Akustische Gewalt (2)

Über Trommelfeuer, zerstörte Ohren und Überleben durch gutes Hören
Illustration zu einem Artikel über akustische Gewalt auf die-hörgerät.de

Jeder Krieg hatte seine eigene akustische Gewalt. Die Geräusche des Krieges veränderten sich mit dem Fortschritt in der Militärtechnik und der Kriegsführung. Im Ersten Weltkrieg schossen Maschinengewehre 600-mal pro Minute. Ihr Trommelfeuer und das pausenlose Schießen der Artillerie wurden zum apokalyptischen Hörerlebnis: Kein Ohr hatte so etwas je zuvor gehört

Akustische Gewalt und Trommelfeuer

Einmal im Frühjahr 2016 schossen deutsche Kanonen vor Verdun 100 Stunden Dauerfeuer. Wochen später feuerten die Briten an der Somme in sieben Tagen 1,5 Million Granaten auf deutsche Stellungen ab. Allein am 30. Juni 1916 waren es 375.000.

Das anhaltende Schießen war die Reaktion auf eine neue militärische Taktik: Verschanzen in Schützengräben. Man konnte im Graben sitzen und abwarten oder den Graben verlassen, vorwärtsstürmen und erschossen werden. Beides wollte man nicht, also schoss man aus der Deckung Richtung Gegner. Die Geschosse selbst bewirkten kaum mehr als ein paar Schäden an den Stellungen des Feindes. Aber die akustische Gewalt wirkte auf die Psyche der Soldaten im Graben gegenüber.

Ausschnitt aus dem Flügelaltar mit dem Jüngsten Gericht von Lucas Cranach d. Ä.

Diese Lärmwirkung war Teil des militärischen Kalküls. Zeitzeugen berichten, dass der Kanonendonner von Verdun noch in 200 Kilometern Entfernung gehört worden sei. Der neue Grad akustischer Gewalt war eine der „Innovationen“ dieses Krieges – ebenso wie Panzer, schwere Artillerie, U-Boote, Maschinengewehre, Flugzeuge und Giftgas.

Akustische Gewalt – Erlebnis und Wirkung

„Über uns ist die Luft erfüllt von unsichtbarem Jagen, Heulen, Pfeifen und Zischen“, schreibt Erich Maria Remarque in „Im Westen nichts Neues“. „Es sind kleine Geschosse; – dazwischen orgeln aber auch die großen Kohlenkästen, die ganz schweren Brocken, durch die Nacht und landen weit hinter uns. Sie haben einen röhrenden, heiseren, entfernten Ruf, wie Hirsche in der Brunft, und ziehen hoch über dem Geheul und Gepfeife der kleineren Geschosse ihre Bahn.“

Illustration zu einem Artikel über akustische Gewalt auf die-hörgerät.de

Im Schützengraben gegenüber wird die akustische Gewalt des Stellungskrieges ebenso erlebt: „Die Granate jault in 1.000 m Höhe über unseren Köpfen dahin“, schreibt Henri Barbusse in seinem Roman „Le Feu“ (Das Feuer). „Ihr Lärm überdeckt alles mit einer tönenden Kuppel. Sie fliegt langsamer, im Vergleich mit den anderen hat man den Eindruck eines dickeren, mächtigeren Geschosses. Sie rauscht vorüber, senkt sich nach vorn mit dem dumpfen, anschwellenden Dröhnen einer einfahrenden Untergrundbahn; dann klingt das orgelnde Pfeifen ab.“

Schutz vor akustischer Gewalt

Auf Fotos aus dem Ersten Weltkrieg sieht man Artilleristen, die ihr Gehör schützen, indem sie sich die Ohren zuhalten. Der Potsdamer Unternehmer Maximilian Negwer konnte sich damals über einen Großauftrag für sein „Ohropax“ freuen. Ab 1916 wurde jedem Sturmgepäck eine Packung beigelegt. Verpackungshinweis: „Gegen die Schallwirkung des Kanonendonners“. Die Werbung versprach: „Dankbare Liebesgabe! Kriegsteilnehmer finden sicher Nervenberuhigung durch ‚Ohropax‘-Geräuschschützer“.

Auf die Idee zum „Ohropax“ soll Negwer durch die Geschichte von Odysseus und den Sirenen gekommen sein. Auch wenn der Krieg seinem jungen Unternehmen zum Durchbruch verhalf, die Zahl der Hörschäden unter den Soldaten war groß. Sie hatten geplatzte bzw. eingerissene Trommelfelle, litten an Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen, an Infektionen im Mittelohr, an Störungen des Gleichgewichts und Hörverlust.

Illustration zu einem Artikel über akustische Gewalt auf die-hörgerät.de

Neben der unmittelbaren Schädigung des Gehörs und des Gleichgewichtssinns beförderte die akustische Gewalt Schreckhaftigkeit und Angstattacken, Schwierigkeiten bei der Konzentration, Schlafstörungen, emotionales Abstumpfen, Apathie. Heute spricht man von Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS). (Auch bei Soldaten der Bundeswehr, die bei Kriegseinsätzen waren, ist es keinesfalls selbstverständlich, dass eine PTBS als solche anerkannt wird.)

Überleben durch gutes Hören

Für das Überleben im Schützengraben des Ersten Weltkriegs war Hören wichtiger als Sehen. Man musste lernen, die Geräusche der Geschosse zu erkennen, solange man es noch konnte.

In „Im Westen nichts Neues“ schreibt Remarque von jungen, unerfahrenen Soldaten; die noch nicht einmal in der Lage sind, den Klang eines heranfliegenden Schrapnells von dem einer Granate zu unterscheiden: „Die Leute werden weggemäht, weil sie angstvoll auf das Heulen der ungefährlichen großen, weit hinten einhauenden Kohlenkästen lauschen und das pfeifende, leise Surren der flach zerspritzenden, kleinen Biester überhören.“

Ausschnitt aus dem Flügelaltar mit dem Jüngsten Gericht von Lucas Cranach d. Ä.

Erfahrene Soldaten sollen damals instinktiv auf die gefährlichen Geräusche reagiert haben. Diejenigen, die ein Instrument spielen konnten bzw. musikalische Vorbildung hatten, sollen beim Wahrnehmen von Geschossen besonders gut gewesen sein. Ernst Jünger beschreibt in seinem Tagebuch über das Richtungshören bei Schüssen: Wenn sie auf den Hörenden abgeschossen werden, klängen sie ganz anders, als wenn aus der eigenen Reihe geschossen wird. Man könne am Klang erkennen, ob eine Kugel aus großer Entfernung oder aus kurzer Distanz abgefeuert wird.

Sst bum! Krach! Bautz! Ühuhü.

Querschläger lassen sich ebenso am Klang erkennen wie schwere oder leichte Granaten, Wurfminen oder Flatterminen. In seinen Tagebüchern notiert Jünger die Geräusche des Krieges auch als Onomatopoetika; das heißt, er formt diese Geräusche zu Worten. Flatterminen machen bei ihm „Udja – Udja – klack – bums!!!“, Leuchtkugeln „Pschschschscht“ und Granathagel „sst bum! Krach! Krach! Bautz! sst! sst! sst!“. Verwundete Soldaten machen: „Üüh Ühuhü“.

Der österreichische Dichter Ernst Jandl hat 40 Jahre später ein Gedicht geschrieben, das ganz ähnlich klingt wie diese Klangworte von Ernst Jünger. Das Gedicht heißt „schtzgrmm“ – also wie Schützengraben, nur ohne Vokale. Und es geht: „schtzgrmm schtzgrmm t-t-t-t t-t-t-t grrrmmmm“ usw.

Ausschnitt aus dem Flügelaltar mit dem Jüngsten Gericht von Lucas Cranach d. Ä.

PS 1: Die Fotos zum zweiten Teil unserer Artikel-Serie über akustische Gewalt zeigen Ausschnitte aus dem Flügelaltar mit dem Jüngsten Gericht, das Lucas Cranach d. Ä. um 1524 gemalt hat (eine Kopie von Cranach nach dem Triptychon von Hieronymus Bosch).

PS 2: Als Quellen zu den Geräuschen des Krieges habe ich genutzt: Gerhard Paul „Trommelfeuer aufs Trommelfell. Der erste Weltkrieg als akustischer Ausnahmezustand“, bpb.de 2016; Bernd Ullrich „Der Krieg – ein rücksichtsloses Geräusch. Der Lärm des Zweiten Weltkrieges“, in „Sound der Zeit: Geräusche, Töne, Stimmen, 1889 bis heute“, Wallenstein Verlag 2014; R. Murray Schafer „Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens“, Schott Verlag 2010.


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