Wie sich Schall ausbreitet, hatte ich hier schon geschrieben. Und es ging hier schon darum, welche Rolle der Raum für den Schall spielt, wenn sich Schall im Raum ausbreitet. Die Größe des Raumes wirkt sich aus, die Beschaffenheit der Wände, die Position von Schallquelle und Hörendem… Und es gibt besondere Räume, in denen der Schall erstaunliche Wege geht. Es kommt zu akustischen Phänomenen. Wie bei der Whispering Gallery, der Flüstergalerie in der St Paul‘s Cathedral in London.
Ich bin gerne in London. Kürzlich war ich wieder dort; auch bei St. Paul‘s, weil mir das eine gute Gelegenheit für diesen Artikel schien. Ich stand unter der riesigen Kuppel und machte die Fotos. Dass die Flüstergalerie an diesem Tag zu war, erfuhr ich erst später. Für den Artikel war das halb so wild. Wie phänomenal sich der Schall in der Flüstergalerie ausbreitet, hatte ich vor Jahren schon ausprobiert. Außerdem bin ich nicht schwindelfrei. Schwindelerregende Orte muss ich nicht unbedingt zweimal besuchen…
Flüstergalerie – Akustik am Abgrund
Die St.-Pauls-Kathedrale zählt zu den größten Kirchen der Welt. In ihr sitzt der Bischof der Diözese London der Church of England. Gebaut wurde die Kathedrale vor mehr als 350 Jahren, nachdem ein Großbrand fast die ganze Innenstadt und auch die alte Kathedrale zerstört hatte.
Wer St Paul’s heute besucht, betritt die Kathedrale meist durch den Westeingang und geht dann durch das Kirchenschiff bis zum Altar. Der Grundriss des Baus ist ein riesiges Kreuz. Über der Mitte des Kreuzes thront die Kuppel – mit der Flüstergalerie. Stehst du unter der Kuppel, siehst du die Galerie etwa 30 Meter über dir – ein kreisförmiger Gang mit Geländer, der am Fuß bzw. an der Basis der Kuppel entlangführt, wie ein Ring.
Bis zu diesem Ring sind es 257 Stufen. Ist die Tür zur Flüstergalerie nicht verschlossen, trittst du durch einen schmalen Zugang und bis ans eiserne Geländer der Galerie. Nun kannst du die etwa 30 Meter hinab in den Abgrund blicken…
Wie gesagt, ich war nicht unglücklich, dass die Tür diesmal zu war… Schwindel hat viel mit dem Gehör zu tun; doch das ist ein anderes Thema. Der Architekt von St Paul‘s ist Christopher Wren. Er war vermutlich schwindelfrei; denn als er schon alt und nicht mehr gut zu Fuß war (der Bau von St Paul’s dauerte 50 Jahre), ließ er sich oft in einem Korb nach oben ziehen, der eigentlich für Baumaterial bestimmt war. Er stürzte nicht ab, wurde 90 Jahre alt und ist heute in der Krypta begraben (also sozusagen im Keller der Kathedrale).
Dass die Galerie ein akustisches Phänomen wird, hatte er nicht geplant. Sie war eigentlich nur für spätere Reparaturen bestimmt. Aber die Leute sind schon damals gerne auf alles hinaufgeklettert, wenn sich eine Gelegenheit bot. Der Blick in den Abgrund wird schon für sie schwindelerregend (bzw. scary) gewesen sein, und viele mögen das. Also ließ man die Leute nach oben, bald nachdem die Kathedrale eingeweiht war, und kassierte Eintritt dafür. Kaum waren sie oben, entdeckten sie das akustische Phänomen. Das sprach sich herum. Es kamen noch mehr Leute. Man konnte noch mehr Eintritt kassieren und so weiter.
Das flüsternde Phänomen
Nun zum eigentlichen Phänomen: Wenn du auf die Flüstergalerie steigst, an der gekrümmten Kuppelwand stehst und etwas flüsterst, dann kann jemand, der sehr weit seitlich von dir bzw. auf der anderen Seite der Flüstergalerie steht, deutlich hören, was du da flüsterst. Bis zur anderen Seite des Abgrunds sind es immerhin 33 Meter bzw. knapp 52 Meter am Geländer entlang; eine ziemliche Strecke also.
Natürlich funktioniert es nur, wenn es in der Kuppel relativ ruhig ist. Es sollten nicht noch zich andere flüstern – was jedoch bei einem akustischen Phänomen, das als Touristenattraktion vermarktet wird, durchaus vorkommen kann…
Hinter jedem Phänomen steckt eine Erklärung. Nachdem das Phänomen der Flüstergalerie entdeckt worden war, suchte man sie. Naheliegend schien, dass ein Zusammenhang mit der riesigen Kuppel besteht: phänomenale Kuppel = akustisches Phänomen. Später stellte man fest, dass das nicht stimmt. Der Physiker John William Strutt (bzw. Lord Rayleigh) hat Ende des 19. Jahrhunderts eine Zeit auf der Flüstergalerie zugebracht und geflüstert bzw. experimentiert. Später bekam er den Nobelpreis. Ein Mondkrater wurde nach ihm benannt. Und er erklärte das weitreichende Flüstern.
Flüstergalerie – die Erklärung
Der Lord fand heraus, dass nicht die große Kuppel entscheidend ist, vielmehr der schmale Gang. Durch die gebogenen Wände wird der Flüsterschall zur Gegenseite geleitet. Der Schall trifft in geringem Winkel auf die gekrümmte Wand, wird von ihr reflektiert, trifft erneut auf die Wand usw. Günstig sind die kreisrunde Form der Galerie, an der der Schall weitergeleitet bzw. wiederholt reflektiert wird, sowie die glatte, in sich geneigte Kuppelwand und der Fußboden, denn die halten den Schall zusätzlich auf einer Ebene.
Trifft der Schall in einem bestimmten Winkel auf die Mauer, kann eine Schallwelle entstehen, die sich sozusagen an der Grenze zwischen Luft und Mauer fortbewegt. Solche Wellen heißen übrigens Rayleigh-Wellen – also nach dem Lord. Der war sich erst theoretisch sicher, dass es diese Wellen gibt. Dann hat er sie auf der Flüstergalerie nachgewiesen.
PS 1: Du bist demnächst in St Paul’s und willst das volle akustische Phänomen erleben? Dann achte auf folgende Punkte: Stelle dich beim Flüstern seitlich möglichst dicht an die Wand, damit dein Geflüster in einem geringen Winkel auf die Wand trifft. Flüstere nicht frontal gegen die Wand, seitlich funktioniert es viel besser. Durch die Krümmung werden die Schallwellen von der Wand reflektiert – in Richtung Wand und immer so weiter. Außerdem ist wichtig, dass du tatsächlich flüsterst. Wenn du schreist, hört man das zwar auch auf der anderen Seite des Abgrunds. Aber in Kirchen sollte man nie schreien und mit dem akustischen Phänomen hätte dein Schreien auch nichts zu tun. Die Schallwellen hingegen, die du mit Flüstern erzeugst, sind für die Weiterleitung an der gekrümmten Kuppelwand am besten geeignet.
PS 2: Räume mit akustischen Phänomenen, Flüstergalerien, Flüstergewölbe und ähnliches gibt es an vielen Orten der Welt. In der Kuppel des Capitols in Washington soll früher ein Senator immer die politischen Gegner belauscht haben; dort gibt es einen Flüsterbogen. In der Kathedrale von Agrigent in Sizilien soll man sogar das Flüstern aus einem Beichtstuhl gehört haben usw.
PS 3: Die Fotos zeigen die Kuppel der St Paul’s Cathedral mit der Flüstergalerie, einen Blick vom Eingang zur Flüstergalerie sowie einige der 257 Stufen, die hinauf zur Flüstergalerie führen.