KI-Hören überall?

Über das Hören mit Künstlicher Intelligenz (Teil 4)
Alte Deko-Holzköpfe vom Wiener Naschmarkt

Im dritten Teil der Artikel-Serie ging es um die Nutzbarkeit von KI-Hören in Medizin und Gesundheit. Dass Maschinen das Hören erlernen können, nutzt man aber auch noch in ganz anderen Bereichen, wie ich bei meinem Besuch bei audEERING erfuhr – etwa im Call-Center.

Ein Anrufer wählt die Nummer einer Hotline. Er hat ein Problem und ist verärgert. Nun muss der Mitarbeiter der Hotline mit diesem Ärger umgehen, und dabei hilft ihm das KI-Hören von audEERING. Die misst nämlich während des Gesprächs die Emotionen des Anrufers – indem sie fortlaufend seine Stimme analysiert. Gemessen wird auch, wie sich der Ärger des Anrufers verändert.

„Das kann im Nachgang zu Trainingszwecken dienen“, so audEERING-Geschäftsführerin Dagmar Schuller. „Die Werte stehen aber auch schon während des Gesprächs in Echtzeit zur Verfügung. Der Call Center Mitarbeiter sieht das als Kurve vor sich auf dem Bildschirm, und er kann dieses unmittelbare Feedback für seine Gesprächsführung nutzen.“ – Das heißt, geht die Ärger-Kurve beim Gespräch weiter nach oben, dann führt der Mitarbeiter das Gespräch eher nicht so gut…

Marktforschung und Autos

Wichtige Rückschlüsse liefert das KI-Hören von Emotionen auch in der Marktforschung: „Hier lässt sich z. B. anhand bestimmter Parameter messen, wie gut ein Proband eine Marke oder ein Produkt findet. Traditionell nutzt man hier Befragungen Face-to-Face. Doch es kann vorkommen, dass ein Proband etwas anderes sagt, als er tatsächlich meint. ‚Eigentlich ganz gut‘ ist vielleicht nur eine höfliche Umschreibung von ‚nicht gut‘.“ – Die KI von audEERING ist nicht auf Höflichkeit trainiert, sondern auf Emotionen, die sich unter dieser Höflichkeit verstecken.

Ebenso genutzt wird das KI-Hören im Automobilbereich. Über Autogeräusche hatten wir hier schon geschrieben und auch die KI von audEERING analysiert Motorengeräusche oder andere Geräusche in einem Auto. – „Gegenstand ist aber auch, was im Auto gesprochen wird“, so Dagmar Schuller. „Das ist ein bisschen wie bei K.I.T.T., dem Auto in der TV-Serie ‚Knight Rider‘. Hier versteht das intelligente Auto seinen Besitzer, den Serien-Helden Michael Knight, perfekt. Es merkt, wenn er müde oder verärgert ist. Es gibt ihm Tipps. Es sagt zum Beispiel: ‚Du bist sehr müde.‘ Und bietet an, den Autopiloten zu starten. Heutige Sprachsysteme in Autos können das noch nicht. Doch unser System kann Müdigkeit oder auch Trunkenheit an der Stimme erkennen. Es kann Warnhinweise geben oder auch für Komfort sorgen.“

Kopfhörer und Politiker

Auch in einem Kopfhörer wird das KI-Hören bereits genutzt. Hier geht es um aktive Störschall-Unterdrückung (oder englisch Active Noise Cancellation bzw. ANC). – Eine Funktion, die ursprünglich aus Hörgeräten kommt und inzwischen auch für Kopfhörer genutzt wird. Durch die KI erkennt der Kopfhörer akustische Szenen und passt sich an diese an. – „Wechselt man etwa von einem lauten Bahnsteig in ein leises Zugabteil, dann stellt er sich nicht nur automatisch ein, sondern auch individuell, so wie man es gerne hätte.“

Illustration zum Artikel über das KI-Hören überall

Die Analyse der akustischen Szenen läuft derzeit über eine App im Smartphone. – „Aber das ist nur ein erster Schritt. Es soll weitere Produkte mit unserer Technologie geben. Es geht um optimale Hörerlebnisse für unterschiedlichste Situationen, um das Anpassen an Situationen, um Signale, die herausgefiltert oder durchgelassen und optimal wahrgenommen werden. – Nicht einfach nur Noise Cancelling. Je nach Situation wird nur ein bestimmter Teil herausgefiltert oder verstärkt.“

Eingesetzt wurde das KI-Hören auch schon, um das Sprechen von Politikern zu analysieren – etwa bei den US-Präsidentschaftswahl 2016, den Donald Trump überraschend gewann. – „Bei Trump war erstaunlich, dass er in unserer Analyse eine sehr hohe ‚agreeableness‘ erzielte. Die unterbewusste Wirkung, die die Art seines Sprechens auf die Leute hat, war überraschend positiv. Es kann ein Grund sein, warum er die Wahl gewonnen hat.“

Datensicherheit und Grenzen

Ein weiterer Grund war wohl der Missbrauch von Millionen von Nutzerdaten, die die Datenanalyse-Firma Cambridge Analytica über Facebook bezog. – Wie sieht es eigentlich mit der Datensicherheit bim KI-Hören aus?

Wir sind ein deutsches Unternehmen“, erklärt Dagmar Schuller. „Das ist schon anders als bei einem amerikanischen Unternehmen, für das Datensicherheit vielleicht erstmal nicht die Rolle spielt wie hier in Deutschland. Wir ermöglichen z. B. auch, unsere Technik embedded auf einem Gerät zu installieren, ohne dass die Daten in eine Cloud wandern, aus der sie abgegriffen werden könnten. So erhält der Nutzer die Daten bei sich auf seinem Endgerät. Der Nutzer muss auch entscheiden können, ob er seine Daten für seinen Arzt freigeben möchte oder nicht. Er kann die Depressionsdiagnostik auch nur als eine Art Selfmonitoring nutzen. Das ist die Frage nach dem Umgang mit einer solchen Technologie; vor der steht die Gesellschaft als Ganzes.“

Alte Deko-Holzköpfe vom Wiener Naschmarkt

Gibt es für audEERING Grenzen der Nutzbarkeit von KI-Hören? – „Da positionieren wir uns ganz klar“, so Dagmar Schuller. „Für Anwendungen im militärischen Bereich stehen wir nicht zur Verfügung. Und wir möchten, dass diejenigen Firmen, die unsere Technologie einsetzen, auch transparent gegenüber ihren Kunden kommunizieren, dass sie sie einsetzen.“

KI-Hören auf dem Mittelweg

Andererseits ist Dagmar Schuller eine optimistische Sicht auf KI sehr wichtig: „Hier in Deutschland tendieren wir immer dazu, solche Entwicklungen sehr negativ zu sehen. In den USA ist es genau umgekehrt. Und in China redet niemand darüber, da wird es einfach gemacht. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Problematik, und hier in Deutschland stehen wir uns manchmal ein bisschen selbst im Weg.“

Meine Gesprächspartnerin empfiehlt deshalb einen transparenten und ausgewogenen Mittelweg: „Man kann mit der Technologie unglaublich viel erreichen. Und man muss sich kritisch auseinandersetzen. Man muss abwägen: Was kann ich kriegen und was muss ich dafür geben? Und man muss entscheiden können: Ist es mir das wert oder nicht. Ein Mensch, der chronisch unter Depressionsschüben leidet, wird es sicherlich begrüßen, wenn er eine bessere Therapie mit weniger Medikamenten und weniger Nebenwirkungen bekommen kann. Ob ein gesunder Mensch seine Daten liefert, um am Ende auf zehn Kilometer fünf Minuten schneller zu laufen, ist eine andere Entscheidung. Es hilft nicht, ständig nur zu schimpfen. Und es ist auch nicht gut zu verdrängen, wer ständig Daten von mir einsammelt – wenn ich z. B. auf Facebook like oder Alexa mithört. Es braucht mehr Verständnis für diese Technologien – für ihre negativen und für ihre positiven Seiten. Und die Unternehmen müssen transparent arbeiten. Der Nutzer muss sich entscheiden können. Und es muss ihm klar werden, welche Vorteile ihm im konkreten Fall versagt bleiben, wenn er sich gegen eine Nutzung entscheidet.“

Illustration zum Artikel über das KI-Hören überall

PS 1: Die Abbildungen zum vierten Teil unserer Artikel-Serie über das KI-Hören zeigen zwei alte Deko-Holzköpfe, die ich mal in Wien auf dem Naschmarkt fotografiert habe.

PS 2: In diesem Blog werden keine aktuellen Produkte bestimmter Unternehmen vorgestellt; der Blog erhält keinerlei Geld oder andere geldwerte Unterstützung. Dass hier mit audEERING ein Unternehmen erwähnt wird, geschieht nur ausnahmsweise und nur, weil es um grundsätzlich neue Entwicklungen geht – also nicht um Werbung.


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