Was soll nach „Apokalypse Now“ noch kommen, um diese Artikel-Serie über Kriegslärm zu beenden? Ich bin gerade in Zürich und kam auf die Idee, diesen Artikel im „Cabaret Voltaire“ zu schreiben. Am Abend des 5. Februar 1916 wurde genau hier, wo ich jetzt sitze, Dada geboren (oder das, was heute Dadaismus heißt). Damals herrschte in Europa seit zwei Jahren Krieg. Die Schweiz war wie immer neutral, und Zürich ein Ort für Künstler, die von überall herkamen, aus Köln, Berlin, New York, Paris, Moskau, und die keine Lust auf den Krieg hatten. Dada war für sie die einzig denkbare Antwort auf alles, was die „vernünftige“ Welt, etablierte Künstler und Politiker da draußen trieben.
„Blago bung, basso fataka. Schampa wulla wussa …“, dichtete Hugo Ball, der mit anderen Künstlern und Künstlerinnen das „Cabaret Voltaire“ gründete – eine Art Theater, das zugleich Kneipe und Club war, und nur ein halbes Jahr existierte. An jenem Abend vor 106 Jahren stand Hugo Ball in dem kleinen Saal, in dem ich jetzt sitze, auf der (inzwischen erneuerten) Bühne zwei Meter vor mir. In einem sonderbaren Kostüm intonierte er Worte, die aus keiner Sprache stammten und keinen Sinn ergaben. – Alles, was angesichts des sinnlosen Mordens auf den Schlachtfeldern Europas noch zu sagen blieb.
Dada – kindlich und international, aber nicht kriegerisch
Dada war Antikunst und Provokation, gegen falsche Moral und politischen Größenwahn. Hugo Ball gilt als Vater von Dada. Das Wort hatte er aus einem deutsch-französischen Lexikon. Dada ist Kindersprache und zugleich international. Keine andere Kunstrichtung war so sehr überall zuhause wie Dada. Und Kinder stehen ganz am Anfang, sind nicht vernünftig, sondern spontan und unverstellt. Und sie beginnen nie Kriege.
Was macht einen Kriegsfilm eigentlich zu einem Anti-Kriegsfilm? Das hab ich mich gefragt, als ich mir neben „Apokalypse Now“ noch ein paar andere Kriegsfilme angesehen bzw. angehört habe, die für ihren Kriegssound alle den Oscar für den besten Ton bekamen.
„Black Hawk Down“ – Querschläger im Kino
In „Black Hawk Down“ von 2001 geht es um die Schlacht, die amerikanische Soldaten in der Nacht vom 3. zum 4. Oktober 1993 in Mogadischu führten – und in deren Folge sich die US-Armee aus Somalia zurückzog. (Gegen wen die Soldaten in dieser Nacht kämpften, ist nicht ganz klar; im US-Verteidigungsministerium soll es dazu keinen abschließenden Bericht geben, und der Film, der auch unter Einflussnahme der Kommunikationsabteilung des Pentagon entstand, verrät es ebenfalls nicht.)
Aber in „Black Hawk Down“ hört man beeindruckenden Sound: das geschäftige Treiben auf einem Markt, das Geräusch der Black Hawks, also der Helikopter, das ein bisschen wie ein Zitat wirkt, eine Komposition aus (Pop-)Musik und Geräuschen, Schüsse und Flüche, Querschläger, die von Metall abprallen, spitzender Schutt, noch mehr Schreie und Durchsagen über Sprechfunk. Das alles klingt so plastisch, als wäre man direkt dabei.
Lange Zeit gibt es endlose Schießerei, dann plötzliche Stille und erneut Schießerei. Bei einer Stunde und acht bekommt einer der Soldaten ein Knalltrauma. Eine Zeit lang hört man nur noch atmen und Schritte. Die Soldaten haben ohnehin längst die Kontrolle verloren. Sie laufen schließlich nur noch um ihr Leben. Bis sie – unterlegt mit arabischen Gesängen – das rettende Stadion erreichen, das von griechischen Blauhelmen gesichert ist. Was der ganze Film soll, ist mir nicht ganz klar. Es scheint wichtig zu sein, dass keiner der Soldaten auf dem Schlachtfeld zurückgelassen wird. Das nennt man dann wohl „einen moralischen Sieger“.
„Dunkirk“ – Kriegssound als Traum
Aus klanglicher Perspektive deutlich interessanter finde ich „Dunkirk“ von 2017, der im Mai 1940 spielt. 400.000 alliierte Soldaten waren damals im nordfranzösischen Küstenort Dünkirchen eingeschlossen und versuchten, sich irgendwie nach England zu retten, bevor die vorrückende deutsche Wehrmacht sie erreichte.
In der Eingangsszene laufen die Soldaten durch die menschenleere Kleinstadt. Man hört ihre Schritte und Flugblätter, die auf das Pflaster herabregnen, dann ein paar sphärische Klänge. Alles scheint wie ein Traum. Zwischendurch fallen einzelne Schüsse. Dann führt der Weg ans Meer und an den Strand, an dem tausende Soldaten nur noch wegwollen. Niemanden zurückzulassen, ist hier kein Thema. Es geht darum, die eigene Haut zu retten.
Die irreale Klangwelt bleibt über weite Teile des Films bestehen. Als wäre der Kriegslärm nicht mehr als eine kurze Störung im Meeresrauschen. Plötzlich ein Bombenflugzeug wie ein überirdischer Vogel, ein paar Detonationen und schon herrscht wieder allein das Meer über die Stille.
Gerade das lässt den Sound des Films so real erscheinen und es macht die Atmosphäre, das Gefühl des Ausgeliefertseins zwischen Meer und Krieg, erlebbar. Das rettende Schiff wird von einem Torpedo getroffen. In der Finsternis hört man die Schreie der Ertrinkenden. Man sieht das stille Sterben unter Wasser. Auch die synthetischen Klänge der Musik sind wie Windrauschen oder Wellenschlagen. Metallische Geräusche tönen wie Trommeln. Musik und Geräusche mischen sich also. Am Ende tappen die geschlagenen Überlebenden durch den Schotter eines Gleisbetts. Und dann wird es doch noch sehr patriotisch und aus der Niederlage wird ein moralischer Sieg. Der Feind – also die deutschen Soldaten – bleibt in „Dunkirk“ übrigens ebenso gesichtslos wie die somalischen Krieger in „Black Hawk Down“. Das scheint in vielen Kriegsfilmen so zu sein.
„Der Soldat James Ryan“ – detailversessenes Gemetzel
Vielleicht kann man Antikriegsfilme nur dann machen, wenn die Akteure den Krieg verlieren und wenn der geschlagenen Truppe auch keine Aussicht auf einen moralischen Sieg bleibt. Den Gedanken hatte ich, als ich „Saving Private Ryan“ von 1998 sah. Der wird manchmal auch als Anti-Kriegsfilm bezeichnet, doch das ist er für mich nicht.
Zum Kriegssound: „Saving Private Ryan“ von Steven Spielberg hat neben dem Oscar für den besten Ton auch noch den für die besten Ton-Effekte (Best Achievement in Sound Mixing) gewonnen. Der Film beginnt am 6. Juni 1944 mit der Invasion der Alliierten in der Normandie. Kaum öffnen sich die stählernen Klappen der Boote, sorgt das deutsche Sperrfeuer für ein entsetzliches Gemetzel.
In der Eröffnungsszene hört man nicht nur das Feuer der Maschinengewehre. Man hört, wie die Geschosse vorbeifliegen und auf dem Strand aufschlagen. Explosionen, Schreie, Geräusche, Befehle, hastende Sanitäter, die versuchen, die Soldaten zu retten. Kamera und Ton folgen den Soldaten zum Ufer, und auch der Zuschauer folgt ihnen – mit Augen und Ohren. Mehrmals taucht die Kamera ins Wasser und der Sound dringt nun dumpf von der Oberfläche. Die Nähe des Zuschauers zum Geschehen hat wesentlich mit dem Ton zu tun, der selbst nebensächliche Details der Bewegtbilder hörbar macht, und bei dem alles technisch Machbare ausgereizt wurde.
Als eine Granate in unmittelbarer Nähe der Hauptfigur Captain John H. Miller (Tom Hanks) einschlägt, hat der ebenfalls ein Knalltrauma, das das Publikum mit durchlebt: der Schlachtenlärm tritt zurück, so als wäre man aus dem Chaos, das weiter ungebremst tobt, herausgefallen. Als befände man sich in einer Art Übergang zwischen Schlacht und gestorben sein. Später ist auch der Sound wieder da: einander anschreien und die Todesschreie, die zu den furchtbaren Wunden und dem vielen Blut gehören.
„Eine Schlacht nachempfinden“
“Ich wollte den Film nicht so drehen, dass es so aussieht, als würde eine Hollywood-Produktion an den Strand von Omaha kommen und eine wilde Extravaganz veranstalten. Ich wollte wirklich versuchen, das Aussehen und die Gerüche der Schlacht und des Kampfes nachzuempfinden”, hat Steven Spielberg über diese Szene gesagt.
Nach rund 25 Minuten ist das Schlachten erst einmal vorbei. Und die eigentliche Handlung beginnt: Miller und seine Einheit werden von oberster Stelle beauftragt, den verschollenen Private Ryan zu finden. Da dessen Mutter schon drei ihrer Söhne im Krieg verloren hat, soll ihr der verbliebene vierte unversehrt zurückgesandt werden. Es beginnt eine lange (und langatmige) Suche, eine Art Roadmovie vor dem Hintergrund des Krieges, mit „echten Kerlen“, die coole Sprüche klopfen, bedeutungsschwere Dialoge über Soldatsein und Mütter führen, zwischen Ruinen Edith Piaf vom Grammophon lauschen, sich den angekauten Kaugummi teilen und bei der Erfüllung ihres wichtigen Auftrags sterben.
Was ist das für eine Rechnung, wenn Mütter ihre Söhne verlieren dürfen, damit eine Mutter, die schon drei Söhne verloren hat, ihren vierten zurückbekommt?! Eine Art amerikanischer Mythos, so wie die Schlacht um die Festung Alamo, auf die sich der Film in der Schlussszene beruft: Ab zwei Stunden zehn nochmal 25 Minuten Gemetzel; ein aufopferungsvoller Kampf auf verlorenem Posten, bis zu Millers Tod und dem Erscheinen der panzerknackenden P51 Flugzeuge, die die Übermacht des Feindes zerschlagen; natürlich wieder mit handwerklich perfektem Kriegssound.
Jenseits der Schmerzschwelle: Dada
Musik wird in „Saving Private Ryan“ sehr sparsam eingesetzt. Mit dieser Zurückhaltung wollte Spielberg angeblich den Eindruck vermeiden, es handle sich „nur“ um einen Film. Er wollte sein Publikum dadurch noch mehr in den Film hineinziehen. Musik sollte nur in ausgewählten Szenen Gefühle erzeugen bzw. verstärken. Wenn die Kamera über die zerschlagenen Körper am Strand schwenkt, dann ertönt heroische Musik. Und die patriotisch-schwülstige Rahmenhandlung des Films lässt erahnen, welche Emotionen hier verstärkt werden sollen. Schließlich geht es um „großes Kino“, um Gut gegen Böse. Deshalb erweist es sich auch als tragischer Fehler, dass Millers Trupp dem einzigen Deutschen, der im Film eine Rolle spielt, das Leben schenkt. Denn „die Deutschen“ sind erbärmlich, zudem recht dämlich.
Klar war es gut, dass die Alliierten Hitler besiegt haben. Aber „Saving Private Ryan“ hat eine schwache Story voller Klischees. Und er glorifiziert, dass jemand für „eine große Sache“ sein Leben gibt – also etwa für eine Mutter, die schon ganz viele Söhne für die „große Sache gegeben“ hat. Ein Anti-Kriegsfilm ist das nicht. Auch dass man abreißende Glieder und quillende Gedärme sieht, macht den Film nicht zum Anti-Kriegsfilm. Der naturalistische Sound ebenso wenige. Denn es bleibt ein Film, ein in Bild und Ton kalkulierter Thrill. Andernfalls würde nicht nur Captain Miller das Knalltrauma erleiden, sondern auch der Zuschauer.
Professor Steven Grant hat an der Universität von Missouri eine Möglichkeit entwickelt, den Lärm moderner Kriege zu simulieren. Mit seinen Simulationen sollen US-Soldaten auf Kampfeinsätze vorbereitet werden. Sie hören Explosionen, Schussgeräusche automatischer Waffen, Hubschrauberanflüge knapp über dem Kopf. Die Pegel liegen bei 100 Dezibel und erreichen in der Spitze 130. Das ist die Schmerzschwelle und entspricht einem startenden Düsenjet in 50 bis 70 Metern Entfernung. Das sollte man aushalten können für eine „große Sache“. Und wem das zu laut ist, dem bleibt nur, sich der Dada Karawane von Hugo Ball anzuschließen und davonzuziehen.
PS 1: Die Fotos zum Beitrag über Dada und die Suche nach dem Soldaten Ryan sind vom Abend im „Cabaret Voltaire“. Was es dort 1916 zu erleben gab, kannst du auch in diesem kleinen Film sehen.
PS 2: Das „Cabaret Voltaire“ in der Spiegelgasse 1 in Zürich ist auch heute wieder eine Bar. Es gibt den alten, kleinen Saal für Veranstaltungen, eine große Dada-Bibliothek und einen Kellerraum mit wechselnden Kunstausstellungen. (Und es gibt Absinth; aber mit dem schreibt sich’s nicht gut.) Heute ist das „Cabaret Voltaire“ ein recht touristischer Ort – für Touristen wie mich. Aber deshalb kann das ja immer noch inspirieren. Was die Dadaisten an dieser Welt zweifeln ließ, ist immer noch da… – Danke an die Leute vom „Cabaret Voltaire“, dass ich den Abend lang ungestört bei euch hocken bleiben durfte.
PS 3: Kleine Ehrenrettung für Steven Spielberg: Sein Film „Duell“ von 1971 ist wirklich cool.