Last Christmas, I gave you my heart… – Wenn man sie hören kann, dann kann Musik wunderbar, belanglos oder quälend sein – je nachdem. Was den einen tief im Innersten berührt, lässt den anderen kalt oder bringt ihn auf die Palme. Das war schon so, als es Musik nur dann gab, wenn live musiziert oder gesungen wurde. Ohrwürmer – bzw. den Begriff „Ohrwurm“ – gibt es jedoch erst seit zirka 150 Jahren; also ungefähr seitdem Musik auch als Konserve genutzt werden kann: Ein Knopfdruck, schon ist es nicht mehr so unheimlich still bzw. so diffus geräuschvoll, sondern: akustisch geordnet und atmosphärisch – durch ein Lied; passend zur Vorweihnachtszeit zum Beispiel.
Ohrwürmer – special, special…
Problem ist, dass man manch quälender Musik nur schwer entkommt – schon gar nicht zur Vorweihnachtszeit. In der kringeln sich die Ohrwürmer um jeden öffentlichen Tannenzweig, sie hängen an den Lichterketten und kriechen durch den Deko-Schnee. Du durchquerst nichtsahnend eine Fußgängerzone. Schon hängt dir was im Kopf: I’ll give it to someone special. special. – Dieses aufreizende special. Und dann nochmal special, wie ein Echo, gefolgt von elektrischen 80er Jahre Glöckchen abwärts: ding-ding-ding-ding-ding, ding-ding-ding-ding-ding…
Mehr ist es gar nicht. Mehr braucht es auch nicht. Selbst wenn du zwei Straßen weiter den atmosphärischen Vorweihnachtspegeln entronnen bist, wenn du nichts mehr hörst als das Rauschen der vorbeirauschenden Stadt, ist es immer noch da: special, special, und ding-ding-ding-ding-ding… lassen dich jetzt nicht mehr los. Eine Endlosschleife fährt durch dein Hirn. (Dazu siehst du eventuell gut gelaunte junge Leute mit auffälligen Föhnfrisuren durch Schnee stapfen. Sie behängen sich mit Lametta und tragen fröhlich Holzscheite zum Kamin.)
Das Wesen der Ohrwürmer
Ohrwürmern ist es egal, ob man sie mag oder nicht. Sie sind auch sonst keine komplizierten Wesen, sondern einfach gestrickt, damit man sie leicht wiedererkennt. Sie sind weit verbreitet, denn sonst wären sie keine Ohrwürmer. Man muss ihnen immer wieder begegnen, damit man sie abspeichert. Und sie brauchen ein gewisses etwas, einen Überraschungseffekt, der auch nach hundertfachem Hören noch wirkt (special, special). Einfacher Rhythmus (da, da, da, da, da, da, da, da). Die Melodie sollte gut singbar sein, am besten auch tanzbar. Damit sie singbar ist, braucht man einen Text. Der Text ist wie der Klebstoff, der so einem Wurm die nötige Im-Ohr-Haftung verleiht. Am besten klebt der Wurm, wenn es ein Text mit Emotionen ist: Tell me, baby, do you recognize me?
Dass Musik in unseren Gehirnen ein kleines Feuerwerk auslösen kann, hatten wir hier schon geschrieben. Wenn diese Musik einen Text hat, der Text auf unser Gefühl zielt, er zudem singbar und die Musik tanzbar ist, dann werden verschiedene Hirnregionen aktiv. Exzellente Ohrwürmer schaffen genau das. Sie funktionieren auch, wenn man sie Jahre nicht mehr gehört hat.
Warum eigentlich Ohrwürmer?
Werden Ohrwürmer bildlich dargestellt, sehen sie wie Würmer aus, die in Ohren kriechen. Dabei waren mit Ohrwürmern ursprünglich Käfer gemeint – nämlich Ohrenkneifer. Von denen dachte man früher, dass sie in Ohren kriechen und sich mit ihren Zangen dort festhalten. Doch so etwas tun Käfer nicht – schon wegen der Schutzfunktion des Cerumens (Ohrenschmalz). Das soll für Käfer derart stinken, dass sie Ohren nie freiwillig aufsuchen würden. Ohrenkneifer (bzw. Ohrwürmer) sind für Menschen vollkommen harmlos. Ihre Zangen haben sie, um Angreifer abzuwehren und kleine Beutetiere zu knacken (zu denen Ohren nicht zählen).
Die Vorstellung, dass ein Lied wie ein Ohrenkneifer oder Ohrwurm sein kann, ist wie gesagt etwa 150 Jahre alt. Bemerkenswert in dem Zusammenhang: 1877 gelingt es Thomas Alva Edison erstmals, mit seinem Phongraphen eine menschliche Stimme einzufangen und wiederzugeben. Zehn Jahre später lässt sich Emil Berliner seine Idee einer Schallplatte patentieren. Ohrwürmer – wie wir sie heute kennen – sind also ungefähr so alt wie reproduzierbare Musik.
Das macht Sinn. Denn von da an konnte ein Lied massenhaft verkauft und unbegrenzt gehört werden – jederzeit und überall auf der Welt. Lieder konnten sich nun ausbreiten wie Ohrenkneifer (bzw. Ohrwürmer), die auf allen Kontinenten zu Hause sind – ausgenommen die Antarktis.
Ohrwürmer – eine Frage der Entspannung
Nun könnte man meinen, das weihnachtliche Ohrwürmer in diesem Jahr schlechte Karten haben. Schließlich herrscht Pandemie. Mit Weihnachtsbudenzauber läuft nicht viel. Dem Einzelhandel geht es schlecht. O du Fröhliche scheint mit Atemschutzmaske ein wenig deplatziert und Last Christmas war ja auch schon Corona…
Aber so einfach ist das mit Ohrwürmern nicht. – I’ll give it to someone special (special)… – Ein guter Ohrwurm kommt auch dann, wenn er aktuell gar nicht zu hören ist. Es reicht eine winzige Erinnerung, die das Gehirn mit diesem… – special (special)… Weißt du noch, letztes Jahr, da…? – Nur irgendein unterschwelliger, versteckter Hinweis, der Hauch einer Schneeflocke, Pfefferkuchengewürz, eine 80er Jahre Föhn-Frisur, irgendwas, das dieses Lied ins Hirn bringt, obwohl man es bestimmt nicht hinein gebeten hat, damit es sich dort festsetzt.
Ohrwürmer kommen, wenn man eher nichts denkt. Wenn alles entspannt ist, die Gedanken nicht ganz da sind, der Kopf untätig ist. Dann bleibt genügend Raum, damit aus einer Kleinigkeit ein Ohrwurm schlüpfen kann, um sich auszubreiten und sich in endlosen Schleifen durch Hirnrinden zu winden. (Und so plötzlich, wie er gekommen ist, kann er auch wieder verschwinden.)
Wie Ohrwürmer funktionieren
But the very next day, you gave it away… Musik wird im Hörzentrum, dem sogenannten auditorischen Kortex, verarbeitet. Das Hörzentrum spielt auch dann eine Rolle, wenn wir etwas hören, was gar nicht hörbar ist. Einen Tinnitus zum Beispiel, der dauerhaft bleiben und sehr unangenehm werden kann. Oder Ohrwürmer. Auch die sollen in bestimmten Fällen dauerhaft quälend werden können – etwa bei Menschen mit Demenz.
Interessant ist, dass es sich bei Ohrwürmern nie um komplette Lieder handelt. Sie sind Fragmente in Dauerschleife. Wie eine Schallplatte mit einem Sprung. Man hört: I’ll give it to someone special (special)… Und das Gehirn versucht, den Rest zusammen zu klauben, kommt damit jedoch nicht weit. Also beginnt das, was im Kopf sitzt, wieder von vorn. Man sucht nach dem Text, singt innerlich mit. Der Text treibt die Suche nach der Melodie voran und die Melodie die Suche nach dem Text – ohne fündig zu werden.
Was gegen Ohrwürmer hilft
Drei Dinge, die gegen weihnachtliche Ohrwürmer helfen, hat unsere Recherche erbracht:
1. Ablenkung: Wenn man es schafft, den Ohrwurm nicht mehr zu beachten, dann verschwindet er. Auch da ähneln Ohrwürmer einem Tinnitus; je mehr man sich auf sie konzentriert, desto quälender wird es. Also gib deinem untätigen Arbeitsgedächtnis ein bisschen was zu tun. (Wobei es keine so gute Idee wäre, jetzt an andere Lieder zu denken. Denn dann wird der eine Ohrwurm schnell durch den nächsten ersetzt.)
2. Ein Lied: Genauer gesagt, das Lied, von dem man froh wäre, es endlich hinter sich zu lassen. Das scheint absurd, funktioniert aber. Wenn man sich das Ohrwurmlied von Anfang bis Ende anhört, es am besten noch mitsingt, muss das Gehirn nicht länger nach verblassten Liedzeilen suchen. Es erinnert sich und gibt Ruhe.
3. Kaugummi: Das Kauen von Kaugummi soll tatsächlich helfen. Bestimmte Teile des Gehirns sind nämlich nicht nur für Ohrwürmer zuständig, sondern auch für Kaubewegung. Und beides auf einmal schafft das Gehirn nicht. Je mehr man kaut, umso weniger gelingt es ihm, an das Lied zu denken. Es sei denn, man beginnt, im Takt von Last Christmas zu kauen. Dann hat der Ohrwurm gewonnen.
PS 1: Die Bilder zum Beitrag über weihnachtliche Ohrwürmer zeigen „Weihnachtliches“.
PS 2: Wenn du jetzt einen weihnachtlichen Ohrwurm hast und ihn wieder loswerden möchtest, hast du mit einem Klick auf den folgenden Link Gelegenheit dazu.
PS 3: Und wenn du Last Christmas auf neue Art erleben willst, dann klicke besser diesen Link an und lass dir von Chilly Gonzales die Ohren öffnen.