik, bei Ärzten und Therapeuten, bei Krankenkassen, bei juristischen Dingen, in Beruf, Ausbildung, Schule und überhaupt beim Zusammenleben mit gut Hörenden. Hinzu kommt, dass sich in der Hör-Selbsthilfe alle möglichen Menschen begegnen – Junge, Alte, Eltern von Kindern, die mit Hörtechnik hören, Rentner, Berufstätige, Azubis, Studenten. – Jeder kann jeden Tag sein Gehör verlieren oder schwerhörig oder gehörlos zur Welt kommen und dann zur Hör-Selbsthilfe finden.
Es gibt auch Gruppen, in denen nur ältere Leute oder nur Eltern mit ihren Kindern oder nur junge Leute sind. Die können da umso besser über gleiche Herausforderungen reden. Oft ist Hör-Selbsthilfe auch bunt gemischt. Vieles ist für Ältere und Jüngere gleich herausfordernd; oder man profitiert anders voneinander: Für Kinder und Jugendliche, die mit CI oder Hörgerät aufwachsen, soll es sehr hilfreich sein, Erwachsene kennenzulernen, die gleichfalls mit Hörtechnik leben. Für Ältere kann es hilfreich sein, mit Jüngeren in Kontakt zu kommen, die mit neuer Technik oft selbstverständlicher umgehen usw.
„Selbsthilfegruppen haben sich im Laufe der Geschichte stets dort gebildet, wo eine Gruppe von Menschen in gemeinsamer Not war und ihre Situation erkannte“, hat Michael Lukas Moeller gesagt. Der hat sich in den 1970er Jahren mit Selbsthilfe beschäftigt (ganz allgemein, also nicht nur mit Hör-Selbsthilfe). Michael Lukas Moeller war ein Vordenker für die neue Selbsthilfebewegung im damaligen Westdeutschland. Er hat die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen (DAG-SHG) mit aufgebaut, zu der die Nationale Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen (NAKOS) gehört. DAG-SHG und NAKOS sind nicht nur eine Struktur, bei der alle anderen Selbsthilfen an der richtigen Adresse sind. Sie haben auch dafür gesorgt, dass Selbsthilfegruppen inzwischen Teil des Gesundheitssystems sind. Deshalb können die Gruppen auch Geld von den Krankenkassen bekommen.
Verbände und Organisationen der Hör-Selbsthilfe
In der DDR haben sich die Leute zwar auch geholfen, aber richtige Selbsthilfegruppen gab es erst nach der Wende. Für die Gehörlosen- und Hör-Selbsthilfe gab es den Gehörlosen- und Schwerhörigen-Verband der DDR (GSV). Ein Verband für alle gehörlosen und schwerhörigen Menschen, solche mit Gebärden- und solche mit Lautsprache; wobei die Gebärdensprache noch nicht anerkannt war, auch nicht im Westen. In Westdeutschland waren Gehörlose und Schwerhörige schon damals getrennt organisiert. Hör-Selbsthilfe gab es bereits lange vor der BRD und der DDR.
Der Deutschen Schwerhörigenbund (DSB) entstand schon 1901. Der erste Verein wurde in Berlin von Freifrau Margarethe von Witzleben gegründet. Er soll die erste Hör-Selbsthilfe auf der ganzen Welt gewesen sein; und Margarethe von Witzleben kämpfte für viele Anliegen schwerhöriger Menschen (darüber vielleicht ein andermal). Um 1900 hatten die Leute nicht mal Hörgeräte; die wurden gerade erst erfunden. Als es ab den 1980er Jahren immer mehr taube Menschen gab, die mit dem Cochlea-Implantat hörten, entstand neben dem DSB die DCIG, also die Deutsche Cochlea Implantat Gesellschaft. Die CI-Träger bildeten ihre eigene Hör-Selbsthilfe. Im DSB waren diejenigen mit Hörgerät und in der DCIG die mit CI.
Damals waren Hörgeräte und Cochlea-Implantate zwei Paar Schuhe, sie schienen nicht zusammenzupassen und die Selbsthilfe auch nicht. Inzwischen sieht man das anders. DSB und DCIG haben jetzt einen gemeinsamen Dachverband gegründet, den Deutschen Hörverband (DHV), der für alle sein soll, die mit Technik hören und Lautsprache sprechen. Außerdem gibt es den Deutschen Gehörlosen-Bund (DGB) für gehörlose Menschen, die Gebärdensprache sprechen. Das sind genug Verbände für einen Artikel; es sind längst nicht alle…
Hör-Selbsthilfe: Förmlichkeit und Demokratie
Neulich war ich bei der Mitgliederversammlung der Berlin-Brandenburgischen Cochlea Implantat Gesellschaft (BBCIG), die gehört zur Deutschen Cochlea Implantat Gesellschaft (DCIG). Erstmal war es wie bei den meisten Vereinen: sehr förmlich. Es gab eine Tagesordnung. Nachdem die Technik gecheckt war und alle verstehen konnten, wurde abgestimmt, ob die Tagesordnung in Ordnung ist: Ja-Stimmen, Gegenstimmen, Enthaltungen. Außerdem wurde bestimmt, wer das Protokoll schreibt. Der Vorstand verlas den Jahresbericht und die Schatzmeisterin den Kassenbericht. Dann wurde der Vorstand entlastet. Dann wurden Kassenprüfer gewählt: Ja-Stimmen, Gegenstimmen, Enthaltungen usw.
Das klingt vermutlich langweilig; war es irgendwie auch. Wichtig sind die Förmlichkeiten trotzdem, weil Demokratie nur funktioniert, wenn es Regeln gibt, an die sich alle halten. Als die Förmlichkeiten erledigt waren, gab es hitzige Diskussionen und am Ende haben sich alle angeregt unterhalten. Auch wer noch keinen kennt, kommt schnell ins Gespräch. Man fragt einfach, ob der Gegenüber auch ein CI oder Hörgeräte hat oder wie lange er das schon hat… Schon geht das Gespräch los.
Alles unter einem Hut – die Besonderheit der Hör-Selbsthilfe
Das Besondere an Hör-Selbsthilfe ist die Vielfalt der Themen, um die es geht. Als ich neulich bei der Selbsthilfegruppe der „Hörschnecken“ in Hagen war, hielt der Audiotherapeut Peter Dieler einen Vortrag über Selbsthilfe. Unter anderem ging es darum, dass es ganz unterschiedliche Selbsthilfen gibt. Es gibt Gruppen, die sich psychisch und sozial helfen – wie die Anonymen Alkoholiker. Es gibt Gruppen, die sich medizinisch helfen – wie die Rheumaliga. Dann gibt es Gruppen, in denen sich das Bewusstsein verändern soll, in denen man zum Beispiel lernt, mit Ängsten oder Aggressionen klarzukommen. Es gibt auch Selbsthilfegruppen, bei denen es mehr um Lebensgestaltung als um ernsthafte Probleme geht – etwa die Landfrauen. Und es gibt Gruppen, in denen es um Probleme mit Arbeit oder mit Ausbildung geht. Und es gibt Bürgerinitiativen, bei denen man gemeinsam etwas bewirken will. – Ganz verschiedene Gruppen, alle irgendwie Selbsthilfe.
Aber die Hör-Selbsthilfe passt in keine der Kategorien. Vielmehr passen alle Kategorien auch in die Hör-Selbsthilfe. Wer mit Technik hört, hat mehr oder weniger mit allem zu tun bzw. zu kämpfen. Deshalb sei es mitunter auch schwer, alle Herausforderungen unter einen Hut zu bekommen, so Peter Dieler.
Außerdem meinte er, dass das, was in den Gruppen der Hör-Selbsthilfe passiert, eine Art Psychotherapie ist, von der niemand merkt, dass es wie Psychotherapie ist. Dass das so ist, sei gut, weil die Leute meist keine Psychotherapie wollen – aber trotzdem etwas wie Psychotherapie brauchen. Hör-Selbsthilfe funktioniert wie eine Psychotherapie ohne Therapeuten. Den gibt es in einer Hör-Selbsthilfegruppe nämlich nicht. Es gibt einen Selbsthilfegruppenleiter, aber keinen Chef. Der Leiter der Gruppe hat organisatorisch den Hut auf, ist aber sonst genau wie alle anderen.
PS: Die Fotos zum Beitrag zeigen „Bolgewas“ (die Zwiebelpflanze), eine Skulptur des niederländischen Künstlers Paul Koning (1916-1998), die im Oosterpark in Amsterdam steht: „Wie eine Blume, die einen sonnigen Tag begrüßt, erhebt sich dieser gut gelaunte Mann aus dem Boden.“ Das schien mir für das Thema Hör-Selbsthilfe ganz passend.