Neugeborenenhörscreening ist ein langes Wort, eine wichtige Sache und viertes Thema unserer Blog-Serie über das Aufwachsen mit eingeschränktem Gehör.
Von Geburt an schwerhörig?
Wenn ich Erwachsene interviewe, die mit eingeschränktem Gehör leben, dann frage ich sie zuerst immer nach ihrem Hör-Weg. Das ist sozusagen der Entwicklungsweg, den das eigene Gehör bzw. die eigene Hörfähigkeit hinter sich hat. Dieser Weg beginnt in der Regel damit, dass man nicht hört. Oft sagen die Interviewten dann, dass sie schon seit der Geburt schlecht hören. Zumindest vermuten sie das, denn genau wissen das die wenigsten.
Babys teilen eben nicht mit, dass sie schlecht hören. Und für Erwachsene ist es offensichtlich auch nicht so einfach, herauszufinden, dass ein Baby schlecht hört – auch für Ärzt*innen nicht. Manche Interview-Partner erzählen dann, dass ihre Schwerhörigkeit erst mit drei, vier Jahren aufgefallen ist – weil sie dann immer noch keine oder nur sehr wenig Lautsprache sprechen konnten. Vorher hatten die Ärzte den Eltern immer gesagt, dass sich ihr Kind eben nur ein bisschen langsamer entwickelt und erst später spricht.
Hinzu kommt, dass die Tests, mit denen das Gehör sehr kleiner Kinder bei Kinderärzten überprüft wurde (und wird), nicht zuverlässig sind. Man nimmt eine Rassel oder Klapper und sieht, ob das Kind auf das Geräusch reagiert. – Aber ob es reagiert bzw. nicht reagiert, weil es hört bzw. nicht hört, ist nie sicher.
Verlorene Zeit
Das Problem dieser erst unzuverlässigen und dann sehr späten Diagnosen ist die verlorene Zeit. Die Kinder, deren Schwerhörigkeit nicht erkannt wird, leben die ersten Jahre ihres Lebens mit einem eingeschränkten Gehör und bekommen dadurch viel weniger mit von der Welt als andere. Äußerlich erscheinen sie vielleicht als besonders ruhige Kinder. Mir hat aber auch mal jemand erzählt, er sei als kleines Kind extrem genervt und aggressiv gewesen – bis man feststellte, dass er schwerhörig ist.
Das Problem ist vor allem, dass diese Kinder kaum Sprache lernen, und dass sie deshalb weitere Dinge nicht richtig lernen – etwa die Verständigung mit anderen. Sie verpassen wichtige Monate und Jahre, in denen Menschen vermutlich mehr lernen als irgendwann später im Leben. Das Verpassen geht solange, bis das Problem erkannt und die Schwerhörigkeit versorgt wird. Dieses Versorgen kann verschieden aussehen: Das Kind bekommt Hörgeräte oder auch Hörimplantate, kann damit Lautsprache hören und Sprechen lernen. Oder ein Kind lernt Gebärdensprache. Oder es nutzt Hörtechnik, lernt Laut- und zugleich noch Gebärdensprache.
Was die beste Lösung ist, hängt von vielen Faktoren ab. Und oft verändert diese Lösung schlagartig sehr viel. Die Erwachsenen in den Interviews, die erst mit zwei, drei Jahren die erste Hörtechnik bekommen haben, berichten mir z. B., dass sie plötzlich ganz anders erlebt wurden, wie ausgewechselt. Weil sprechen und kommunizieren können ihr ganzes Wesen verändert hat und weil sie die Sprache mit einem Mal aufsaugen konnten wie ein Schwamm.
Was ist Neugeborenenhörscreening?
Dennoch ist es besser, wenn die Schwerhörigkeit bei einem Baby so früh wie möglich erkannt und dann auch behandelt wird. Auch mit ein paar Monaten kann man schon Hörgeräte tragen oder Hörimplantate bekommen oder Gebärden lernen oder mehrere Dinge gleichzeitig. Und genau hier soll das Neugeborenenhörscreening bzw. das NGHS helfen.
NGHS funktioniert so: Jedes Kind soll gleich nach der Geburt untersucht und ggf. Anzeichen für eine Schwerhörigkeit festgestellt werden. Gibt es solche Anzeichen, dann wird sichergestellt, dass das Kind bald weiter untersucht wird. Damit man entweder feststellt, dass die Anzeichen gar keine sind, oder dass das Kind tatsächlich schwerhörig ist. Letzteres ist ungefähr bei zwei bis drei von 1.000 Kindern der Fall.
Dann müssen Kind und Eltern natürlich weiter unterstützt werden. In den allermeisten Fällen (ungefähr 98 von 100) kann ein schwerhöriges Kind noch etwas hören. Dann bekommt es zuerst einmal Hörgeräte.
In Deutschland gibt es das Neugeborenenhörscreening seit 2009 bundesweit. Dass es das NGHS für alle geben müsste, wurde vorher Jahrzehnte lang diskutiert und eingeführt hat man es zuerst in einigen Regionen, zuerst in Hessen. Seit 2009 müsste also jedes schwerhörig geborene Kind schon in den ersten Monaten diagnostiziert werden. Soweit ich weiß, funktioniert das NGHS vielerorts auch sehr gut, aber noch nicht überall.
Wie funktioniert Neugeborenenhörscreening?
Sehr zuverlässig. In Hessen, wo man das NGHS zuerst eingeführt hat, hatte man das frühzeitig untersucht. Vor Verwendung des Neugeborenenhörscreenings war ein Kind dort durchschnittlich älter als drei Jahre, ehe seine Schwerhörigkeit erkannt wurde. Mit dem NGHS war es im Schnitt drei Monate alt, wenn die Schwerhörigkeit erkannt wurde.
Um eine Schwerhörigkeit bei so kleinen Kindern sicher feststellen zu können, braucht man besondere Verfahren. Die Messungen müssen objektiv sein, das heißt, sie dürfen nicht davon abhängen, wie ein Kind subjektiv reagiert (auf ein Klappergeräusch oder so etwas). Dafür sind zwei Messverfahren üblich:
Zum einen nutzt man OAE (Otoakustische Emissionen). Hier wird ein sehr leiser Ton in das Ohr gesendet. Ist das Innenohr bzw. die Hörschnecke in Ordnung, dann kommt ein anderer Ton als Antwort zurück. Ist der Antwortton da, ist alles ok.
Die zweite Möglichkeit ist die BERA (Brainstem Evoked Response Audiometry). Hier hört das Kind ein leises Klicken, das aus einer Sonde oder aus einem Lautsprecher kommt. Auf dieses Klicken reagiert der Hörnerv – wenn alles in Ordnung ist. Die Antwort des Nervs wird über eine Elektrode abgeleitet, die auf der Kopfhaut sitzt. Dann wird diese Antwort ausgewertet.
Beide Methoden sind sehr zuverlässig. OAE geht schnell, BERA dauert länger und ist dafür noch zuverlässiger. Perfekt sind die Methoden aber auch nicht – wenn nämlich (auch noch) ein Problem mit dem Mittelohr vorliegt. Dann muss weiter untersucht werden. Und in jedem Fall müssen beide Ohren untersucht werden, was in Deutschland auch so vorgeschrieben ist. Denn mit dem zweiten Ohr hört man klar besser. Aber das ist ein anderes Thema.
PS: Die Fotos zum Beitrag über das Neugeborenenhörscreening zeigen keine OAE und keine BERA, sondern hörbares Spielzeug, das ziemlich nerven kann – wenn man es hört.