Start für eine neue, 3-teilige Artikel-Serie; und in der geht es um die CI-Pionierin Hanna Hermann. – Über das Cochlea-Implantat (bzw. CI) habe ich hier schon häufiger geschrieben – etwa über die „Generation CI“, also über die erste Generation von jungen Leuten, die als Kinder (mehr oder weniger) gehörlos geboren wurden und schon sehr früh ein CI bekamen. Heute spricht man von einem Routine-Eingriff, wenn es um die Implantation so einer Innenohrprothese geht. Und es ist nach wie vor faszinierend: Man kann einen menschlichen Sinn mit Technik nachbilden. Wobei das CI kein Allheilmittel ist. Es wird nicht einfach eingeschaltet, und alle Probleme sind gelöst. Schon deshalb ist die Entscheidung für ein CI immer eine ganz individuelle Entscheidung.
Faszinierend finde ich auch, mir vorzustellen, dass sich Menschen für eine CI-Versorgung entschieden haben, als diese noch längst kein „Routine-Eingriff“ war; Hanna Hermann zum Beispiel. Heute gibt es ungefähr 50.000 CI-Träger*innen in Deutschland. (Die genaue Zahl kennt niemand). Aber Hanna Hermann war genau die Nummer vier – von den ungefähr 50.000. – Nebenbei: Ich glaube, sie war die erste CI-Trägerin (bzw. Träger), der ich begegnet bin; das ist schon ewig her. Umso mehr freue ich mich, dass sie mir ihre Geschichte erzählt hat.
Taub sein und trotzdem leben
1974 war Hanna Hermann 24 Jahre alt. Sie war verheiratet, hatte zwei kleine Töchter, hatte Buchhalterin gelernt. Und beim Ohrenarzt erfuhr sie, dass sie taub ist.
In den Medien hört oder liest man oft, dass bei so einem „Schicksalsschlag“ eine „Welt zusammenbricht“. Jemand kann nicht mehr gehen, sehen, hören, und das ist „schrecklich“… – Aber das stimmt so nicht! Auch wie man das Hören bzw. das Nicht-Hören erlebt, ist sehr individuell. Es gibt Menschen, die noch nie gehört haben und glücklich sind; andere hören ihr Leben lang und sind nicht glücklich. Es ist anmaßend, einfach davon auszugehen, dass es jemandem schlechter geht, nur weil er nichts hört. Und es macht zum Beispiel einen großen Unterschied, ob jemand noch nie gehört hat; oder ob man sein Gehör nach und nach verliert oder morgens erwacht, und plötzlich nichts mehr hören kann.
Hanna Hermann war zwar schon als Kind schwerhörig. Aber sie konnte jahrelang – wenn auch eingeschränkt – hören (telefonieren z. B. konnte sie nicht). Mit ihrer Ertaubung brach für sie keine Welt zusammen, aber gehörlos unter hörenden Menschen zu leben, war eine Herausforderung:
„Als kommunikativ trotz allem sehr aufgeschlossene und sicher auch optimistische Frau lebte ich mein Leben wie gewohnt weiter“, erzählt sie. „Ich konnte sehr gut von den Lippen absehen und außerdem gut kombinieren. Es war mir immer wichtig, gute Kontakte zu haben und zu pflegen. Mich aufgrund der Taubheit zurückzuziehen, war nie eine Option. Die Phase der zehnjährigen Taubheit war für mich trotzdem eine sehr schöne Familienzeit.“
Stumme Hausecken und ahnungslose Lehrer
1974 gab es noch keine Cochlea-Implantate. Es gab Hörgeräte; aber die hatten Hanna Hermann schon nicht mehr helfen können, als sie fünf war, und als überhaupt erstmals auffiel, dass sie schwerhörig ist.
„Lief ich um eine Hausecke und meine Mutter rief mich, dann ging ich einfach weiter. Ich hörte sie nicht mehr. Also gingen wir zum Ohrenarzt, der einen Hörverlust bestätigte. Vor allem hohe Töne konnte ich nicht hören und S-Laute hörte ich nicht. Das beeinträchtigte meine Aussprache. Ein Hörgerät, wie es sie damals gab, brachte da keinerlei Nutzen. Der Arzt empfahl meiner Mutter, mich auf die Schwerhörigen-Schule zu schicken. Aber das bedeutete, 200 Kilometer von zu Hause entfernt im Internat zu leben. Dazu konnten sich meine Eltern nicht entschließen.“
Ansonsten – so Hanna Hermann – war das Thema Schwerhörigkeit in ihrer Kindheit kaum von Interesse. Sie wuchs auf einem kleinen Dorf auf. Es gab keine Informationen. Die gab es auch sonst nirgendwo. Man konnte sich nur selbst helfen, in dem man sich in bestimmten Situationen auf eine bestimmte Art und Weise verhielt. Darum kümmerten sich anfangs noch ihre Eltern. Später, in der Schule, musste sie sich alleine kümmern:
„Meine Mutter sagte meinen Lehrern zwar, dass ich schwerhörig bin. Aber sie waren dennoch fest davon überzeugt, dass ich genauso gut hören kann wie alle anderen in der Klasse. Ich saß immer in der ersten Reihe neben meiner Freundin. Sie zeigte mir, welche Buchseite wir aufblättern sollen. Und sie ließ mich abschreiben, wenn es sein musste. Vor allem bei den Englisch-Diktaten musste es sein. Hören und Schreiben zugleich, war sowieso schon schwierig genug. Aber beim Englisch-Diktat war es hoffnungslos.“
Eine verzweifelte Audiologin und Schlaftabletten
Nach der Schule machte Hanna Hermann eine Lehre in einem wirtschafts- und steuerberatenden Beruf. Hier, sagt sie, kam sie relativ gut klar. Sie beendete die Lehre um zu heiraten und bekam erst eine und vier Jahre später die zweite Tochter: „Als meine ältere Tochter Anke ein Baby war, habe ich sie nachts noch gehört. Birte, meine zweite Tochter, hörte ich nicht mehr…“
Dann kam der Sommer 1974. Hanna Hermann ging zum Hörtest. Und sie erinnert sich noch gut daran, dass die Audiologin nach dem Test völlig verzweifelt war und sagte: „Wir haben uns doch vorhin noch unterhalten. Und jetzt stelle ich fest, dass sie taub sind.“
Nach dem Test damals hat Hanna Hermann zuerst die verzweifelte Audiologin getröstet. Dann musste sie für sich selbst begreifen: „Ich hätte nie gedacht, dass alles, was ich noch hörte, nur Einbildung war…“ – Sie hatte so gute Strategien entwickelt, um ohne Gehör zurechtzukommen… Es war ihr nicht einmal selbst aufgefallen, dass sie gar nichts mehr hörte.
Warum sie schwerhörig wurde, weiß Hanna Hermann bis heute nicht. Ihr Ohrenarzt damals war nur ratlos. Ihr Hausarzt überwies sie zum Neurologen. Der verschrieb ihr Tabletten, damit sie schlafen konnte. Sonst fiel ihm auch nichts ein.
Mitlachen und an Grenzen stoßen
Hanna Hermanns Leben ging trotzdem weiter. Und sie lebte ausschließlich unter Menschen, die hören konnten: „Wir gingen aus, obwohl das Fröhlichsein für mich sehr oft schwierig war. Dennoch wollte ich ausgehen, denn ich hatte immer Angst, dass das Leben sonst an mir vorbeigeht. So lachte ich eben, wenn die anderen lachten, wusste jedoch im ersten Moment meist nicht, warum. Die Gesichtsmuskeln taten oft weh.“
Besonders schwierig wurde es immer mit vielen Menschen, bei Feiern, beim Sport… – „Wie ich hörte und wann ich tatsächlich verstand, das war fast niemandem zu vermitteln. Es fragte auch selten jemand danach. Ich hatte das Gefühl, dass es allein mein Part ist, jede Situation zu meistern. Ich musste auf andere zugehen, musste Gesprächsthemen haben, stark und mutig sein. Wenn ich nicht verstand, konnte ich nachfragen. Aber ich war seit meiner Kindheit auf mich gestellt. – Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“
Natürlich stieß sie dabei an Grenzen. Es ist extrem anstrengend, jeden Tag so durchs Leben zu gehen. Nur ihre Töchter konnte Hanna Hermann ohne Probleme verstehen, denn sie lernten sehr deutlich zu sprechen. Und als sie ihren Schwerbehindertenausweis bekam – ohne Probleme mit 100 GdB (Grad der Behinderung) – hatte sie zumindest einmal das Gefühl, dass ihre täglichen Schwierigkeiten überhaupt als Schwierigkeiten anerkannt wurden: „Ich empfand tatsächlich eine Genugtuung.“
PS 1: Heute können Kinder, die so wenig hören wie Hanna Hermann damals, schon sehr früh ein Cochlea-Implantat bekommen, wenn die Eltern sich dafür entscheiden. Hanna Hermann selbst sagt: „Mein Leben vor dem Cochlea-Implantat dauerte 34 Jahre – ein Zeitraum, den heute niemand mehr unversorgt erleben muss…“
PS 2: Die Bilder zum Artikel über Hanna Hermann zeigen Hausecken, hinter denen vielleicht was zu hören ist – wenn man es hören kann. Der Hörgräten-Blog hat so seine eigenen Bilder. Fotos von Personen gibt es hier nicht, höchstens Mal von historischen Personen. Wer wissen will, wie Hanna Hermann aussieht, findet sie zum Beispiel hier.