Taubstummengasse

Über eine der ersten Gehörlosenschulen Europas, Wiener Melange Teil 1
Illustration zum Artikel über die Wiener Taubstummengasse auf www.die-hörgräte.de

Weil immer noch Corona ist, bin ich sehr froh, dass ich die letzten Monate hin und wieder verreisen und dabei Ideen, Geschichten, Bilder für neue Blog-Artikel sammeln konnte. In Wien, wo ich auch zu tun hatte, gab es einige Geschichten – Material für eine neue Artikelserie über Hören und Nicht-Hören. In Teil 1 dieser „Wiener Melange“ geht’s um die Taubstummengasse.

Warum taubstumm falsch ist…

Wenn man Wien Hauptbahnhof aussteigt, um mit der U1 bis Karlsplatz zu fahren, sind es nur zwei Stationen. Die erste Station heißt „Taubstummengasse“. Ich fragte mich, woher der Name kommt, und hatte eine neue Blog-Story…

Wien ist bekannt für Kaiserinnen und Kaiser, zum Beispiel für Kaiserin Maria Theresia und Kaiser Joseph II. (Joseph II. war das älteste Kind von Maria Theresia; sie hatte 16 Kinder.) Maria Theresia und Joseph II. sind bekannt dafür, dass sie neue Ideen hatten und Reformen umsetzten – etwa die Schulpflicht. Ab 1774 musste jedes Kind in die Schule gehen, unabhängig davon, ob seine Eltern wohlhabend oder arm waren. Doch wie man taube Kinder unterrichtet, wusste niemand. Vermutlich konnte man sich nicht mal vorstellen, dass diese Kinder wie hörende Kinder lernen können.

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Taube Menschen nannte man damals taubstumm. Nicht hören können hieß damit zugleich: nicht sprechen können und keine Sprache haben. Das war falsch, denn taube bzw. gehörlose Menschen sind nicht stumm. Sie verwenden nur keine „gesprochenen Worte“, sondern sprechen mit Gebärden, Mimik und Körperhaltung. Das Wort „taubstumm“ lehnen sie ab. Viele sagen sogar, dass Gehörlosigkeit an sich keine Behinderung ist – sie geht eben nur mit einer anderen Form der Kommunikation einher.

Kaiser und Lehrer

Damals gab es in Wien noch keine Gebärdensprache, die man in einer Schule lernen konnte. Nur in Paris gab es so eine Schule – die von Abbé de L’Epée, dem Gründer der ersten Gehörlosenschule der Welt. (Über den Abbé werde ich ein andermal schreiben.) Joseph II. ist ihm begegnet, als er in Paris war – drei Jahre nachdem er die Schulpflicht eingeführt hatte. Der Kaiser fuhr hin, um seine Schwester Marie-Antoinette zu besuchen. (Die Marie-Antoinette, die später enthauptet wurde). Dann traf er den berühmten Lehrer, bei dem die Kinder nicht nur gebärden, sondern auch lesen und schreiben lernten. Der Kaiser besuchte die Schule und er war begeistert. So was brauchte er in Wien! Er lud Abbé de L’Epée ein, dort ebenfalls eine Schule zu eröffnen.

Das Institut in der Taubstummengasse

Doch der Abbé wollte nicht, denn er war ziemlich alt. Aber er schlug vor, zwei Lehrer in seiner Schule aufzunehmen und ihnen alles zu zeigen, was sie wissen müssen, um gehörlose Kinder zu unterrichten.

Der erste der beiden war Josef May, ein Deutschlehrer, der ohnehin in Paris war. Zu ihm kam der Priester Johann Friedrich Stork. Beide blieben acht Monate. Nach ihrer Rückkehr wurde 1779 das Kaiserlich königliche Taubstummeninstitut Wien gegründet – dort, wo heute die Taubstummengasse ist.

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Das Gebäude gibt es nicht mehr. Auf alten Postkarten sieht es sehr groß aus. Aber das Taubstummeninstitut war anfangs nur eine Wohnung. Zum Unterricht kamen sechs Jungen (bzw. Buben) und sechs Mädchen. Johann Friedrich Stork war Direktor und Josef May Stellvertreter. Die Schule begann im April und im Dezember gab es eine Präsentation. Joseph II, Herzöge, Grafen und andere Gäste nahmen Platz und die Kinder mussten Prüfungsaufgaben lösen. Sie hatten offensichtlich gut gelernt. Alle sahen, dass sich das Taubstummeninstitut bewährt hat.

Unterrichten mit Methode

Die damalige Schule in der heutigen Taubstummengasse war die vierte geförderte Gehörlosenschule in Europa – nach denen in Paris, Edinburgh und Leipzig. Und es war die erste, die staatlich finanziert wurde. Später hat man in weiteren Städten des österreichisch-ungarischen Reichs Gehörlosenschulen nach dem Wiener Vorbild eröffnet, zum Beispiel in Prag und in Mailand.

Und man unterrichtete nach einer eigenen Methode, die Josef May und einer seiner Kollegen erfunden haben sollen, und die dann auch anderen Lehrern vermittelt wurde. Eigentlich gab es zwei Methoden, um gehörlose Kinder zu unterrichten. Die Methode aus Frankreich konzentrierte sich auf die Hände bzw. die Gebärden (man nannte sie die manualistische Methode). Die Methode aus Deutschland konzentrierte sich auf Sprechen mit dem Mund (oralistische Methode). In Wien mischte man beide Methoden. Zum Unterrichten wurden Schriftsprache, Zeichen und ein Fingeralphabet verwendet; Ziel war jedoch auch hier, dass sich die Kinder in Lautsprache verständigen.

Taubstummengasse auf dem Wiener Stadtplan

Viel später (1867) wurde diese gemischte Methode aufgegeben, und man ging ganz zur „deutschen Methode“ über. Für die Gehörlosen begann eine schwierige Zeit – auch davon ein andermal mehr.

Österreichische Gebärdensprache

Heute gibt es in Österreich sechs Gehörlosenschulen. Sie werden von Kindern besucht, die mit Technik hören oder die die österreichische Gebärdensprache (ÖGS) sprechen oder beides. Die ÖGS ist die Muttersprache der Gehörlosen in Österreich – also von etwa 10.000 bis 12.000 Menschen. (Menschen, die nicht gut hören können, gibt es in Österreich viel mehr – etwa eine halbe Million.)

Es stimmt nicht, dass es nur eine Gebärdensprache gibt, die überall auf der Welt gleich ist. Deshalb gibt es neben der deutschen Gebärdensprache (DGS) zum Beispiel die österreichische Gebärdensprache (ÖGS) und zudem noch regionale Unterschiede bzw. Dialekte.

Für die offizielle Anerkennung ihrer Sprache mussten die Gehörlosen lange kämpfen. Die ÖGS wurde erst 2005 verfassungsrechtlich anerkannt (also drei Jahre nach der Anerkennung der DGS in Deutschland.) Die Anerkennung bedeutet auch, dass gehörlose Menschen in ihrem Alltag mehr Anspruch auf barrierefreie Kommunikation und Teilhabe bekommen.

Taubstummengasse auf dem Wiener Stadtplan

PS 1: Die Fotos zum Beitrag über die Taubstummengasse zeigen, wo man die Taubstummengasse findet – außerdem den U-Bahnhof und die Hörgräte mit einer alten Postkarte vom Taubstummeninstitut.

PS 2: Nach ihrer Gründung gab es die Wiener Gehörlosenschule an ganz verschiedenen Standorten. Mehr erfahren kann man in einem Video-Vortrag von Klaus Patzak vom Wiener Gehörlosenarchiv. (Der Vortrag ist auf Gebärdensprache, aber zum Glück mit Untertiteln…)

PS 3: Aus dem damaligen Kaiserlich königlichen Taubstummeninstitut (das in der heutigen Taubstummengasse war) ist inzwischen das Bundesinstitut für Gehörlosenbildung (BIG) geworden. Heute ist die Schule in der Maygasse 25. Die Gasse heißt nach Josef May, der nach Johann Friedrich Stork der zweite Direktor des Taubstummeninstituts wurde. Eine Storkgasse gibt es auch.


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