„Following the Sounds as They Went“

Über eine Begegnung mit dem britischen Indie-Sänger James Page (SIVU)
Illustration zu einem Artikel über James Page (SIVU) auf die-hörgräte.de

Über die Geschichte von James Page bzw. SIVU hatte ich hier letztes Jahr schon geschrieben. Begegnet war ich James Page da noch nie. Er hatte nur ein Online-Konzert gegeben (denn es war gerade Corona), und dafür wurde mein Artikel gebraucht, den ich später noch hier im Blog aufgegriffen hatte. Dann kam vor einem Jahr die Info, dass ich James Page zum Interview treffen kann – auf der größten Hörgeräte-Messe der Welt. Die ist jedes Jahr in Nürnberg oder Hannover. Und weil ich nächste Woche wieder dort bin (in Nürnberg), fiel mir ein, dass ich das Interview mit James noch immer nicht im Blog habe…

„Durch die Älteren in der Familie hatte ich immer so eine Ahnung, wie es ist, das Gehör zu verlieren.“

Wer ist James Page? Das habe ich ihn beim Interview auch als erstes gefragt, weil er zwar in Großbritannien etwas bekannt ist, hier bei uns aber nicht. – Also hat sich James bzw. SIVU vorgestellt: „Mein Name ist James Page. Ich bin Musiker und trete unter dem Namen SIVU auf. Ich mache schon seit 10 Jahren Musik. Ich lebe mit Morbus Menière und mit eingeschränktem Gehör. Aber ich schreibe weiter Songs und trete auf, wo ich kann.“

Wenn man ein Interview schreibt (oder liest), der Interviewte jedoch Songs schreibt und singt, ist ein Text allein irgendwie unpassend und zu still; vor allem, wenn man die Songs noch nicht kennt. Deshalb setze ich hier ein paar Songs von James rein – dann kann man abwechselnd lesen und hören – zuerst über Kindheit („Childhood House“ vom Album „Sweet Sweet Silent“, 2017).

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Als Kind war James Page noch nicht schwerhörig. Erkrankt ist er, als er bereits erfolgreich auf der Bühne stand. Deshalb hatte mich interessiert, wann er überhaupt das erste Mal mit Schwerhörigkeit zu tun hatte. Er hatte einen Großvater, der Sinatra-Fan war und James als Kind prägte. War James Pages Großvater vielleicht schwerhörig?

„Er hat nie Hörgeräte getragen. Niemand von meinen Großeltern hatte welche. Dennoch war die Schwerhörigkeit da. Man hat nicht wirklich viel Kontakt mit dem Thema. Man beachtet es nicht wirklich. Doch durch die Älteren in der Familie bekommt man es irgendwie mit. Man hat so eine Ahnung, wie es ist, das Gehör zu verlieren.“

„Ich spielte die gleichen Noten, aber sie klangen anders. Das ergab für mich erst gar keinen Sinn…“

Das er selbst schlecht hört, bemerkte James Page zuerst bei einem Auftritt: „Ich hatte einen Tinnitus. Und auf der Bühne fiel mir das Hören irgendwie schwer. Das war etwa 2014, 2015. Erst sagte ich mir, dass es nur an der lauten Musik liegt. Dann wurde bei mir die Ménière-Krankheit diagnostiziert.“

Hier ein Song, den James Page damals schon gesungen hat („Better Man Than He“ vom Album „Something On High“, 2014); ein Video mit ziemlich coolen Einblicken in seinen Kopf.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

„Damals wusste ich nicht viel über Morbus Menière. Ich habe es abgetan, weitergemacht und mir gedacht: ‚Es wird schon wieder…‘ Das war diese naive Jugend in mir. Erst um 2017, als ich an meinem zweiten Album arbeitete, holte mich die Realität ein. Aus Gesprächen hatte ich mich da schon länger herausgehalten. Ich habe irgendwie erraten, was die Leute sagen. Ein paar Mal lag ich offensichtlich falsch. Sprachen die anderen, fühlte ich mich zunehmend draußen. Dann wurde es immer schwieriger, Musik zu hören. Auf einmal klang meine Gitarre ganz anders. Ich spielte die gleichen Noten, aber sie klangen anders. Das ergab für mich erst gar keinen Sinn… – Solange ich konnte, wehrte ich mich gegen den Gedanken, schwerhörig zu sein. Besser wurde es erst, als ich meine ersten Hörgeräte bekam. Dadurch veränderte sich alles. Auf einmal gab es wieder ganz viele Möglichkeiten.“

„Ich weiß noch nicht viel über Cochlea-Implantate. Aber man sagte mir, es wäre die Lösung, die mich letztlich erwartet.“

In James Pages zweiten Album „Sweet Sweet Silent“ geht es auch um seinen Hörverlust. Mich interessierte, wie er überhaupt auf die Idee gekommen ist, Songs über seine Schwerhörigkeit zu schreiben.

„Nach dem Ausbruch meiner Krankheit und noch vor diesen Songs gab es eine Zeit, in der ich ziemlich ausgebrannt war. Der Hörverlust machte sich immer mehr bemerkbar. Nachdem ich mich mit Morbus Menière beschäftigt hatte, musste ich es ernster nehmen. In Gesprächen mit den Ärzten erfuhr ich, dass meine Langzeitprognose nicht gut ist. Ich weiß noch nicht viel über Cochlea-Implantate. Aber als bei mir zum ersten Mal Morbus Menière diagnostiziert wurde, sagte man mir, es wäre die Lösung, die mich letztlich erwartet.“ („Sweet Sweet Silent“, 2017)

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

„Damals hatte ich diese negative, drohende Zukunft vor Augen, und das hat mich beim Schreiben beeinflusst. Das Bewusstsein, das Gehör zu verlieren, war im Hintergrund immer da. Ich bin mir dessen seitdem immer bewusst.“

Hattest du Bedenken oder Ängste, mit diesem Thema an die Öffentlichkeit zu gehen? – „Es zu tun, war auf jeden Fall unglaublich befreiend … Die Resonanz, die ich seitdem bekomme – insbesondere von Leuten, die selbst Hörgeräte tragen – ist einfach wunderbar.“

„Nach den Jahren der Schwerhörigkeit Musik wieder so zu hören, war eine unglaubliche Erfahrung für mich.“

Über James Hörgeräte haben wir schon deshalb gesprochen, weil ich das Interview mit ihm für einen Hörgeräte-Hersteller geführt habe. Es gibt ein Video, in dem James die Hörgeräte zum ersten Mal angepasst bekommt. Da scheint er ziemlich begeistert gewesen zu sein?

„Das war ich auch. Ich hatte online recherchiert, kam irgendwie auf den Hersteller und hab dort angefragt, ob sie Lösungen haben, die speziell für Musiker geeignet sind. Zuvor hatten ich vom NHS Hörgeräte bekommen. Doch die waren eher für Sprache, nicht für Musik. Als ich dann erlebt habe, dass es tatsächlich noch Optionen gibt, und dass man meine Einstellung speziell für Musik optimieren kann, fand ich das sehr spannend. Im Video von meiner Anpassung wird mir gerade Musik eingespielt. Nach den Jahren der Schwerhörigkeit Musik wieder so zu hören, war eine unglaubliche Erfahrung für mich.“ („Trickle“, 2018)

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Wie haben dich die Hörgeräte verändert – als Mensch und als Musiker? „Oh Gott, drastisch. Sie haben mir Selbstvertrauen gegeben. Und sie haben mir Kontrolle über meine Krankheit gegeben. Durch die verschlechtert sich mein Gehör. Aber ich kann das im Alltag kontrollieren, kann die Einstellung meiner Systeme ändern und wieder selbst bestimmen, was ich tue. Ich bin nicht mehr so abhängig von meiner Krankheit. Dieses Gefühl zu bekommen, war für mich unglaublich ermutigend. Es war die wichtigste Veränderung überhaupt. Und es gibt jetzt unendlich viele Möglichkeiten, mit der Musik weiterzumachen. Schwerhörigkeit ist eine Hürde; aber ich habe jetzt ein Mittel, um sie zu überwinden.“

„Ich lasse nicht zu, dass es mich auffrisst, und ich versuche, die Kontrolle zu behalten.“

Über sein Leben mit Morbus Menière sagt James: „Das ändert sich von Tag zu Tag. Ich muss täglich mehrmals Medikamente nehmen. Ich muss auf meine Ernährung achten – wenig Salz; und Bewegung ist wichtig. Wenn ich morgens aufwache, dröhnt mitunter der Tinnitus, manchmal bin ich auf einer Seite wie blockiert, manchmal fühle ich mich nur ein bisschen benebelt… Es kommt und geht. Die Medikamente helfen mir definitiv. Es wird weiter erforscht, was die Krankheit beeinflussen kann. Auch damit habe ich mich viel beschäftigt.“

Im Interview ging es auch noch um eine Foto-Kampagne. Die Fotos hat die amerikanische Fotografin Gala Ricote gemacht, die selbst schwerhörig ist. Sie zeigen Musiker, Künstler, Sportler, die alle Hörgeräte tragen; James Page ist auch dabei. Die Fotos sind im Auftrag des Hörgeräte-Herstellers entstanden. Doch es geht eigentlich nicht um Werbung, vielmehr um Menschen, die mit Hörgeräten leben. Zeitungen und Online-Medien können die Bilder frei nutzen. Damit Journalisten endlich aufhören, Bilder von uralten Menschen mit uralten Hörgeräten zu zeigen, wenn es um Menschen mit Hörgeräten geht.

Wir haben auch über die Hörgeräte-Messe gesprochen, auf der wir saßen. (James hatte zuvor noch nie eine Hörgeräte-Messe gesehen; und er fand sie „beeindruckend“ und „ziemlich überwältigend“.) Und ich habe ihn zu seiner Arbeit als Musiker gefragt: „Ich schreibe Songs und trete auf, wo immer ich kann. Ich habe eine neue EP herausgebracht, die ich wirklich gut finde. Als mein erstes Album 10-jähriges Jubiläum hatte, habe ein paar Gigs gespielt, um das zu promoten. Sogar auf einem Auftritt in London, was wirklich aufregend war.“ („Wild Horse Running“, 2023)

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

„Aber der Hörverlust ist natürlich immer noch da. Ich habe vor, wieder mehr aufzutreten. Ich muss mir aber auch mehr Gedanken machen – über meine Arbeit auf der Bühne und über mein Leben. Ich bin heute viel rücksichtsvoller mit mir. Mein Gefühl ist aber, dass ich einen Weg gefunden habe, mit all dem gut umzugehen. Ich lasse nicht zu, dass es mich auffrisst, und ich versuche, die Kontrolle zu behalten. Meine Situation ist heute sehr viel besser. Weil ich besser informiert bin, fachkundige Hilfe habe usw.“

PS 1: Das Aufmacherfoto zum Artikel über James Page (SIVU) ist ein eingefärbter Ausschnitt aus dem Cover von „Sweet Sweet Silent“ und das Foto am Schluss ist vom Interview.

PS 2: Der Titel des Beitrags „Following the Sounds as They Went“ (Folge den Geräuschen, während sie verschwinden) ist eine Liedzeile aus James Song „Trickle“.


Vorheriger Beitrag
„Weil das Leben als Hörgeschädigter ein tolles Leben ist.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Fill out this field
Fill out this field
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.
You need to agree with the terms to proceed

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.

Mit unserem News­letter erhalten Sie regelmäßig Artikel, Geschichten und Neuigkeiten rund um das Hören mit und ohne Technik. Informationen zu den Inhalten, der Proto­kollierung Ihrer Anmeldung, dem Versand über den US-Anbieter MailChimp, der statistischen Aus­wertung sowie Ihren Ab­bestell­­möglichkeiten, erhalten Sie in unserer » Datenschutzerklärung

Neueste Beiträge

Kategorien