Welche Erinnerungen er an den deutschen CI-Pionier Professor Ernst Lehnhardt (1924 – 2011) hat, frage ich Tobias Fischer bei unserem Interview-Treffen im Café Sacher. – „Es gibt ein Foto, auf dem er neben mir auf dem Bett in der Klinik sitzt“, erzählt mein Gesprächspartner. „Ich glaube, das Bild war damals in der ‚HÖRZU‘. Ich weiß nicht, ob er dann später noch bei mir war. 2007 habe ich ihn nach langer Zeit noch mal getroffen, beim Symposium zum 20-jährigen Bestehen der Deutschen Cochlea Implant Gesellschaft (DCIG). Da gibt es auch ein Foto von uns.“
Damals, Ende der 80er Jahre, wurde der Professor von vielen seiner Kollegen angefeindet, weil er auch Kinder mit dem Cochlea-Implantat versorgte. Und damals konnte noch niemand vorhersagen, wie sich gehörlose Kinder mit einem CI entwickeln würden.
Roter und grüner Haargummi
Tobias Fischer besuchte als 4-jähriger nach seiner Operation den gleichen Kindergarten, in den er schon vor seiner Ertaubung gegangen war. Der Sprachprozessor für das CI saß damals noch nicht hinterm Ohr oder am Hinterkopf, wie das heute normal ist. Es gab nur die sogenannten Taschenprozessoren. Tobias Fischer trug seinen in einer Tasche mit Schulterträgern auf dem Rücken, später am Gürtel. – „Mit dem Taschengerät war es immer etwas mühsam“, sagt er.
Auch in der Schule war Tobias Fischer immer mit hörenden Kindern zusammen. Das hätte eigentlich gut funktioniert, berichtet er. In die Grundschule kam einmal pro Woche ein Gehörlosenlehrer, der ihn zusätzlich unterstützte. In manchen Klassenräumen war sogar ein Teppichboden, der den störenden Schall schluckt. – „Und ich hatte immer zwei Haargummis – einen roten und einen grünen. Alle Lehrer wussten, dass ich etwas nicht verstanden hatte, wenn ich mich mit dem roten Gummi am Handgelenk meldete. Mit dem Grünen hingegen habe ich mich gemeldet, wenn ich auf eine Frage des Lehrers antworten wollte.“
Um in der Schule gut mitzukommen, musste Tobias Fischer nach dem Unterricht und in den Ferien nacharbeiten. Bei bestimmten Aufgaben im Unterricht gab es für ihn auch Erleichterungen. Der Gehörlosenlehrer kam auch noch, als Tobias Fischer schon auf die Gesamtschule ging.
„Wenn die Leute sehen, dass man da was hat…“
Für Tobias Fischer war es immer ok, auf eine Schule für normal hörende Kinder zu gehen. – „Gehörlosenschulen sind für Kinder, die nicht hören können, und ich kann ja hören. Also, warum sollte ich so eine Schule wählen?! Sicherlich gibt es auch CI-Kinder, die auf der Regelschule nicht zurechtkommen.“
Für sich selbst hätte Tobias Fischer keine andere Schule gewünscht. Obwohl er auf seiner Schule oft auch negative Erfahrungen gemacht hat: „Wenn die Leute sehen, dass man da etwas hat… Im Nachhinein denke ich, das Problem war, dass meine Mitschüler und auch ihre Eltern nichts über das CI wussten. Sonst wäre es vielleicht einfacher gewesen. Die Lehrer wussten Bescheid, aber sie haben das gegenüber den Schülern nie thematisiert.“
Nach der Schule absolvierte Tobias Fischer zuerst eine dreieinhalbjährige Berufsausbildung. – „Ab dieser Zeit hab ich beschlossen, nicht mehr jedem zu sagen, dass ich da ein Problem habe. Ich bin keiner, der immer Verständnis braucht, und hab es fortan darauf ankommen lassen.“
Um an die Ausbildung noch ein Studium anschließen zu können, muss Tobias Fischer noch einmal ein Jahr zur Schule. Er besteht das Fachabitur als Jahrgangsbester, und auch beim anschließenden Ingenieurstudium – einem dualen Studium für Mikrosystemtechnik – erwähnt er nicht, dass er ein CI trägt. – „Aber dann musste jeder ein Referat halten und der Dozent hat Themen verteilt. Da gab es das Thema ‚Cochlea-Implantat‘. Das habe ich natürlich genommen und dazu die Präsentation geschrieben.“ – Später, als er schon von Hessen nach Wien gezogen ist, wird er nebenberuflich auch noch ein Masterstudium in Innovations- und Technologiemanagement absolvieren.
„Beim zweiten CI war ich erstmal geschockt.“
In den 2000er Jahren bekommen in Deutschland immer mehr Menschen, die mit dem CI hören, auch ein zweites Implantat auf dem anderen Ohr. Tobias Fischer will das ebenfalls. Und nach einigem Hin und Her wird er tatsächlich erneut implantiert, diesmal in Frankfurt.
„Als ich das zweite CI bekam, war meine Erwartungshaltung sehr hoch, und nach der Erstanpassung war ich erstmal geschockt, weil ich eigentlich nichts hörte. Also, es kam zwar was, aber nichts, womit ich was anfangen konnte. Damals hatte ich schon meine Freundin Sonja, die in Wien saß. Wir hatten uns online kennengelernt. Später habe ich mir hier eine Arbeit gesucht und bin zu ihr gezogen. Wir haben damals über Skype Hörtraining gemacht – den alten Prozessor runter und nur mit dem neuen. Es war anstrengend und ein Lernprozess, der Monate dauerte. Irgendwann funktionierte es. Ich kann nicht mal genau sagen, wann das war.“
Mittlerweile hört Tobias Fischer vor allem mit der Seite mit dem neueren Implantat. Das liegt jedoch auch daran, dass ihm der Sprachprozessor auf dem ersten Ohr einmal ausfiel. Da wohnte er schon in Österreich, und damals war es dort noch ein Problem, einen schnellen Ersatz zu bekommen. – „Mittlerweile ist das sieben Jahre her. Aber ich habe mit dieser Seite immer noch etwas Schwierigkeiten, während ich mit der neuen Seite auch ohne das zweite CI gut klarkomme.“
Cochlea-Implantat in Deutschland und Österreich
Dann erzählt mein Gesprächspartner, dass die Standards für die CI-Versorgung in Österreich leider nicht so hoch sind wie in Deutschland: „Es gibt keine CI-Zentren und keine richtige Reha. Wer am Allgemeinen Krankenhaus in Wien (AKH) oder in Salzburg ein CI bekommt, wird zur Reha nach Bad Nauheim geschickt. Das wird sogar von den Kassen bezahlt, weil es hier nichts gibt. Und oft werden die Leute allein gelassen. Einer meiner Arbeitskollegen hat ein gehörloses Kind und war beim Beratungsgespräch im AKH. Ihm wurde nur gesagt, welchen Hersteller er nehmen soll. Für seine Fragen war keine Zeit. Auch nach der Implantation sind die Eltern oft allein. Sie bekommen ein paar Stunden Logopädie und das wars.“
Tobias Fischer hört auf seinem ersten CI-Ohr heute noch mit dem Implantat von 1988. Hin und wieder denkt er darüber schon nach: Was, wenn am Implantat irgendwann doch mal Elektroden ausfallen sollten? Dann müsste er sich auf diesem Ohr neu implantieren lassen. Und wie er dann mit einem neuen Implantat hört, kann ihm niemand vorhersagen… – Größeres Kopfzerbrechen bereitet ihm das jedoch nicht: „Eigentlich ist für mich selbstverständlich, hören zu können. Mein großer Vorteil ist ja, dass die andere Seite gut funktioniert. Mit der würde ich auf jeden Fall zurechtkommen.“
Grenzen erlebt Tobias Fischer beim Hören aber immer noch genug: „Wenn draußen der Wind pfeift. Oder in einem vollen Café; da kann man ja den Geräuschpegel nicht dämmen… Aber ich traue mir die Situationen trotzdem zu. Auch auf Rockkonzerte gehe ich gerne. Oft verstehe ich die Texte nicht, doch das ist egal. Wenn ein Lied gespielt wird und ich es gleich erkenne, freue ich mich umso mehr. Es ist super, dabei zu sein. Und ich habe meinen Spaß.“
Für Musik hat sich Tobias Fischer übrigens von früh an begeistert: „Mein Vater hat viel Musik gehört, und ich begann, seine Musik mitzuhören – vor allem Queen. Heute hören wir auf langen Autofahrten Radio und ich erkenne die Lieder; das geht sehr gut.“
Ebenso gut, wie auf seiner Arbeit, wo Tobias Fischer zum Beispiel sehr viel telefonieren muss, häufig auf Englisch. Nur mit Corona ist es aktuell schwieriger: „Früher ging man zum Meeting in den Meeting-Raum, jetzt läuft viel über Home-Office. Wir haben häufig Teams-Meetings ohne Kamera. Bei Leuten, die ich kenne, geht auch das noch, und die Kollegen wissen ja über mich Bescheid. Aber wenn es Kunden sind, die ich noch nie gesehen habe, und dann noch auf Englisch – das ist manchmal schon schwierig. Ich muss mich sehr konzentrieren. Wenn ich die Leute hingegen kenne, dann habe ich die Stimmlage und das Mundbild abgespeichert. Das war schon immer so.“
Das Klicken der kleinen Gummitasten
Die technologische Entwicklung des CI hat Tobias Fischer von Anfang an miterlebt. Inwieweit hat diese Entwicklung seine Lebensqualität verändert?
„Ein gewaltiger Sprung war der Wechsel vom Taschenprozessor zum Hinter-dem-Ohr-Gerät (HdO)“, so mein Gesprächspartner. „Und mit jedem neuen Sprachprozessor konnte ich wieder mehr hören. Oft sind das Alltagsgeräusche. Das Klicken der kleinen Gummitasten bei den Handys zum Beispiel.“
Die Möglichkeit, die CI-Prozessoren ohne Kabel mit anderer Technik zu koppeln, gibt es seit einigen Jahren – und Tobias Fischer nutzt sie ebenfalls: „Für die Meetings auf Teams nehme ich den Telefonclip. Das ist bei Online-Konferenzen sehr angenehm. Auf der Arbeit habe ich eher durch Zufall entdeckt, dass das Telefon eine Spule hat, mit der alles viel klarer klingt. Ich kann auch einfach mit Handy am Ohr telefonieren. Bei längeren Gesprächen nehme ich da ebenfalls den Clip.“
Sich ein Leben ohne seine CI vorzustellen, fällt Tobias Fischer schwer: „Ich hätte die Gebärdensprache lernen müssen; und ich weiß nicht, was sonst noch gekommen wäre. Auf jeden Fall bin ich sehr froh, dass meine Eltern damals diesen Schritt gegangen sind. Wir hatten viel Glück, dass wir 1988 zu einem HNO-Arzt kamen, der bereits das Cochlea-Implantat kannte… Vor vier Jahren war ich hier in Wien bei einem HNO-Arzt, weil ich die Verordnung für den neuen Sprachprozessor brauchte. Er sah meine CI und meinte: ‚Ach, so schaut also ein Cochlea-Implantat aus. Können Sie mir etwas darüber erzählen?‘“
PS: Die Fotos zum Beitrag über das Treffen mit Tobias Fischer zeigen den Tisch vom Café Sacher mit Hörgräte, außerdem weitere Fotos vom Joggen durch das morgendliche Wien, wo mein Interview-Partner seit Jahren lebt – und hört. Fotos von Personen gibt es auf dem Hörgräten-Blog höchstens mal, wenn es sich um historische Personen handelt. Wenn du wissen willst, wie Tobias Fischer aussieht, findest du hier ein paar Fotos von ihm.